Reformistische Utopien

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Deutsche Übersetzung eines Texts von lereveil.ch

Es ist Krise. Alle wissen es. Die Bewegungen schreien es heraus, um die unmittelbare Revolution auszurufen, die, in jedem Falle, schon bald Tatsache sein wird, die Gewerkschaften benutzen sie als Druckmittel für ihren Anspruch auf Lohnerhöhungen, die Regierungen benutzen sie als Universalargument, dank welchem sie Sparprogramme durchpeitschen mit der heuchlerischen Rhetorik, dass „man den Gürtel enger schnallen müsse“ und schliesslich profitieren die Bosse, indem sie Milliarden von den Bürgern in Form staatlicher Subventionen bekommen.

 

In diesem Fluss von Reden, Analysen, Unkenrufen, Prognosen, Hoffnungen und Ängsten fehlt jedoch etwas. Was der öffentlichen Debatte entgeht, eigentlich schon immer entging, ist der strukturelle Charakter dieser Krise. Die Tatsache, dass sich in der (Nicht-)Regulierung des (neuen?) Finanzmarktes, der die Weltwirtschaft regierte und immer noch regiert, nichts geändert hat, ist dafür der beste Beweis. Schnell war sie vergessen, die Rhetorik Obamas eines Gesundheitssystems, das zu weit gegangen war, und man macht fröhlich weiter Kohle: im Jahr 2010 ist die Zahl der Milliardäre von 793 auf 1011 angestiegen und ihr gesamtes Vermögen beläuft sich auf 3600 Milliarden Dollar, fünfzig Prozent mehr als das Jahr zuvor.

 

Inmitten des Protests wurde die Frage der Krise immer mehr oder weniger als konjunkturelle und nebensächliche betrachtet, man war zuversichtlich oder pessimistisch im allgemeinen Rahmen. Die leeren Umzüge gegen die Sparprogramme, die Prekarität oder die Produktionsverlagerung sind alle zum Scheitern verurteilt – sowohl als Praxis des Kampfes, als auch als Rahmen politischer Überlegungen – denn sie rechnen nicht mit der obersten Gottheit unserer totalitären zeitgenössischen Gesellschaft ab: der Kapitalakkumulation. Unsichtbares und tautologisches Konzept, denn die offensichtliche Funktion von Geld ist, mehr Geld zu kreieren, eine Endlosschleife.

 

Genau wie es David Harvey glänzend hervorgehoben hat, dass der Kapitalismus nämlich seine strukturellen Probleme nie gelöst, sondern sie schlichtweg „am Laufen erhalten“ hat. Sogar die borniertesten unter den Liberalen konnten während dieser Krise nicht bestreiten, das vernachlässigt zu haben, was sie als „Systemrisiken“ qualifizieren. Anders ausgedrückt, in einer etwas weniger heuchlerischen Formulierung, hatte man die „inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation“ vergessen.

 

Marx sagte, dass das, was das Kapital vom einfachen Warenaustausch unterscheide, die Tatsache sei, dass es sich durch Zirkulation selbst erhalte. Oder, ganz einfach: es kann keine Grenzen tolerieren.

 

Gestern wurde, um die Nachfrage (und damit die Produktion) hoch zu halten, der Kredit aufgeblasen, durch Bankkarten oder Subprimeanleihen, wodurch ein enormer Schuldenberg entstand, der plötzlich explodiert ist. Morgen wird vielleicht die Green Economy dran sein, den Markt wieder zu beleben. Aber es spielt gar keine Rolle! Nach der Explosion dieser Blase wird es sicher eine neue geben, dann noch eine und noch eine, denn der Kapitalismus ist abhängig von der Bewirtschaftung neuer jungfräulicher Ländereien, seien es physische Orte, die (neo-)kolonisiert werden können, oder neues Spekulationsweideland, in welches investiert werden kann.

 

Wie Baumann sagte, dieses System ist ein Parasit, der nicht komplett und kohärent zu gleicher Zeit sein kann: entweder ist er kohärent mit seinen Prinzipien, worauf neue unüberwindbare Probleme für die Wirtschaft auftauchen (die zyklischen Krisen), oder er versucht zu überleben, kann es aber nicht verhindern, inkohärent gegenüber seinen Prinzipien zu sein (Staatshilfe).

