Gießen (mö). Im Fall der unrechtmäßigen Verhaftung und viertägigen Ingewahrsamnahme des Saasener Politaktivisten Jörg Bergstedt im Mai 2006 in Gießen gibt es neue Erkenntnisse.
Wie der Hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) jetzt auf Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Nancy Faeser mitteilt, wusste am Morgen nach der Festnahme Bergstedts neben dem damaligen Leiter der Abteilung Einsatz auch Polizeipräsident Manfred Schweizer, dass Bergstedt die ihm zur Last gelegten Taten gar nicht begangen haben konnte, weil er in der vorherigen Nacht von einer Spezialeinheit der Polizei observiert worden war. Der Umstand, dass Bergstedt damit ein wasserdichtes Alibi hatte, hielt die Polizei nicht davon ab, den Gründer der Saasener Projektwerkstatt für vier Tage in einen sogenannten Unterbindungsgewahrsam zu nehmen. Über die Inhaftierung war der Polizeipräsident laut Rhein informiert worden.
Rückblende: Bergstedt war in der Nacht des 14. Mai 2006 festgenommen
worden, als er sich radelnd auf dem Heimweg von Gießen nach Saasen
befand. Die Polizei machte ihn verantwortlich für Schmierereien an
einem Wohnhaus und eine Sachbeschädigung der CDU-Kreisgeschäftsstelle
im Spenerweg. Und weil man ihm unterstellte, er werde weitere
Straftaten begehen, blieb er vier Tage im Vorbeugegewahrsam. Später kam
heraus: Bergstedt konnte es nicht gewesen sein, denn der selbsternannte
Berufsrevolutionär spielte zeitgleich mit einem Gesinnungsgenossen
Federball vor dem Landgericht an der Ostanlage und radelte im Anschluss
Richtung Saasen davon. Lückenlos dokumentiert wurden seine Schritte in
dieser Nacht, weil ein Mobiles Einsatzkommando der Polizei, das sich
ansonsten eher um Schwerverbrecher wie Geiselnehmer kümmert, Bergstedt
und Co. observierte.
Gegen seine Ingewahrsamnahme, die das Gießener Landgericht wenige Tage
später bestätigte, legte Bergstedt beim Oberlandesgericht Frankfurt
Beschwerde ein - und hatte Erfolg. Der Beschluss des OLG, die
Inhaftierung für rechtswidrig zu erklären, sorgte im Juni 2007 für
Aufsehen, weil das OLG - unter Bezugnahme auf die Praxis im Dritten
Reich - vor einer missbräuchlichen Anwendung des im hessischen
Polizeigesetz verankerten Unterbindungsgewahrsams in Richtung einer
Schutzhaft warnte.
Dass Bergstedt die ihm zur Last gelegten Taten gar nicht begangen haben
konnte, weil er zeitgleich observiert worden war, wurde freilich erst
im besagten Verfahren vor dem Oberlandesgericht bekannt, da weder dem
Amtsgericht und danach dem Landgericht ein entsprechender Vermerk der
Polizei vorgelegt worden war.
Auf die Frage Faesers, warum der Vermerk erst im Verfahren vor dem OLG
auftauchte, antwortet Rhein nun: »Nach derzeitiger vorläufiger
Bewertung beruhte die verspätete Vorlage des Observationsvermerks auf
ablauforganisatorischen Mängeln. Eine endgültige Beantwortung dieser
Frage ist allerdings erst nach Einsichtnahme in die Akten möglich.«
Folgen wird der unrechtsmäßige Freiheitsentzug für die an dem
Einsatz beteiligten Polizisten wohl nicht haben. Innenminister Rhein
weiter: »Da den beteiligten Beamten des Polizeipräsidiums Mittelhessen
nach derzeitigem Stand kein Vorwurf gemacht werden konnte, gab es
keinen Anlass zu personellen Konsequenzen.«
Die strafrechtliche Würdigung des Falls ist laut Rhein aber noch nicht
endgültig abgeschlossen, da die Staatsanwaltschaft Wiesbaden noch
Beschwerden Bergstedts gegen die Einstellung von Ermittlungsverfahren
prüft. Die Anklagebehörde in der Landeshauptstadt hatte fast 30
Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung gegen die eingesetzten
Polizisten und den Haftrichter des Gießener Amtsgerichts verworfen, die
Bergstedt selbst gestellt hatte.