Alarmstufe Rot

Erstveröffentlicht: 
08.02.2011

Weil sie eine Abschiebung gefilmt haben, sollen vier Wiener Studenten eine Terrororganisation sein, die den internationalen Flugverkehr lahmlegen wollte. DATUM vorliegende Dokumente beweisen außerdem, dass die „Uni brennt“-Bewegung vom Verfassungsschutz observiert wurde.

 

TEXT: GEORG ECKELSBERGER, THOMAS TRESCHER

 

Sie stricken. Jene Personen, die der Verfassungsschutz als Terrororganisation bezeichnet, sitzen im Wiener Café Rüdigerhof und stricken sich gegenseitig bunte Socken. Auf den ersten Blick könnte man Judith, Andrea, Iris und Martin (alle Namen geändert) für ganz normale Studenten mit einem ein wenig altmodischen Hobby halten. Doch wenn sie nicht gerade mit Maschen und herunterfallenden Wollknäueln beschäftigt sind, sollen die vier Studenten an der Akademie der bildenden Künste in Wien versucht haben, ein Gebäude abzubrennen und den internationalen Flugverkehr zum Erliegen zu bringen. Ihr Ziel: eine „grundsätzliche Änderung der Asylpolitik“ in Österreich. Das behauptet jedenfalls der Verfassungsschutz. Peinlich allerdings für die Verfassungsschützer: Jene beiden Aktionen, die sie den Verdächtigen vorwerfen, passierten in einer Zeit, als die Studenten bereits observiert wurden – und das vermutlich nur deshalb, weil sie sich in der studentischen Protestbewegung des Jahres 2009 engagierten.

Am 6. Juli des Vorjahres wurden drei von ihnen als Terrorverdächtige verhaftet, zwei Wochen später noch Iris, die vierte Studentin. Der Vorwurf lautete, zwei Mistkübel vor einer Zentrale des Arbeitsmarktservice (AMS) in der Wiener Redergasse im 5. Bezirk in Brand gesetzt zu haben. „Ich betone immer wieder: Es geht nicht darum, dass Mistkübel angezündet, sondern dass die Mistkübel als Brandsatz verwendet wurden, um das AMS abzubrennen“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Michaela Schnell. Was die angezündeten Mistkübel zu einem Brandsatz gemacht habe, „kann ich jetzt nicht sagen“, sagt Schnell. „Jedenfalls ist ein hoher Schaden entstanden.“ Die Studenten erlebten den Unterschied zwischen „anzünden“ und „als Brandsatz verwenden“ am eigenen Leib. Denn die Behörden bewogen die brennenden Mistkübel, gegen die Verdächtigen nach Paragraf 278b des Strafgesetzbuchs (Bildung einer terroristischen Vereinigung) zu ermitteln – und sie umgehend in U-Haft zu stecken (siehe DATUM 10/10). Der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser sieht darin einen schweren Missbrauch des Terrorparagrafen. „Dass eine Tat eine Gemeingefährdung herbeiführt, dass dabei Menschen ums Leben kommen, dass die Tat großen Schaden auslöst, dass sie die Medien und die Politiker einige Monate lang beschäftigt – all das ist laut Lehrbuchmeinung noch keine Störung des öffentlichen Lebens und rechtfertigt den Terrorismusparagrafen nicht“, sagt Steinhauser. „Das zeigt, dass der Paragraf für schwere terroristische Angriffe der Kategorie der Anschläge des 11. September 2001 gedacht ist.“ Für die ermittelnden Behörden reichten zwei brennende Mistkübel. Die Studenten mussten für den Terrorverdacht mit sieben bzw. fünf Wochen Untersuchungshaft büßen – ohne Ergebnis. Bis heute, mehr als ein dreiviertel Jahr nach den Ereignissen, wurde keine Anklage erhoben – und Paragraf 278b als Ermittlungsparagraf wieder gestrichen. Warum nach wie vor keine Anklage erhoben wurden, erklärt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft so: „Wir ermitteln hier gegen einen größeren Personenkreis, deshalb dauert das länger.“

