Im Radio heißt es am Nachmittag: ein Toter bei Schießerei im hannoverschen Steintorviertel. Das Leben eines zweiten Mannes hänge „noch am seidenen Faden“. Der Tote ist Franco S., 47 Jahre alt, Vater einer Tochter, Pizzabäcker im Little Italy am Steintor. Lebensgefährlich verletzt, wie es heißt, ist Giuseppe L., 49, Koch im Lindener Restaurant Mama Raffaele, Vater eines Sohnes und einer Tochter. Im Little Italy sitzt ein Kollege und Freund der beiden, und schüttelt den Kopf. Nein, heißt das, was Giuseppe angeht, haben sie hier keine Hoffnung mehr.
Das Little Italy hat geschlossen an diesem Tag, nur ein paar Kollegen, Verwandte, Freunde sind da. Manche diskutieren vor der Tür über die absurde Tat, die sich vor Stunden, gegen 7.20 Uhr, auf der anderen Straßenseite im Columbus ereignet hat. Andere sitzen in sich gekehrt auf ihren Stühlen, schütteln die Köpfe. „Es ist unmöglich zu verstehen, dass so etwas passiert wegen einer Diskussion über den Scheißfußball“, sagt der Kollege, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Diese Diskussion, alkoholgeschwängert in den frühen Morgenstunden dieses Montags, soll der Auslöser des Streits zwischen den beiden Italienern und dem Täter gewesen sein. Grund dafür, dass der 42-jährige Hannoveraner Holger B. das Columbus verließ, eine gute Stunde später zurückkehrte und den beiden Italienern aus kurzer Distanz in den Kopf schoss.
Gegen 2 Uhr haben Franco S. und Giuseppe L. das Little Italy an diesem Abend verlassen. „Giuseppe kam oft nach der Arbeit her, um uns zu besuchen“, sagt der Kollege. Hin und wieder seien die beiden Freunde noch irgendwo ein Bier trinken gegangen. Nur eben normalerweise nicht im Columbus. Der Ruf der Kneipe ist mit zweifelhaft noch unzureichend umschrieben, auch die Italiener gegenüber wissen das. Dass Franco und Giuseppe hier landen, können sich die Kollegen nur so erklären: „Alles andere hatte zu.“
Was genau die beiden Männer in den Stunden nach 2 Uhr getan haben, lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Zunächst, sagen Stammgäste aus dem Columbus, seien beide in eine benachbarte Spielothek gegangen, erst danach in die Kneipe. Einer der beiden Männer soll ein Trikot der italienischen Nationalmannschaft getragen haben, eines jener blauen Hemden, auf denen für jeden der vier Weltmeistertitel der „Azzuri“ ein Stern prangt. Die Stimmung muss zunächst gut gewesen sein im Columbus, Nachbarn hören, wie drinnen Fußballlieder gesungen werden. Franco sei begeisterter Fußballfan gewesen, Giuseppe nicht so sehr, heißt es. Dann aber, so teilt es auch die Polizei offiziell mit, kommt es zum Streit zwischen den italienischen Köchen und Holger B.. Die Männer diskutieren über Fußball, irgendwann diskutieren sie nicht mehr, sie streiten sich. Glaubt man all das, kann man sich vorstellen, dass der deutsche Gast auf das frühe Ausscheiden der Italiener bei der WM in Südafrika zu sprechen gekommen ist. Jedenfalls verweisen Franco S. und Giuseppe L. Zeugen zufolge auf die vier Sterne auf dem italienischen Trikot – einen mehr, als die deutsche Elf hat. „Die beiden sind keine Streithähne, keine aggressiven Leute“, sagt der Kollege aus dem Little Italy. „Sie werden Scherze gemacht haben, vielleicht haben sie ihn ein bisschen hochgenommen.“
Wenig später kündigt Holger B. an, er müsse Geld holen, und verlässt die Kneipe. Da, so berichten es Augenzeugen, hat sich die zuvor aufgeheizte Stimmung längst wieder beruhigt. Eine Stunde später aber kehrt der 42-Jährige zurück. Er fordert die beiden Männer auf, mit ihm vor die Tür zu gehen, um den Streit dort auszutragen. Das aber lehnen Franco S. und Giuseppe L. ab. Der Freund im Little Italy hebt die rechte Hand, als er erzählt, was er gehört hat. „Franco war ein kleiner Mann, ein Hänfling“, sagt er, macht eine Faust und streckt zur Demonstration den kleinen Finger ab. „Der konnte niemandem etwas zuleide tun.“ Giuseppe sei schon eher jemand gewesen, der sich wehren konnte. Aber nicht an diesem Morgen im Columbus. Da hat Giuseppe keine Chance.
„Plötzlich steht der Holger in der Tür, will wieder mit den Italienern Streit anfangen“, erzählt eine Zeugin, die sich Marion nennt. „Als der eine aufsteht, zieht Holger die Pistole und ruft: ‚Hier hast du deine vier Sterne’ und drückt dann ab.“ Der Schuss gilt Giuseppe L.. Die Wirtin duckt sich hinter den Tresen, auch die anderen Gäste werfen sich auf den Boden. Franco S., so berichtet es die Zeugin, kniet sich vor Holger B. hin und fleht um sein Leben. Doch B. schießt wieder, offenbar zweimal. Woher er die Waffe hat, ist unklar, die Polizei findet sie später in der Nähe des Columbus. „Danach bin ich nur irgendwie raus und um mein Leben gelaufen“, sagt Marion. Sie sucht Zuflucht nebenan im Kiosk von Onur Kahtaoglu. Der hat kurz zuvor „drei laute Geräusche“ gehört. Jetzt kann er sich einen Reim darauf machen. Wenig später macht unter den Mitarbeitern des Little Italy die Nachricht die Runde, einer ihrer Kollegen sei erschossen worden. Der Chef telefoniert seine Mitarbeiter ab, nicht jeder hat sein Handy an. Es dauert, bis er Gewissheit hat. Das Restaurant bleibt an diesem Tag geschlossen – das Columbus macht abends wieder auf.
Im Little Italy klingelt am Nachmittag das Telefon im Minutentakt. Freunde rufen an, Verwandte, wollen wissen, was ist, oder einfach Trost. Der Kollege redet auf Italienisch auf sie ein, beruhigend, meistens.
Dann klingelt das Telefon erneut. Er hört kurz zu. „Er ist tot“, sagt er dann, und es klingt bestimmt. „Er ist tot.“
Tobias Morchner und Felix Harbart