„Bäume zu besetzen ist kein harmloses Spiel"

Erstveröffentlicht: 
29.06.2010

„Bäume zu besetzen ist kein harmloses Spiel"

 

Interview. Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf über die Radikalisierung des Protestes gegen Stuttgart 21 , über die Pläne der Parkschützer und Gegenstrategien der Ordnungshüter.

Es hat seit Jahrzehnten kein Thema gegeben, das die Stuttgarter Bevölkerung so umtreibt und so spaltet wie Stuttgart 21. Der Protest gegen das Milliardenprojekt ist überaus friedlich - und doch haben sich zuletzt Vorkommnisse jenseits der Legalität gehäuft. Da wurden Ticketautomaten der Bahn im Namen der Stuttgart-21-Gegner beschädigt, wurde der Eingang zum Kommunikationsbüro des Verkehrskonzerns verklebt, wurden die Briefkästen der Werbeagentur demoliert, die das Milliardenprojekt der Bevölkerung vermitteln soll. Und am Wochenende nun mussten die Ordnungshüter im Schlossgarten eine kleine Zeltstadt räumen, die rund 100 Menschen aus Protest gegen den geplanten Tiefbahnhof aufgebaut hatten.

Herr Stumpf, wie beurteilen Sie die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 ?

Ich beobachte mit einem gewissen Unbehagen, dass die Emotionalisierung deutlich zugenommen hat - allein schon durch die Sprache. Stuttgart 21 wird bei manchen zu einer regelrechten Glaubensfrage.

Die Entscheidung des Bundesverkehrsministers, auf den Fildern eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, wird von den S-21-Gegnern als „kriminell" bezeichnet. Der Ministerpräsident will Randalierer „gnadenlos" verfolgt haben. Bereiten solche Worte den Boden für eine weitere Radikalisierung?

Wir sollten nicht unterschätzen, was Sprache bewirkt. Und da kommt beiden Seiten - Befürwortern wie Gegnern - eine große Verantwortung zu. Mit beiden sind wir intensiv im Gespräch. Festzuhalten ist aber, dass der Widerstand zu ganz großen Teilen aus politisch-gesellschaftlich engagierten Bürgern besteht, die von dem im Grundgesetz garantierten Recht auf Demonstration Gebrauch machen und nichts mit gewaltbereiten Autonomen zu tun haben wollen.

Das heißt, dass Sie keine Ausschreitungen befürchten wie jüngst bei einer Demo gegen Kürzungen der Bundesregierung, als sogar Flaschen geflogen sind? Oder besteht auch bei Stuttgart 21 die Gefahr, dass der Protest von außen radikalisiert wird?

Um es klar zu sagen: solche Hinweise haben wir bis jetzt nicht, aber man muss eine solche Entwicklung mit ins Kalkül ziehen. In Stuttgart und der Region gibt es rund 200 Personen, die der bundesweit aktiven gewaltbereiten autonomen Bewegung zugerechnet werden können. Da gibt es im Zeitalter des Internets und der mobilen Kommunikation einen viel höheren Mobilisierungsgrad als früher.

Wie kann ein Veranstalter sich denn gegen die Autonomen schützen?

Indem er vorurteilsfrei mit der Polizei zusammenarbeitet. Ich verhehle nicht eine gewisse Sorge, dass wir als Ordnungshüter da in schwierige Situationen kommen . . .

. . . zumal dann, wenn im Herbst im Schlossgarten Bäume fallen oder mit dem Abriss der Seitenflügel des Hauptbahnhofes begonnen wird. Wie weit wollen Sie den zivilen Ungehorsam von Bürgern tolerieren?

Da haben wir keinen Ermessensspielraum. Ziviler Ungehorsam ist kein harmloses Abenteuer, kein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Ziviler Ungehorsam hat zur Folge, dass die Polizei einschreiten muss. Da geht es im juristischen Sinn um Straftaten - und das ist vielen Leuten nicht klar.

Ziviler Ungehorsam hat in der Bevölkerung aber einen hohen Sympathiewert.

Das weiß ich wohl. Da wird dann immer an Mahatma Gandhi erinnert oder an Martin Luther King. Doch solche Vergleiche sind meiner Meinung nach sehr schief. In beiden Fällen ging es darum, objektives Unrecht oder gar ein Unrechtsregime zu bekämpfen. Stuttgart 21 aber wurde von demokratisch legitimierten Gremien mit jeweils breiten politischen Mehrheiten beschlossen und auch durch mehrere Gerichtsverfahren bestätigt.

Wie wird die Polizei gegen die Parkschützer vorgehen, die sich an Bäume ketten wollen, um die Abholzung zu verhindern?

Wenn sich die Menschen an Bäume ketten, die gefällt werden sollen, dann kann das Nötigung sein - beispielsweise gegenüber beauftragten Firmen und deren Mitarbeitern, die gehindert werden, ihre Arbeit zu tun. Insofern ist ziviler Ungehorsam auch nicht gewaltfrei, wie immer behauptet wird. Es gibt durchaus auch eine Form der psychischen Gewalt, die in solchen Fällen von Demonstranten ausgeübt wird. Aufgabe der Polizei ist es deshalb, diese Menschen von den Bäumen abzuketten und wegzutragen, was für die Beamten allerdings sehr unangenehm ist.

Die Parkschützer trainieren ja bereits das Anketten und sich gegenseitig Festhalten. Trainiert die Polizei ihr Vorgehen ebenfalls?

Wir bereiten uns vor - wie wir polizeitaktisch, aber auch technisch vorgehen, um jemanden vom Baum zu lösen.

Das ist eine heikle Aufgabe, oder?

