Von Dinu Gautier
Courant abnormal (Samstag)
Die Kleine Schanze, ein Park unweit des Bundeshauses, am Samstagnachmittag: Ein paar Lieferwagen rasen in den Park, hektisch wird Material entladen, bevor die Polizei reagieren kann. Eine Stunde später ist ein Zeltdorf errichtet. Dazwischen tummeln sich vergnügt etwa 300 Menschen. Zuvor haben in der Innenstadt Tausende gegen Rassismus und Ausgrenzung demonstriert.
Die BesetzerInnen sind gekommen, um zu bleiben. Um im Park zu bleiben, zumindest für eine Woche, und vor allem um in der Schweiz zu bleiben, unbefristet und legal. «Bleiberecht für alle», so die Forderung. Oder wie es auf einem Transparent beim Eingang des Zeltdorfes heisst: «Papiere für alle oder überhaupt keine Papiere für niemanden».
Die Mehrheit der Anwesenden sind UnterstützerInnen mit Papieren, und um die drei Dutzend direkt Betroffene sind da. Die meisten von ihnen haben vergebens Asyl beantragt und erhalten nur minimale Nothilfe, wie über 5000 Personen in der Schweiz. Laut Schätzungen leben hierzulande insgesamt 100 000 bis 300 000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Dass man es nicht genauer weiss, liegt am gesellschaftlichen Schatten, in dem sie sich bewegen. «Heute kommen wir ans Licht», sagt einer übers Mikrofon.
Reto Nause, der Sicherheitsdirektor der Stadt Bern, erscheint und sagt: «Wir tolerieren den Anlass bis Montagmorgen. Dann muss hier wieder Courant normal herrschen, wegen der Menschen, die um den Park herum arbeiten.»
Was den Courant normal sprengt, ist bedrohlich für die einen, ein Fest für die anderen. Die Kleine Schanze wird zu einer Oase der Ausgelassenheit. Ein sanfter Rausch macht sich breit. Für kurze Zeit scheint alles möglich zu sein.
«Aus, was grad nid ids raschter passt, wird rasch erfasst und verfrachtet i knast», reimt Steff la Cheffe, die bekannte Rapperin, bei ihrem spontanen Auftritt. Der Knast: Für einen Moment ist er weit weg. Das Bier geht aus, die Stimmung bleibt ausgelassen.
Die Angst vor den Stiefeln (Sonntag)
Am nächsten Morgen eine erste Versammlung im Plenum: Es gibt viel zu diskutieren, viel zu übersetzen. Deutsch, Französisch, Englisch, Farsi. Wie kann Druck aufgesetzt werden gegenüber den Behörden, wie werden Illegale evakuiert, wenn die Polizei kommt? Wie lange will man bleiben? Die Versammlung dauert eine gefühlte Ewigkeit.
Etwas abseits sitzen Saidou aus Gambia und Lamine aus Guinea-Bissau. Normalerweise wohnen sie in den Bergen, am Brünig, in einem sogenannten Nothilfezentrum. Dort gibt es Matratzen und Essen. Sonst nichts. Lamine: «Du kannst nirgends hingehen, den ganzen Tag sitzst du nur herum.» Saidou: «Das macht dich krank im Kopf.» Die jungen Männer wirken matt, ausgelaugt, schüchtern. Sie sagen: «Es ist nicht menschlich, wie wir behandelt werden.» Es tönt nicht anklagend, mehr wie eine nüchterne Feststellung. Saidou: «Wir wollen hier mit dem Camp das Recht einfordern, legal leben zu dürfen.» Illegal leben, das ist für ihn kein abstrakter Tatbestand, sondern ein allgegenwärtiges Problem im Alltag: «Ohne Geld kannst du nur schwarzfahren, du wirst ständig gezwungen, das Recht zu brechen.»
Illegale, die in eine Polizeikontrolle geraten, können für bis zu zwei Jahre in Ausschaffungshaft landen. Und sei es nur – falls eine Ausschaffung nicht möglich ist –, um wieder in Freiheit entlassen zu werden, in eine Freiheit, in der an jeder Ecke die nächste Polizeikontrolle droht.
Berhanu Tesfaye ist abgewiesener Asylbewerber aus Äthiopien, ein Intellektueller mit ansteckendem Lachen. Der Mann verbringt die Tage in Bibliotheken, abends geht es zurück in den Nothilfebunker. «Du liegst in deinem Bett. Hörst du schwere Tritte im Gang, kommt die Angst. Es sind die Stiefel der Polizisten», sagt Berhanu.
«Nicht nur der Lärm der Stiefel sollte uns Angst machen, sondern auch die Stille der Pantoffeln», sagt Graziella de Coulon, die seit zehn Jahren mit MigrantInnen gegen Ausgrenzung kämpft. Mit den stillen Pantoffeln meint sie die «Gleichgültigkeit der Massen».
