Klassenkampf und Kopfschmerzen

Erstveröffentlicht: 
09.08.2010
Pop. Nur beim Stuttgarter „Umsonst und Draußen"-Festival kann man noch Maoisten fröhlich tanzen sehen. Von Daniel Hackbarth

Jetzt hat der Computer einen Hänger", singt Anna Illenberger mit tiefem Soul und schaut schelmisch zu ihrem Bandkollegen Michael Fiedler, der hektisch an seinem Notebook herumschraubt. Seit gefühlten zehn Minuten wiederholt sich dieselbe Bassspur. Dem Charme der Sängerin und dem Einsatz von Marcel Engler, der die Panne mit einer Improvisation an der Trompete überspielt, ist es zu verdanken, dass der Fauxpas nicht weiter auffällt. „Analog ist eben doch besser", grinst ein Zuschauer und nimmt sichtlich zufrieden mit sich selbst einen Schluck Bier aus dem Plastikbecher. Er bleibt aber trotzdem bis zum Ende des Auftritts von Anna Gemina, um zu den ebenso basslastigen wie atmosphärischen Songs mitzuwippen, mit denen das Stuttgarter Trio den Höhepunkt am Eröffnungsabend der 31. Auflage des linksalternativen Festivals „Umsonst und Draußen" setzt.

Das Programmheft dokumentiert den Willen des „offenen Plenums", das jedes Jahr die drei Tage Open-Air-Musik auf der Uniwiese in Vaihingen organisiert, ein möglichst breites Spektrum an Stilrichtungen anzubieten - auch wenn der abschließende Sonntagabend, wohl als Konzession an die Stammklientel, drei Punkbands vorbehalten ist, allen voran den gut abgehangenen Lokalmatadoren Normahl aus Winnenden. Ansonsten ist von Balkanbeats über irischen Folk bis zu psychedelischem Gitarrenrock alles vertreten, mit dem der durchschnittliche Radiohörer nur selten in Berührung kommt.

Wer trotzdem hingeht, muss sich auf die eine oder andere Skurrilität einstellen. How does it feel?, die gemeinsam mit Melitta Dingdong und den Parkschützer Allstars die Headliner am Samstagabend sind, testen die Geduld des Publikums, indem sie sich während ihres Auftritts rauchend und Bier trinkend zu ihrem Schlagzeuger setzen, um ein wenig zu quatschen - ganz ungezwungen versteht sich -, während die E-Gitarren nervtötend rückkoppeln. Wie sich das anfühlt? Wahrscheinlich wie die Kopfschmerzen nach einer mit „Verräterbier" - so die Bezeichnung der Veranstalter für selbst mitgebrachte Getränke - durchzechten Nacht.

Mit eingängigen Songstrukturen auf Kriegsfuß steht auch die Formation Projektionen. Die epischen Soli des Leadgitarristen Maurice Kiesler lassen auf eine überwiegend im Probenraum verbrachte Jugend schließen, der Zusammenhang zwischen den auf die Bühne projizierten Videos und der Musik erschließt sich kaum. Die notorischen Ausdruckstänzer in Batikklamotten und Birkenstocksandalen schreckt das aber genauso wenig wie die knüppelharten Riffs von Ants on Earth, die von einem euphorischen Mitarbeiter der Festivalcrew als „ganz, ganz dreckige Stoner-Rock-Band" angekündigt werden.

Der überforderte Festivalbesucher indes kann zur Erholung über das vom Regen in eine Schlammgrube verwandelte Gelände waten und die Stände der verschiedenen Organisationen besuchen, die sich dort präsentieren. Am Pavillon des Infoladens Stuttgart unterhält sich ein Rastafari mit einem Mann, dessen rechtes Auge geschwollen ist. Hinter den beiden hängt passend ein Banner mit der Parole „Klassenkampf statt Vaterland". Unter den Büchern, die man am Stand erwerben kann, gehören unter anderem Lektürehilfen zum Marx"schen „Kapital" und das Werk „Über den Widerspruch" von Mao Tse-tung. Die ebenfalls feilgebotenen Käse- und Pflaumenkuchen finden allerdings besseren Absatz. Der Ökonom Marx hätte es geahnt.

Die Partei der Piraten hat gleich zwei Zelte aufgeschlagen. Der Andrang hält sich trotzdem in Grenzen. Abends sitzen einige Aktivisten beim Quartettspiel beisammen. Ein Mann wankt an den Stand und fragt, was es dort denn gratis gäbe. Er bekommt ein Papierfähnchen mit der Aufschrift „Klarmachen zum Ändern" in die Hand gedrückt, das er unmittelbar in ehrlicher Begeisterung zu schwenken beginnt. Diese Verbindung von politischem Aktivismus und Happening wirkt in Zeiten von Smartphones und Public-Viewing manchmal wie ein einziger Anachronismus, versinnbildlicht im Logo des „Umsonst und Draußen", das eine kaum verhohlene Hommage an die Terrorgruppe RAF darstellt. „Die Revolution ist vorbei, die Penner haben verloren. Suchen Sie sich einen Job", sagt bekanntlich ein Millionär in dem Film „The Big Lebowski" zu dem dauerkiffenden Althippie. Nur feiern die Penner eben immer noch ziemlich gute Partys.