Verdeckter Ermittler aufgeflogen
Der Fall „Simon Brenner“ hat die linke Szene in Heidelberg erschüttert
„Die Zeit der Witze ist vorbei.“ Wenn jemand vor einem halben Jahr Matthias Richter von der Kritischen Initiative (KI) erzählt hätte, dass in seinem Freundeskreis ein Spitzel arbeitet, hätte er das für einen Scherz gehalten. „Auch heute ist es noch ein Witz. Nur dass es wirklich geschehen ist.“
Einen Monat später beim Kaffeetrinken im Marstallcafé, sieht man Matthias an, dass er die ganze Geschichte noch nicht wirklich glauben kann. Neben ihm sitzt Axel Malsch, der sich in der linken Hochschulgruppe Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) engagiert. Auch er kannte Simon Brenner gut - glaubte er zumindest. Er war ein Freund, dieser Simon, mit dem man nach Berlin gefahren war und den man nach Hause eingeladen hatte. Bis Mitte Dezember. Denn dann flog Simon auf.
Matthias erzählt von Simons letztem Wochenende als KI-Aktivist. Alles begann, als Brenner auf einem Konzert im Club „Kosmodrom“ im Pfaffengrund von einer jungen Frau angesprochen wurde. Sie hatte ihn im Urlaub in Frankreich in den vergangenen Semesterferien kennengelernt. Freunde hatten ihn damals als Simon von der Polizei vorgestellt. Er bat sie zu schweigen und ließ sich ihre Telefonnummer geben, um ihr am nächsten Tag nochmal einzuschärfen nichts zu verraten. Dennoch erzählte sie ihrer Freundin, die sich wie Matthias bei der KI engagierte, von der merkwürdigen Begegnung. Noch war alles unklar. Ein Missverständnis vielleicht?
Die KI-Mitglieder entschieden, Brenner noch am selben Abend auf die Vorwürfe anzusprechen. Sie organisierten ein Treffen in der Altstadt-Kneipe „Orange“. Auf den Vorwurf „Wir wissen, dass du Bulle bist!“, reagierte Simon anders als erwartet. Statt alles abzustreiten stellte er sich den Fragen und gab alles zu. Als Matthias kam, standen alle bereits vor der Kneipe auf der Straße. Einige Antifa-Aktivisten waren dazugekommen und fragten Brenner systematisch nach dem Ziel seiner Ermittlungen und seinen Vorgesetzten aus.
Einer Stellungnahme der Roten Hilfe (RH) vom 13. Dezember 2010 zufolge gab Brenner dabei an, er habe eine „Sonderschulung als Verdeckter Ermittler beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg absolviert“. Danach habe er in „regelmäßigen Dienstbesprechungen“ mit der Heidelberger Staatsschutzabteilung und dem LKA Informationen über Personen der linken Szene weitergegeben.
Laut der RH wurden Akten geführt, in denen auch Mitbewohner und Freundschaften der beobachteten Personen verzeichnet worden seien. Brenner habe im Gespräch mit den Aktivisten gesagt, sein längerfristiges Ziel sei die Heidelberger Antifa gewesen. Einen konkreten Straftatverdacht, zu dem er ermitteln sollte, habe es Brenner zufolge jedoch nicht gegeben.
Das angebliche Fehlen jeglichen Straftatsverdachts könnte sich zum Dreh- und Angelpunkt dieses Falls entwickeln. Juristisch betrachtet gibt es zwei Möglichkeiten, die den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers rechtfertigen: Ein Grund ist nach Paragraph 110a Strafprozessordnung das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte zu einer Straftat von erheblicher Bedeutung. Sollte Simon Brenner tatsächlich unabhängig von einem konkreten Straftatverdacht ermittelt haben, wäre eine Rechtfertigung über diesen Paragraphen unmöglich. Die zweite Möglichkeit findet sich im Paragraph 20 Absatz 3 des Polizeigesetzes. Dieser erlaubt den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers in zwei Fällen: Zum einen, wenn er der Abwehr von Gefahren für Bund, Land, einer Person oder bedeutenden Sach- oder Vermögenswerten dient. Zum anderen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung.
Unter Juristen ist die genaue Auslegung dieses Paragraphen jedoch umstritten: „Als Jurist muss man das von zwei Dimensionen aus betrachten“, sagt ein Dozent des Öffentlichen Rechts am Juristischen Seminar Heidelberg, der nicht namentlich genannt werden möchte. Rechtlich gesehen könnten Hochschulgruppierungen als extremistisch eingestuft und damit auch rechtmäßig vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Von der politischen Dimension erscheine es allerdings eher, als „würde hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen“.
Auch Thomas Hillenkamp, Professor für Straf- und Strafprozessrecht in Heidelberg, sieht den Fall aus rechtlicher Sicht kritisch. Der Verdeckte Ermittler sei für etwas anderes gedacht gewesen, sagt Hillenkamp. „In der organisierten, grenzüberschreitenden Kriminalität werden Verdeckte Ermittler gebraucht. So leuchtet jedem ein, dass man die Mafia bekämpfen will. Dies hier sind jedoch Randbereiche, in denen sich zeigt, dass offenbar auch im Übereifer offensichtlich harmlose Gruppierungen in dieses Fadenkreuz geraten können und das Instrument des Verdeckten Ermittlers unverhältnismäßig eingesetzt wird“.