Ein Punkt, der die Ermittlungen verzögerte: Auf dem Laptop einer verdächtigen der vier verdächtigen Personen fanden die Ermittler 22 Videosequenzen – aufgrund derer das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) umgehend wieder den Terrorverdacht erhob. „Als wir uns drei Monate nach der Haftentlassung unsere beschlagnahmten Sachen abgeholt haben, wurde uns gesagt, dass wir sowieso bald wieder in U-Haft sitzen“, sagt Judith. Auch wenn das bis dato nicht passiert ist: Noch am selben Tag wurden die Verdächtigen wegen der Videos verhört. „‚Jetzt ist der Spaß vorbei, jetzt wird es ernst‘, haben sie uns gedroht“, sagt Judith.

Auf den Videos ist die Nacht vom 22. auf den 23. Juni 2010 zu sehen, in der die Verdächtigen die Abschiebung eines Schubhäftlings filmten, der vom Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände im neunten Wiener Gemeindebezirk zum Flughafen Wien-Schwechat gebracht wurde. Auch wenn es abstrus klingt: Für die ermittelnden Beamten ist das ein Hinweis darauf, dass die Angeklagten eine terroristische Vereinigung sind. Aufgrund dieser Videos erbat das LVT in einem Schreiben vom 21. September 2010 an die Staatsanwaltschaft die Ausweitung der Ermittlungen auf die Terrorparagrafen 278b und – „in evento“ – 278c (Begehung einer terroristischen Straftat). Die Dokumentation der Abschiebung wird in dem Bericht durchgehend als „Observation“ bezeichnet, die Ermittler schließen, „dass die Beschuldigten offensichtlich Verhinderungen von Abschiebungen, möglicherweise aber auch Häftlingsbefreiungen planen“. Als Indiz dafür reicht dem Verfassungsschutz alleine die Videodokumentation der Abschiebung. Beziehungsweise, so der Bericht weiter: „Als weiteres Indiz für die Begehung einer terroristischen Straftat ist die professionelle Vorgangsweise bei der Observation selbst (…) zu sehen.“ Was die Ermittler als Vorbereitung von Häftlingsbefreiungen sehen wollten, war aber laut den Verdächtigen eigentlich ein universitäres Projekt. „Die Akademie der bildenden Künste hat mit Vorlage einer Expertise bestätigt, dass die Aufnahmen für die Uni entstanden sind – Ausschnitte der Aufnahmen waren auch Teil einer Ausstellung an der Akademie”, sagt der Beschuldigte Martin.

Dazu kommt: Jene Indizien, die in dem LVT-Bericht am schwersten wiegen, sind schlicht und einfach unwahr. Am Flughafengelände filmten die Beschuldigten vom Dach eines AUA-Parkhauses aus, auf dem sich auch zwei Funkmasten befinden. „Eine Manipulation an dieser Funkanlage hätte möglicherweise für den Flughafenbetrieb aber (sic!) auch für den Flugzeugverkehr an sich, unabsehbare Folgen“, schreiben die Ermittler. Dass das nicht stimmt, bestätigt auch die Staatsanwaltschaft: „Im Laufe der Ermittlungen hat sich gezeigt, dass das normale Sendemasten für den Mobilfunk sind“, sagt Sprecherin Schnell. Es sei den Beschuldigten „durchaus möglich“ gewesen, Manipulationen an den Masten durchzuführen, steht in dem Bericht weiter. Obwohl sie das – wiederum laut LVT-Bericht – nicht getan haben, wird es ihnen zur Last gelegt.