 

Welche Naivität im Elan der Empörung der Linken und der Populisten gegenüber der Zerlegung des Sozialstaats, handelt es sich doch nur um eine logische, fast banale Konsequenz aus der Kapitalakkumulation! Wieso soll ich dem Arbeiter einen unbefristeten Vertrag geben, wenn ich doch in sechs Monaten entscheiden kann, ob ich ihn behalten will oder nicht? Worin soll der Vorteil liegen, die Produktionsprozesse innerhalb kurzlebiger nationaler Grenzen zu behalten, wenn doch die Transportkosten so stark gesunken sind in den letzten 30 Jahren, dass man zu einem Drittel der Kosten am anderen Ende der Welt produzieren kann? Wie soll es möglich sein, die soziale Sicherheit zu erhalten, wenn doch das Steuergeld gebraucht wird, um die Unternehmen der Reichen zu retten, da sonst die Gesellschaft (ihre Privilegien und ihre Privilegierten) in sich zusammenfallen würde?

 

Paradox ist, dass in einem Moment, der so fruchtbar wäre für die Infragestellung des Existierenden, die Kämpfe der Gewerkschaften und der „Zivilgesellschaft“ in Europa bis jetzt eher in einem Abwärtstrend und bedeutungslos sind. Gegenüber dieser Situation wird die Mässigung als vernünftige Haltung verkauft. Man sagt uns, dass wir nur in kleinen Schritten vorwärts kämen und dass es absolut nötig sei, unsere errungenen Rechte zu verteidigen.

 

… Welch grosser Haufen Scheisse!

 

Statt zum Gegenangriff zu blasen, begnügen wir uns damit, zu heulen um die Sicherheit, ein Leben lang ausgebeutet zu werden wie unsere Eltern, oder verlangen, dass sie uns, nach einer an die Arbeit verlorenen Existenz, einige Jahre magerer Rente überlassen bevor wir krepieren. Diese Bittgesuche sind nicht nur erniedrigend, sondern auch unmöglich umzusetzen, denn sie sind und bleiben inkompatibel, heute mehr denn je, mit diesem nimmersatten Monster, das man Kapital nennt.

 

Die Rahmenbedingungen unserer Sklaverei haben sich entwickelt. Die Prekarität oder die Sparprogramme sind, obwohl nur die Spitze des Eisberges, die Scheissrealität, die wir jeden Tag erdulden, sie grundlegend zu kritisieren ist also nicht nur hinsichtlich der Kommunikation wichtig, sondern für uns eine unmittelbare und befreiende Notwendigkeit. Es geht also nicht darum, die neuen Entwicklungen dieses Monsters mit unendlich vielen Gesichtern nicht zu kritisieren, denn „Wir wollen alles!“ bedeutet nicht „nichts verändert sich jemals“! Versuchen wir einfach, während unseren Kämpfen nicht zu vergessen, dass jede Veränderung illusorisch ist ohne eine totale Infragestellung des Existierenden.


Diese zyklischen Krisen sind der beste Beweis für die Tatsache, dass der Kapitalismus nicht nur Hunger und Ausbeutung IST für den grössten Teil der Menschheit, sondern nicht einmal sich selber überleben kann! Wir wollen jegliche Regung eines Zurücks zum toten und begrabenen, sogenannten „goldenen Zeitalter“ des Wohlfahrtsstaats hinter uns lassen, um die Kritik eines Systems, das dabei ist, zusammenzubrechen, weiter und weiter voran zu treiben.

 

Keine Revolution ist denkbar ohne die Zerstörung des Wertesystems, das die Reproduktion dieses Tumors ermöglicht. Die Monetarisierung der interpersonellen Beziehungen und der Kultur, die Kondition des Lohnarbeiters, die Konzepte von Verkauf und Handel, das wirtschaftliche Wachstum, die Solidarität, das Eigentum, die Klassenidentität, die Mischformen, die Spiritualität, die Beteiligung, der Kontakt mit der Erde, die Sakralisierung der Ware, die Verzerrung der Konzepte Wert und Arbeit, alles Themen, die im Zentrum einer populären Debatte stehen sollten, um mit einer neuer Palette von Werten leben zu können, die es endlich erlauben wird, dass die Macht der Liebe über die Liebe zur Macht siegen wird.


„Seien wir vernünftig, verlangen wir das Unmögliche“ (Ernesto « el Che » Guevara)

 

Quellen:

1 – forbes.com

The Grundrisse p.153 – The Crisis & What to Do About It von George Soros

Rosa Luxembourg – L’accumulation du capital

Baumann – « Capitalisme parasitaire »