Das ist gewiss. Und in der Tat wird es vonseiten der Polizei darauf ankommen, einen maßvollen Weg zu finden. Aber da bin ich sehr zuversichtlich. In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir viele gesellschaftlich brisante Themen, bei denen immer wieder auch die Polizei gefordert war - sei es die Zeit des Terrorismus, der Friedensbewegung oder der Kurdenfrage. Und ich meine, wir haben da immer einen vernünftigen Weg gefunden, der zur liberalen Stuttgarter Stadtgesellschaft passt. Wichtig ist, dass man in so einen Einsatz keine Hektik reinbringt.

Müssen wir mit einem Massenaufgebot an Polizei rechnen?

Wir müssen sicherlich mit der nötigen Personalstärke auftreten. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die Polizei hinter den Demonstranten her rennen muss, dann kommt es mit Sicherheit zu unschönen Szenen.

Mit welchen Szenarien rechnen Sie denn?

Erstens damit, dass es zu Ankettaktionen kommen könnte und zu Baumbesetzungen. Zweitens denken wir, dass es eine Alarmierungskette der Protestierenden geben wird, so dass sie in größerer Zahl erscheinen. Und drittens wurde von den Stuttgart-21-Gegnern schon angekündigt, Lastwagen oder Baumaschinen zu blockieren.

Wie viele Demonstranten werden auflaufen?

Da tue ich mich schwer. Aber die Zahl der Menschen, die sich im Internet als Baumschützer eingetragen haben, ist enorm. Und ich kenne aus den letzten Jahrzehnten keinen bürgerlichen Protest, der über so viele kluge Leute, so viel Kreativität und Organisationstalent verfügte.

Also muss sich kein Stuttgarter vor Bildern wie einst bei der Startbahn West fürchten?

Ich bin gegen solche Vergleiche, das heizt nur unnötig die Emotionen an und radikalisiert den Protest noch weiter. Vor allem darf man die Stuttgart-21-Gegner nicht im Vorfeld kriminalisieren. Und man muss berücksichtigen, dass die Baustelle für den neuen Hauptbahnhof direkt im Zentrum liegt, da bringt jeder große Polizeieinsatz eine Innenstadt durcheinander.

Sie rechnen demnach nicht mit dem Einsatz von Wasserwerfern oder Tränengas?

Tränengas haben wir zwar noch, aber vom Einsatz solcher Mittel halte ich gar nichts - auch weil das einen starken symbolischen Charakter hat und uns keine Sympathien einbringen würde. Und unseren Wasserwerfer haben wir Ende der 1970er Jahre aussortiert. Seitdem gibt es nur noch welche bei der Bereitschaftspolizei, die müssten wir anfordern. Wasser haben wir übrigens zuletzt Anfang der 1970er Jahre aus Feuerwehrschläuchen verspritzt vor der Halle 6 bei einem Rockkonzert am Killesberg. Dort hatten sich die Massen an den Kassen schier zu Tode gedrückt.

Wie geht die Polizei generell bei Demonstrationen vor, wenn es zu Gewalttaten kommt?

Da helfen nur klassische polizeiliche Mittel: mit starkem Personaleinsatz die Rädelsführer festnehmen und über das Polizeigesetz so lange in Haft zu behalten, bis wieder Ruhe ist. Auch Autonomen gefällt es nicht, wenn sie 24 Stunden in einer Massenzelle sitzen, ihre Personalien aufgenommen und sie erkennungsdienstlich behandelt werden. Was ich aber befürchte, ist eine Solidarisierung der bürgerlichen Demonstranten gegen die Polizei, weil so ein Vorgehen sehr robust wirkt.

Inwieweit stimmen Sie sich mit der Bahn AG als Bauherrin ab? Sind Sie über den Zeitplan der einzelnen Bauabschnitte informiert?

Wir sind mit der Bahn im Gespräch, weil wir natürlich auch wissen wollen, wie der Abriss vor sich geht und wann Bäume gefällt werden. Diese Arbeiten werden sich über Monate ziehen. Wir stellen uns also auf einen Dauereinsatz ein, aber mit wechselnder Intensität. Der Protest gegen Stuttgart 21 kann meiner Meinung nach noch bis zu zwei Jahre lang anhalten.

Wie wollen Sie das personell bewältigen? Bekommen Sie zusätzliche Mitarbeiter?

Klar ist, dass das Polizeipräsidium Stuttgart die Aufgabe nicht allein schultern kann. Für solche Einsätze brauchen wir die Unterstützung der Bereitschaftspolizei. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir in Baden-Württemberg genügend Polizisten haben - man muss sie für die Zukunft zeitgemäß strukturieren und organisieren. Den einfachen Ruf nach mehr Personal mache ich jedenfalls nicht mit.

Die Sicherheit ist aus der Warte der Bevölkerung ein überaus hohes Gut!

Die Gleichung „mehr Polizei ist gleich mehr Sicherheit" - die stimmt ja bei genauer Betrachtung nicht. Da spielen andere Faktoren wie etwa Bildung und Wohlstand eine genauso wichtige Rolle.

Stuttgart 21 ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung - offenkundig auch für die Polizei. Können Sie denn die Vorbehalte der Gegner gegen das Bauprojekt eigentlich verstehen?

Wenn die alten Bäume gefällt werden, natürlich. Ich habe lange in Stuttgart gewohnt. Vor kurzem bin ich mit meiner Frau durch den Schlossgarten gegangen, man verbindet persönliche Erinnerungen mit dem Ort: das sind Bäume, die schon zu Zeiten Mörikes gestanden sind. Aber man muss die Bedeutung des Gesamtprojekts bewerten.

Das Gespräch haben Susanne Janssen und Achim Wörner geführt.