Verfahren gegen Gleisbesetzer gehen weiter / Hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts Auswirkungen auf die Verfahren?
Noch immer laufen am Amtsgericht Strafverfahren gegen die Gleisbesetzer, die am 9. Juni vergangenen Jahres im Hauptbahnhof den Zugverkehr zeitweise lahmgelegt haben, auch in dieser Woche. Die Deutsche Bahn AG, die Fahrgastentschädigungen zahlen und für den Ersatzverkehr aufkommen musste, will in jedem Fall bei den Besetzern Forderungen geltend machen, sobald die Verhandlungen abgeschlossen sind, wie ein Bahnsprecher bestätigt.
"Die Stimmung war gut", beschreibt der 20-jährige PH-Student in Saal VII des Amtsgerichts die Situation an Bahnsteig 1 des Hauptbahnhofs an jenem Nachmittag. 200 Teilnehmer einer Bildungsdemonstration, mehrheitlich Studenten und Schüler, hatten eineinhalb Stunden Gleis 1 blockiert. Viele seiner Bekannten seien schon auf den Gleisen gewesen, und so habe er sich eben dazugehockt, erzählt der damalige Gymnasiast, der die Bildungsdemo zwischenzeitlich extra unterbrach, um in der Schule am Nachmittagsunterricht teilzunehmen. Hinter den Zielen des Bildungsstreiks stehe er nach wie vor, nur nicht mehr hinter der Protestform, sagt er Richter Uwe Nowak. Der gibt zu bedenken, dass es im Zug immer Menschen gebe, für die Zeit eine Rolle spiele, und nennt als – fiktives – Beispiel eine Frau, die zu ihrem sterbenskranken Mann wolle. Die Bahn sei aber doch ohnehin oft zu spät, entgegnet der Student.
Die Bilanz der Gleisbesetzung: 44 verspätete und umgeleitete und zwei komplett ausgefallene Züge, insgesamt 637 Minuten Verspätung. Die Polizei ermittelte, die Staatsanwaltschaft eröffnete gegen 20 Jugendliche (unter 18) und Heranwachsende (18-21) Strafverfahren, von denen ein Großteil mittlerweile abgeschlossen ist, wie Staatsanwalt Florian Rink bestätigt. Zu einem Freispruch kam es bislang nicht, die Verfahren wurden gegen eine Auflage von 20 Stunden sozialer Arbeit eingestellt, so auch das des 20-jährigen PH-Studenten in dieser Woche. 50 erwachsenen Gleisbesetzern wirft die Staatsanwaltschaft Nötigung vor – im Raum stehen Geldstrafen –, weiteren 20 Delikte wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Außerdem bearbeitet die zentrale Bußgeldstelle der Bundespolizei all diejenigen Fälle, bei denen die Staatsanwaltschaft den Straftatbestand der Nötigung nicht als erwiesen sah und deshalb das Verfahren eingestellt hat.
Dabei handelt es sich um 62 Ordnungswidrigkeiten wegen Verstößen gegen
die Eisenbahnbau- und Betriebsordnung, dies betrifft Demonstranten, die
sich nicht direkt auf dem Gleis, sondern nur im Gleisbereich, etwa an
der Bahnsteigkante, aufgehalten hatten. Die Bußgeldstelle hat
mittlerweile einige dieser Verfahren eingestellt, zum Teil laufen aber
auch noch Anhörungsverfahren, bestätigt Steffen Zaiser, Sprecher der
Bundespolizei Baden-Württemberg.
In einer Presseerklärung hat die Studierendenvertretung Usta der PH nun
kritisiert, dass gegen Demonstranten Bußgelder in Höhe von jeweils 73,50
Euro wegen "unbefugten Betretens von Bahnanlagen und Fahrzeugen"
verhängt wurden. Sie fordert, die Bescheide zurückzuziehen. Ihr
Argument: Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar –
verhandelt wurde der Fall einer protestierenden Abschiebungsgegnerin –
erlaubt im Sinne der Versammlungs- und Meinungsfreiheit Demos und
Kundgebungen auf Flughäfen und Bahnhöfen, solange sie in allen
zugänglichen Bereichen ("öffentlichen Foren") stattfinden und keine
Gefahr für den Betrieb darstellen.
"Durch das Urteil ist die Deutsche Bahn AG gezwungen, Versammlungen und
freie Meinungsäußerungen auf ihrem öffentlich zugänglichen Gelände zu
tolerieren", findet Usta-Mitglied Sven Fred: "Wir sehen unsere Aktion
als legitim und legal an." Allen Betroffenen rät der Usta, Einspruch
gegen die Bußgeldbescheide einzulegen. Sven Fred fordert zudem
Straffreiheit für alle Demonstranten.
Staatsanwalt Rink glaubt nicht, dass das höchstrichterliche Urteil
Auswirkungen auf sein Vorgehen hat. Zum einen hätten die Demonstranten
mit der Blockade den Bahnbetrieb gefährdet, weil sie sich auf einer
Verkehrsfläche aufhielten. Zum anderen sei es im Fall vor dem
Bundesverfassungsgericht anders als bei der Gleisblockade um
Hausfriedensbruch gegangen, der Flughafen hatte der Aktivistin
Hausverbot erteilt. Bundespolizeisprecher Zaiser kündigte an, dass die
Bußgeldstelle das Urteil der Verfassungsrichter berücksichtigen werde.
Wer sich nicht direkt auf oder bei den Gleisen aufgehalten hat, muss
wohl kein Bußgeld bezahlen. Zaiser sagt aber auch: "Die Gefahr, welche
durch den Aufenthalt im Gleisbereich ausgelöst wird, unterschätzen die
Personen meist. Sie setzen nicht nur sich selbst einer erheblichen
Gefahr durch herannahende und durchfahrende Züge aus. Sie gefährden
dabei auch die Insassen der betroffenen Züge, da diese oft zu einer
Schnellbremsung gezwungen werden."
Auswirkungen hatte die Gerichtsentscheidung auf eine Demonstration mit
25 Studenten, die in der vergangenen Woche gegen die Verfahren partout
auf dem Hauptbahnhof demonstrieren wollten: Die mehr als 100 Polizisten
erlaubten dem kleinen Protestmarsch, auf Bahnsteig 1 zu ziehen, nicht
aber ins Bahnhofsgebäude, da dieses anders als der Frankfurter Flughafen
vollständig in Privatbesitz ist. Eigentümer ist die Bahnhofszeile
Freiburg GmbH in München, die es den Protestierenden untersagt hatte,
das Bahnhofsgebäude zu betreten.