Am Nachmittag ziehen etwa hundert CamperInnen auf den Bahnhofplatz, in den Händen Ballone, man singt: «O la la, o le le, solidarité avec les sans-papiers». Wer die PassantInnen beobachtet, der kann die Stille der Pantoffeln spüren: Gesichter, die sich automatisch, fast roboterhaft von der kleinen Demo abwenden. Kein Interesse, keine Emotionen. Ein keifender älterer Mann gibt rassistische Sprüche von sich. Immerhin zeigt er irgendein Gefühl.
Obacht, Rechtsstaat (Montag)
Am Montagmorgen ein Blick in die Zeitungen: Noch ist der Protest kein grosses Thema. Dafür hat Iwan Städler, Redaktor beim «Tages-Anzeiger», einen Artikel und einen Kommentar mit dem Titel «Der Rechtsstaat macht sich zum Gespött» geschrieben. Sorgt sich Städler um die Tatsache, dass es in diesem Land zahlreiche Menschen gibt, die sich weder legal hier aufhalten noch legal ausreisen dürfen (und ihnen somit übrig bleibt, sich in Luft aufzulösen)? Weit gefehlt: Iwan Städler hat in Erfahrung gebracht, dass es Papierlose gibt, die einen AHV-Ausweis haben. Dass die Sozialversicherung diese Menschen nicht beim Bundesamt für Migration verpfeift, findet er unerhört. Städler hat bei der zuständigen Bundesrätin interveniert. Missbrauch! Neue Gesetze! Nach ganz unten treten! Eine zentrale Frage bleibt unbeantwortet: Wieso soll es den Bürger empören, wenn Sans-Papiers AHV-Beiträge einzahlen, ohne zu wissen, ob sie im Gegenzug eine Rente erhalten werden?
Im Protestcamp erzählt die 41-jährige Kamerunerin Aurelie von ihren Erfahrungen. Seit zehn Jahren lebt sie in Lausanne. Als 2008 das neue Asylgesetz in Kraft trat, sollte sie ihre Wohnung verlassen und in ein Nothilfezentrum ziehen. Aurelie hat sich erfolgreich dagegen gewehrt. Heute erhält sie für sich und ihren 17-jährigen Sohn – einen Gymnasiasten – neben der Miete gerade einmal 570 Franken pro Monat. «Ich habe zwei Hände, zwei Beine, zwei Ohren, intellektuelle Kapazitäten – aber ich darf sie nicht nutzen», so die Akademikerin. «Und die Behörden haben die Frechheit mir vorzuwerfen, ich sei nicht integriert.»
Im Camp wimmelt es jetzt von JournalistInnen. Und es gibt überraschenden Besuch: Alard du Bois-Reymond, Direktor des Bundesamtes für Migration, erscheint, «weil ich die Anliegen der Demonstranten verstehen möchte». In die Kamera des Schweizer Fernsehens sagt er: «Unsere Politik ist nicht einfach nur rassistisch.» Kurze Zeit später ist er wieder weg. Sein Amt verkündet am selben Tag, dass die nach dem Tod eines Ausschaffungshäftlings sistierten Ausschaffungsflüge wieder aufgenommen werden (vgl. Text «Es war falsch, den Mann so auszuschaffen»).
Die Stadtberner Regierung will das Protestcamp nun bis am Freitagmorgen tolerieren. Die BesetzerInnen feiern das als Erfolg. Bürgerliche Parteien sehen darob nicht nur die Parkordnung, sondern den ganzen Rechtsstaat in Gefahr.
Fragt man im Camp nach einer Zwischenbilanz, so fällt sie durchzogen aus. Der Guineer Sadou Bah sagt: «Es sind nicht genug Betroffene da.» Viele würden sich nicht hertrauen. «Und dann gibt es viele, die einfach nicht daran glauben, dass sich die Situation ändern lässt», so der Mann, der selber Nothilfe bezieht und an zwei Tagen in der Woche an der Autonomen Schule in Zürich Deutsch unterrichtet.
Die Flüchtlinge übernehmen (Dienstag)
Die Kunde von der Tolerierung des Camps hat sich schnell verbreitet, allein am Mittag kommen dreissig abgewiesene Flüchtlinge aus Fribourg und Lausanne im Camp an. Die direkt Betroffenen sind jetzt in der Mehrheit, die Versammlungen prägen sie deutlich stärker als noch vor zwei Tagen.
Graziella de Coulon, die Aktivistin aus dem Kanton Waadt, sagt: «Es ist unheimlich wichtig, subversiv zu agieren, durch Ungehorsam klar Position zu beziehen.» Im Kanton Waadt gebe es eine lange Tradition, gemeinsam mit Flüchtlingen zu kämpfen, was sich immer wieder ausbezahle. 2006 konnte so die Legalisierung von über 500 Menschen erreicht werden. «Der Protest hier könnte durchaus der Anfang einer Widerstandstradition auf gesamtschweizerischer Ebene sein», sagt de Coulon.