Das LVT geht noch weiter und von „offensichtlich geplanten Aktionen“ aus, ohne Indizien oder gar Beweise dafür anzuführen. Dafür wollen die Ermittler das Motiv der Beschuldigten kennen: „Als Motiv für die offensichtlich geplanten Aktionen könnte die Erzwingung einer Gesetzesänderung, aber auch eine Änderung der Asylpolitik in Österreich sein.“ (Originalwortlaut des Berichts, Anm.) Durch die Dokumentation der Abschiebung entstand laut den Ermittlern „ein enormes Sicherheitsrisiko und ist derzeit nicht absehbar, wie, (sic!) bzw. wann diese terroristische Vereinigung (…) die gewonnenen Erkenntnisse für ihre weiteren Aktivitäten nutzen wird.“ Die Konstrukte und Anschuldigungen des LVT gingen letztendlich auch der Staatsanwaltschaft zu weit: Sie gab dem Ansuchen auf Ausweitung der Ermittlungen nicht statt. „Die probieren an uns einfach aus, wie weit sie gehen können“, sagt Judith. Und die Ermittler gingen sehr weit: Auf Auftrag des LVT wurden vom Bundesverfassungsschutz gar internationale Ermittlungen eingeleitet. Wenn die Verdächtigen Telefonnummern im Ausland anriefen, forschten die ermittelnden Behörden die Anschlussinhaber aus. „Man weiß nicht, was man tun soll. Ich habe mir eine neue E-Mail-Adresse zugelegt, aber man weiß nicht ob die wieder von den Ermittlern beschnüffelt wird. “, sagt Andrea.

Auf das LVT wirft der Bericht ein katastrophales Licht: Es will den Beschuldigten mit nachweislich falschen Behauptungen unterstellen, eine terroristische Vereinigung zu sein. „Dass das LVT hier einen Terrorismusverdacht heraufbeschwört, ist ein bewusster Missbrauch des Paragrafen – da wird das Gesetz nicht gebogen, sondern gebrochen“, sagt Grünen-Justizsprecher Albert Steinhauser. Für das LVT ist der Terrorismusverdacht offensichtlich schon gegeben, wenn Personen auch nur die Möglichkeit haben, einen Funkmasten zu beschädigen, dessen Beschädigung im schlimmsten Fall eine Störung des Mobilfunknetzes zur Folge hätte. Die Staatsanwaltschaft will nicht sagen, ob das LVT seine Arbeit auf ihr Ansuchen hin oder selbstständig zur „Gefahrenabwehr“ aufgenommen hat.

Wahrscheinlicher ist, dass das LVT auf eigene Faust die Ermittlungen aufgenommen hat, um die „Uni brennt“-Bewegung zu observieren. „Das LVT ist auf dem rechten Auge blind oder komplett unfähig, während es mit dem linken Auge besonders genau hinschaut“, sagt Steinhauser. DATUM vorliegende Dokumente scheinen das zu bestätigen: Ein Observationsbericht zeigt, dass die Verdächtigten bereits überwacht wurden, noch bevor am 22. Juni die Abschiebung gefilmt wurde und am 27. Juni in der Redergasse zwei Mistkübel brannten. Das LVT beantragte schon am 12. Mai 2010 die Überwachung von zumindest einer Person aus der „Uni brennt“-Bewegung. Ein DATUM vorliegender Observationsbericht des LVT dokumentiert eine „Zielperson 1 (ZP1)“ – „Bekleidung: schwarzes T-shirt, (sic!) knielange Hose, blaue Adidas-Sportschuhe mit gelben Streifen“ – , die offenbar am 26. Juni 2010 an einer „Demonstration gegen soziale Kontrolle und Repression“ teilnahm und sie um 17.33 Uhr ohne besondere Vorkommnisse wieder verließ. Die „ZP1“ wird – gemeinsam mit zwei weiteren Personen (im Bericht „P3“ und „P4“ genannt) – bis 21.45 Uhr beobachtet, die Ermittler schließen ihren Bericht mit den Worten: „Sie queren die Straße Am Stadtpark in Richtung Hilton, bzw. AVANTI-Tankstelle, wo sie nächst dieser und der Fahrbahn sich auf einen Betonsockel setzen und plaudern und offensichtlich warten. ZP1 raucht Zigaretten.“ Johann Golob, Pressesprecher der Bundespolizeidirektion Wien (ihr ist auch das LVT unterstellt), möchte zu diesen Dokumenten nichts sagen. Er bestätigt lediglich, dass es Ermittlungen gibt.