„Der kommende Aufstand“: Eine militante Theorieschrift aus Frankreich sorgt nun auch in Deutschland für Wirbel. Haben die aktuellen Bürgerproteste eine intellektuelle Basis?
Stuttgart 21, der Castor-Transport, die Flugrouten in Berlin: Haben die aktuellen Bürgerproteste in Deutschland eine intellektuelle Basis? Gibt es eine neue linke Theorie, eine Kampfschrift wie einst Carlos Marighellas „Handbuch des Stadtguerillero“, das die Polizei in den siebziger Jahren bei Hausdurchsuchungen gerne beschlagnahmte? Militarisiert sich der Protest? Und was eint die Aufstände gegen die rigide Sparpolitik in England, Frankreich und Griechenland? Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Es sind solche Fragen, die eine marginale französische Theorieschrift nun auch in Deutschland auf breiteres Interesse stoßen lässt. Der Text kursiert im Internet (http://pdfcast.org/pdf/der-kommende-aufstand) und wird dort eifrig debattiert. Die „FAS“ nutzt die Lektüre, um europaweit eine steigende Bereitschaft zur Sabotage auszumachen, die „Süddeutsche Zeitung“ schwärmt von einer „Aura der Hellsichtigkeit“ und der „Spiegel“ druckte in dieser Woche Auszüge. Dabei erschien das schmale Buch „Der kommende Aufstand“ bereits im August in deutscher Übersetzung als Flugschrift bei Nautilus (128 S., 9,90 €; siehe Tagesspiegel vom 19. September). Was also steckt hinter der Aufregung um das Pamphlet?
Als das von einem „Unsichtbaren Komitee“ verfasste französische Original unter dem Titel „L’Insurrection qui vient“ 2007 im linken Verlag Lafabrique herauskam, stieß der 125-Seiten-Band zunächst auf wenig Resonanz. Er blieb eine unspektakuläre Veröffentlichung im Rahmen der Reihe „Politik, Bürgerkrieg“. Eine Debatte über das anonyme Manifest ohne klare politische Perspektive blieb aus, und nach einem Jahr hatte der Verlag gerade mal 8000 Exemplare verkauft.
Die Publicity, die das Buch zum Mittelpunkt einer von Politik und Medien geführten Debatte rückte, kam erst mit der Verhaftung des 34-jährigen ehemaligen Philosophiestudenten Julien Coupat im November 2008. Dieser betrieb im Kollektiv einen Krämerladen in Tarnac, Corrèze, und wurde der Gründung einer „unsichtbaren Zelle“ sowie der Sabotage von TGV-Linien angeklagt. Der Geheimdienst unterstellte Coupat, Mitverfasser des zu Gewalt aufrufenden Buchs zu sein. Coupat gab lediglich zu, das Buch gelesen zu haben, und auch der Verleger bestritt dessen Autorschaft. Allerdings hatte Coupat zuvor Schriften publiziert, die dem umstrittenen Text ideologisch nahe stehen. Sechs Monate saß er in im Gefängnis – in „provisorischem Gewahrsam“ –, ohne Beweise. Ein Justizskandal. Es bildeten sich Unterstützerkomitees, die Grünen setzten sich für Coupat ein.
Der folgende Medienwirbel verdreifachte den Absatz des Buchs. Besonders im politisierten Pariser Sorbonne-Viertel sowie an der Hochschule Sciences Po’ fanden sich Käufer. Etablierte Journalisten machten sich die Mühe, das Werk zu lesen. „L’Express“ kritisierte die „aufgesetzte“ Sprache und Unverständlichkeit.
Worum geht es? Das teils opake Werk zeugt von einem tiefen Gesellschafts-Pessimismus: die „Gefängnis- und Katastrophengesellschaft“ sei aufzubrechen, das Individuum zu befreien. Die kollektive Unzufriedenheit erfasse zunächst den Einzelnen, um sich dann auf die Gesellschaft als Ganzes auszubreiten. Der Allgegenwart von Staat und Kapital, dem „Monster, das alle Individuen vampirisiert“, müsse mit Gewalt entgegnet werden. Extreme Gewalt gegen das Polizeikorps als „gewalttätige“ Verkörperung des Staates sei erlaubt. Ebenso illegale Praktiken. Der zweite Teil ist eine Art Gebrauchsanweisung für den Aufstand. Agilität, Anonymität, Sabotage und Nicht-Organisation sind Schlüsselbegriffe, wobei sich der Erfolg des Aufstands an der Intensität der Gewalt bemisst. Was fehlt, ist die Vision von einer neuen Gesellschaft. Dem Verfasserkollektiv schwebt lediglich ein Leben in Minigruppen vor.
Im April 2010 erschien dann in der Verlagsgruppe Editis eine kaum beachtete Fortsetzung des Bandes unter dem Titel „Regieren durch Chaos“. Erneut blieben die Autoren anonym. „Rebellyon“, die Webseite eines linken Komitees, fragt, wohin die unter dem Neologismus „Insurrectionalisme“ zusammengefasste Bewegung eigentlich führen soll. Junge Proletarier sowie unter prekären Umständen lebende Studenten versuchten, die „Katastrophengesellschaft“ mit einem sozialen Guerillakrieg von innen heraus zu verändern, dabei beriefen sie sich auf Foucault, Carl Schmitt oder den russischen Anarchisten Mikhail Bakunin. Weil die Protestler aber unfähig seien, alleine großflächige Aktionen auszulösen, so „Rebellyon“, mischten sie sich unter andere Protestbewegungen. Dieser Lesart zufolge sind die Aufständischen agitatorische Trittbrettfahrer bei eher gewaltlosen Aktionen, etwa den Demonstrationen gegen die französische Universitätsreform 2009 oder zuletzt gegen die Rentenreform.
Findet also eine Unterwanderung der Proteste statt, vielleicht auch in Deutschland? Selbst seriösen Medien erscheint es plausibel, Stuttgart 21 mit den Ausschreitungen in Frankreich oder Griechenland zu vergleichen. Lohnender ist ein differenzierter Blick. Den Protesten gemeinsam ist das Ohnmachtsgefühl sowie die Kritik an der „Staatsherrschaft“, die den Polizeiapparat einsetzt, um mächtige Privatinteressen zu schützen. Anders als die „Insurrectionistes“ zeigten die deutschen Protestler jedoch Gesicht, stellen klare politische Forderungen und sind dialogbereit.
Zwar nennt Verleger Eric Hazan von Lafabrique das nach seinen Aussagen fast 50 000 Mal verkaufte Manifest einen Verlagserfolg, aber nicht mal das Gros der Studenten Frankreichs kennt es. Da hilft es wenig, dass Teile der unzufriedenen jungen Bevölkerung das Aufbegehren als „französische“ Tendenz einfordern. Das Interesse des deutschen Feuilletons an „Der kommende Aufstand“ hat indes wohl mehr mit der Sehnsucht nach Krawall zu tun als mit einer tatsächlich bevorstehenden Radikalisierung der Bürgerproteste. So kritisiert ausgerechnet die linke „taz“ die Begeisterung für „eine rechte, von Heidegger und Carl Schmitt inspirierte antimoderne Hetzschrift“.