Brüssel. Zwei Uhr nachts. Das Legal Team sitzt an seinem winzigen Tisch und tippt hastig auf das Notebook ein. Übermüdet nimmt es die telefonischen Anfragen entgegen und widmet sich den im Minutentakt eintreffenden Aktivist_innen. Viele von ihnen kommen unmittelbar aus dem Gefangenenlager.
Bei der heutigen Demo nahm die Polizei unter brutalsten Bedingungen hunderte von Autonomen fest. Hemmungslos prügelten sie auf Linksradikale ein, dabei erfolgten die Festnahmen in nahezu allen Fällen willkürlich und grundlos.
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Eigentlich hätte es ein ruhiger Tag werden sollen, versicherte mir Lotti vom Legal Team; europaweit mobilisieren die Gewerkschaften für eine Demo »für mehr Lohn und Arbeit«, sie ist angemeldet und die internationale Presse schaut auf Brüssel. Erwartet werden bis zu 100.000 Teilnehmer_innen. Beste Bedingungen also. Am Ende des Tages sah die Bilanz jedoch anders aus. Mindestens 300 Festnahmen verzeichnet das Legal Team. Dazu Nasenbeinbrüche, Platzwunden, Blutergüsse und unzählige Prellungen. Mehrere Verletzte mussten im Krankenhaus behandelt werden.
Schon Vormittags nimmt die Polizei 100 Demonstrant_innen fest, darunter 25 Rebel Clowns. Sie verließen gerade das Camp und befanden sich auf dem Weg zur Demonstration als die Polizei eingriff. Als Grund der Festnahme nannten die Beamt_innen »Vorbeugung von Straftaten«.
Die Demo beginnt bereits mit Schikanen. Ein Transparent mit der Aufschrift »Smash Capitalism« wird aufgrund des Anarchie-A's beschlagnahmt. Die Polizei untersagt dem Lautsprecherwagen unterdessen die Teilnahme an der Demo. Noch bevor der antikapitalistische Block sich in Bewegung setzen kann, stellt sich ihm eine gepanzerte und vermummte Einheit Polizist_innen in den Weg. Die Schlagstöcke sind schon gezogen. Auch alle zur Demo führenden Seitenstraßen werden von Einsatzkräften versperrt. Entgegen der ursprünglichen Zusage, dass der Block mit den Gewerkschaften laufen könne, zeigt sich Brüssel nun kompromisslos. Mit Null Toleranz wird gegen die Aktivist_innen des No Border Camps vorgegangen.
Unmittelbar nach Beginn versuchen erste Kleingruppen der Zivilpolizei Einzelpersonen abzugreifen. Nach den ersten Übergriffen zerstreut sich der Block jedoch und sucht Anschluss an den Rest der Demo. Ein massives Aufgebot an Zivilpolizei begleitet die Demonstrant_innen seither und folgt ihnen auf Schritt und Tritt. Bisweilen sollen bis zu 30 Polizist_innen in zivil den linksradikalen Block begleiten. Als sich die Aktivist_innen mehr und mehr in die Menge der Gewerkschaften mischen, blockieren mit Schilden und Schlagstöcken bewaffnete Einsatzkräfte der Demo kurzerhand den Weg. Unverzüglich werden Gewerkschafter_innen von Linksradikalen getrennt und ohne Vorwarnung beginnt die Polizei auf die Demonstrant_innen einzuschlagen. Unzählige Hiebe regnen auf die Menschen hinab, selbst als sie sich hinsetzen und die Hände in die Höhe halten, drischt die Polizei noch auf sie ein. Schon jetzt werden vereinzelt Protestierende unter Schlägen und Tritten hinausgezogen und verhaftet.
Auch vor Pressevertreter_innen macht die Polizei kein Halt. Als ich versuche die Festnahmen zu dokumentieren, wird ein Polizist sofort handgreiflich und droht mir Prügel an. »Go the fuck away, here is nothing to see!«, schreit er mir entgegen. Ich bleibe unnachgiebig. Bei einer leeren Drohung soll es allerdings nicht bleiben. Ohne Vorwarnung zückt der Beamte seinen Schlagstock und versetzt mir einen Hieb. Er trifft meinen Ellbogen, der nach kurzer Zeit rot anschwillt. Reflexartig schrecke ich zurück. Der Polizist setzt nach und bäumt sich drohend vor mir auf, seinen Knüppel hebt er schlagbereit in die Höhe. Mit vorgehaltender Kamera weiche ich weiter zurück, um in der Menge zu verschwinden.
Mittlerweile gelingt es den Einsatzkräften eine etwa 50 Personen große Menge zu isolieren. Zu einer Seite an eine Hauswand gedrängt, wurde sie komplett umstellt. Direkt zu den Füßen eines Polizisten liegt ein verletzter Demonstrant. Blut fließt aus einer Wunde am Kopf und hinterlässt eine etwa ein Meter lange Spur. Seine Hand ist zinnoberrot, die Augen sind gerötet von Pfefferspray und sein Gesicht schmerzverzerrt. Eine Genossin kümmert sich um ihn und tupft das Blut behutsam von seinem Gesicht. Sie bittet den Polizisten einen Krankenwagen zu rufen, erst auf englisch dann auf gebrochenem französisch. Weitere Demonstrant_innen schalten sich ein und rufen lautstark den Polizisten an einen Krankenwagen zu bestellen. Doch dieser reagiert in keinster Weise. Weitere Verletzte sitzen mit Platzwunden an Kopf und Gesicht am Boden und starren ins Leere. Ihre Blicke sind niedergeschlagen. Am Rande des Kessels formiert sich die Zivilpolizei. Mit Drohgebärden und Gebrülle halten sie Gewerkschafter_innen und Autonome in Schach. Sie wirken gestresst und angespannt, dennoch unbeirrt in ihrem Wirken. Während die Zivilpolizei die Demonstrant_innen auf Distanz hält, bereiteten ihre Kolleg_innen die Festnahme der gekesselten Autonomen vor. Über eine Seitenstraße hin werden sie abgeführt. Die unabhängige Gewerkschaft Luxemburgs (OGB-L) solidarisierte sich mit den Festgenommenen und fordert lautstark deren Freilassung.
Durch diese Stimmung aufgeheizt, wird einem Zivilpolizisten aus nächster Nähe von einem Aktivisten mit einer Spraydose ins Gesicht gesprüht. Kurz darauf fliegen mehrere Flaschen auf die Kette, eine davon trifft einen weiteren Beamten in zivil mitten ins Auge. Die Zivilpolizei versteckt sich daraufhin hinter ihren uniformierten Kolleg_innen.
Die Proteste beruhigen sich allerdings bereits nach wenigen Minuten und auch kurze Zeit später läuft die Demo ihren vorgeschriebenen Weg weiter. Ordner anderer Gewerkschaften fordern ihre Mitglieder auf, weiterzugehen. Mit der Demo setzt sich ebenfalls die Zivilpolizei in Bewegung und beginnt zielgerichtet linksautonom aussehende Menschen brutal festzunehmen. Diese Festnahmen haben keinerlei rechtliche Grundlage und erfolgten völlig willkürlich. Das Aussehen der Person war die einzige Grundlage der Festnahmen. Auf Nachfrage, warum ein Demonstrant zusammengeschlagen wurde antwortete der Polizist, dass »die Festnahme etwas grob gewesen sei«.
Das No Border Radio berichtet, dass derlei Maßnahmen beispiellos für Belgien sind. Noch nie hat es eine solche massive und willentliche Übertretung fundamentaler Rechte gegeben.