Dass sie jemals Ziel eines solchen Einsatzes würden, damit hätten Axel und Matthias nie gerechnet. Axel lernte Simon zu Beginn des Sommersemesters 2010 beim gemütlichen Willkommensgrillen des SDS kennen. Vorher war Simon bereits bei einer Informationsveranstaltung während der Hörsaalbesetzung im November 2009 aufgetaucht. Als es zu dunkel zum Grillen wurde, gingen sie zu Axel nach Hause, wo sich Simon direkt ein Buch über Mittelhochdeutsch lieh.
Zur Mai-Demonstration wollte Axel mit Freunden nach Berlin. Simon bot an mit seinem Auto zu fahren. Egal wo: Simon war von Anfang an dabei. Auch beim Campus Camp im Juni, wo Matthias ihm das erste Mal begegnete. „Dann habe ich ihn noch in die KI mitgenommen“, meint Axel beklommen und amüsiert zugleich. Anschlussprobleme hatte Simon nie. „Er hat sehr schnell Leute kennengelernt. Das ist mir damals schon aufgefallen“, erinnert sich Axel.
Simon bliebt nur kurz beim SDS. Die persönlichen Kontakte hielt er zwar aufrecht, doch zu den Treffen kam er bald nicht mehr. Er schloss sich der KI an und war Ordner bei den Bildungsstreikdemonstrationen. Auch zum No-Border-Camp in Brüssel fuhr Simon zusammen mit Matthias. Matthias erzählt, dass die belgischen Polizisten rabiat mit Knüppeln gegen Demonstranten vorgegangen seien. Auf die Frage, ob er schon früher den Eindruck hatte, dass Simons Engagement gekünstelt gewesen sei, antwortet Matthias ohne Zögern: „Wenn man sieht, wie einer einem verletzten Demonstranten durch eine Polizistenreihe ein Notfallpaket hindurchzugeben versucht, dann denkt man in dem Moment nicht: ‚Meint der das jetzt wirklich ernst?’“ Zuletzt hatte Simon im November bei der Castor-Südblockade mitgemacht.
Immer noch im Marstallcafé spielen Axels Hände mit einem Stapel Flyer, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Sie sollen an der Uni ausgelegt werden und auf den bisher kaum bekannten Fall aufmerksam machen. Das LKA, das Simon Brenner als seinen Auftraggeber bezeichnet hatte, hat den Einsatz bislang weder bestätigt noch dementiert. So bestätigte LKA-Pressesprecher Ulrich Heffner zwar allgemein den Einsatz Verdeckter Ermittler durch das LKA, wollte sich aber nicht zu Details äußern.
Im Heidelberger Uni-Rektorat wahrt man deswegen im Fall Simon Brenner Distanz. „Die Universität hatte und hat keinerlei Kenntnis von verdeckten Operationen oder Ermittlungen auf dem Campus“, erklärte Uni-Pressesprecherin Marietta Fuhrmann-Koch auf ruprecht-Anfrage. Fuhrmann-Koch zufolge gebe es keine Hinweise, „dass es sich um nicht ordnungsgemäße Papiere“ handle. Die Universität will jedoch keine weiteren Erklärungen abgeben, „solange es keine Beweise für Rechtsbrüche“ vorliegen.
Dagegen bezieht Annette Hornbacher, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Ethnologie, an dem Brenner eingeschrieben war, deutlich Stellung: In einem Antwortschreiben an die KI betont sie, dass das Institut keine Kenntnis über die verdeckte Ermittlung hatte. Hornbacher fände es jedoch „ungeheuerlich“, wenn der akademische Freiraum des Instituts, an dem kritisches und offenes Nachdenken praktiziert und vermittelt werde, „in irgendeiner Weise durch eingeschleuste Spione missbraucht und diskreditiert“ würde.
„Wenn man an die Zeit zurückdenkt, die man mit ihm verbracht hat, kommt es einem alles irgendwie falsch vor“, sagt Matthias enttäuscht. „Es ist als wäre ein Freund gestorben“, fügt Axel hinzu. „Anfangs habe ich noch öfters, wenn wir irgendwas geplant haben, gedacht: Du kannst ja auch Simon fragen. Bis mir dann eingefallen ist: Ach nee, den gibt es ja gar nicht.“
Inzwischen haben Hacker den angeblich realen Namen des Ermittlers neben anderen privaten Informationen im Internet veröffentlicht. Matthias wirkt ernüchtert: „Wir leben in einem Überwachungsstaat.“ Auf die Frage, was sie von der Überwachung der NPD durch den Verfassungsschutz halten, überlegen sie lange, bevor sie antworten. Weder die Kritische Initiative noch Antifa ließen sich mit der NPD vergleichen – vor allem was Gewaltbereitschaft und Gefährdung angingen. „Dennoch“, sagt Matthias, „all das ist keine Rechtfertigung für den Aufbau eines Überwachungsapparats. Systematische Überwachung macht zwangsläufig Demokratie und Rechtsstaat kaputt.“
Was sie tun würden, wenn sie Simon auf der Straße begegnen würden? „Ich würde ihn siezen und ihn fragen, wann ich meine Bücher zurückbekomme!“, sagt Axel nach kurzer Pause.
von Jenny Genzmer und Julia Held