[HH/G20] Brief eines G20-Gefangenen aus der JVA Billwerder

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Brief des Mitstreiters Riccardo, eingesperrt in der JVA Billwerder, Hamburg ‘Guard Gohlosh impersonated the most hideous wickedness: the wickedness at the service of the powerful of the Earth. A wickedness that could be converted to money. It didn’t belong to him any longer. He had sold it to more competent individuals who used it to enslave and mortify an entire miserable people. He was no longer master of his own wickedness. He had to guide it and direct it according to certain rules whose atrocity hadn’t changed much.’
 (Albert Cossery – Men God Forgot – 1994, free translation by act for freedom now)

 

Momentan befinde ich mich im Knast von Billwerder, in Hamburg. Ich wurde am Freitag, den 7. Juli um 19:30 in der Nähe der Roten Flora festgenommen.


Mir wird unter anderem vorgeworfen, den Staat beleidigt und die öffentliche Sicherheit gefährdet zu haben. Ausserdem wird mir vorgeworfen, aktiver Teil einer fünfzehnköpfigen Gruppe gewesen zu sein, die versucht haben soll, einen Bullen einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit angegriffen zu haben.


Ich verweigere die Dichotomie von „Schuld“ und „Unschuld“, die uns der juristische Apparat des Staates auferlegt.


Was ich sagen möchte ist, dass ich stolz und glücklich bin, während der Revolte gegen den G20 in Hamburg gewesen zu sein. Die Freude der persönlichen Erfahrung des Zusammenkommens so vieler Menschen jeden Alters und aus aller Welt, die sich noch nicht der totalen Logik des Geldes und der kapitalistischen Welt unterworfen haben, kann keine Form der Gefangenschaft bezwingen. In einer historischen Epoche, in welcher der Kapitalismus versucht, den finalen Schritt zu seiner absoluten Stabilisierung umzusetzen, in konstanter Oszillation zwischen innerem Krieg (Sondergesetze, Grenzschließungen, Abschiebungen) und äusserem Krieg (Massaker, Zerstörung und Vergiftung des Planeten Erde), zeigte die Revolte gegen den G20, was denjenigen, die immernoch etwas auf die Freiheit geben, am wichtigsten ist:


Die Möglichkeit ihrer Realisierung.


Die technologische, physische und taktische Effizienz der deutschen Polizei war ebenso beeindruckend und monströs wie nutzlos dafür, das Bedürfnis zum Kämpfen zunächst zu neutralisieren und dann zu unterdrücken - Kämpfe gegen die absurde, katastrophale globale Gesellschaft, für die die zwanzig lächerlichen Staatsoberhäupter so miserabel dastanden, in einer Festung im Herzen der Stadt.


Die Resignierten und Reformist_innen können sehr wohl sagen, dass Hamburg, im Anbetracht der Entwicklungen der Kräfteverhältnisse der letzten Jahre, ein weiteres Massenexperiment zur Stabilisierung des Apparats der internationalen Sicherheit war. Das ist im übrigen das gleiche, das Leute nach Genua 2001 behauptet haben.


Die Rebell_innen und Revolutionär_innen interessieren sich jedoch nicht für die Verschwörungen der Politik, sondern für ihre eigenen Gefühle und Projekte. So oder so kann gesagt werden, dass wenn es ein Experiment gab, dieses ein völliges Desaster war. In den Straßen Hamburgs habe ich unkontrollierte Freiheit geatmet, aktive Solidarität, die Entschlossenheit, die tödliche Ordnung, die uns von einigen Reichen und Mächtigen auferlegt wird, grundsätzlich Abzulehnen.


Keine endlosen Reihen von Autos und orchestrierte Prozessionen, die die unterdrückerische, mörderische Liturgie des kapitalistischen Alltags zementieren. Keine verschwommenen Massen, gezwungen, für den Reichtum eines widerlichen Chefs zu schwitzen und zu buckeln. Keine tausenden, abwesenden Augenpaare, gerichtet auf irgendein aseptisches Display, das unser Erfahren des täglichen Lebens verzerrt und entfremdet.


Ich sah Individuen, die in den Himmel blickten und versuchten, ihn zu greifen.
Ich sah Frauen und Männer, die ihrer Kreativität und ihren unterdrücktesten Träumen Gestalt gaben.
Ich sah die Energie eines jeden der versuchte, anderen eine Hand zu reichen und sich nicht über andere zu erheben.
Ich sah den Schweiß auf der Stirn derer, die ihre eigenen Wünsche zu erfüllen suchten und nicht die ihrer Peiniger. Im Moment der Revolte ist niemand wirklich alleine.


Eine kräftige Umarmung an alle Mitstreiter_innen, all die Rebell_innen, die der deutsche Staat eingesperrt hat. Leidenschaftliche Grüße an Anna, Marco, Valentina, Sandrone, Danilo, Nicola und Alfredo, an die Mitstreiter_innen, denen im Rahmen der „Operation Scripta Manent“ in Italien der Prozess gemacht wird. An die Revolutionär_innen und Rebell_innen in den Knästen auf der ganzen Welt… Ein Kuss an Juan, wo auch immer du sein magst.. wo auch immer du bist, du bist immer mit uns!


So lange ich lebe: immer gegen die Autorität! Immer mit dem Kopf oben! Lang lebe die antikapitalistische Internationale!
Für Carlo! Für Alexis! Für Remi! Für Freiheit!
Riccardo
JVA Billwerder, Hamburg, 20. Juli 2017


Schreibt Riccardo:
RICCARDO LUPANO


09/06/1985


JVA BILLWERDER


DWEERLANDWEG 100


22113 HAMBURG – GERMANY

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Sei gegrüßt,

 

Ich wünsche Dir und allen anderen Inhaftierten die baldige Freilassung.

 

Leider muss ich Dir an dem Punkt widersprechen der lautet: "Die Rebell_innen und Revolutionär_innen interessieren sich jedoch nicht für die Verschwörungen der Politik, sondern für ihre eigenen Gefühle und Projekte."

Abgesehen das ich diese Bezeichung von Rebell_innen und Revolutionär_innen etwas weit hergeholt halte, so haben diese sich nicht (egozentristisch) für ihre eigenen Gefühle und Projekte zu interessieren, sondern für die Aller "Nada todos todo, para nosotros nada". Und auch die Verschwörungen der Politik haben zu interessieren. Man/frau sollte die Strategien des Feindes nicht unberücksichtigt lassen.

 

Alles Gute.

Das muss heißen "Para todos todo, para nosotros nada". Stammt von der EZLN.

Riccardo würde sich sicher freuen, mit dir über deine Kritik zu diskutieren.

Dafür wirst du ihm aber einen Brief schreiben, Internetzugang gibts in Billwerder nicht.

Hier ist z.B. eine gute Gelegenheit:

 

Solidarität mit den Gefangenen der G20 Revolte!
- offenes Gefangenenbriefe schreiben und Austausch in der anarchistischen Bibliothek "Die Sturmflut"

Aktuell gibt es noch 36 Menschen die seit der G20 Revolte in U-Haft sitzen. Wir wollen uns treffen, um uns auszutauschen und gemeinsam Briefe und Postkarten zu schreiben. Bringt gerne Materialien und Snacks mit.

Setzen wir ihrer Repression unsere Solidarität entgegen und brechen die Isolation der Gefangenen!

 Mi 26.07. 18 Uhr in der anarchistischen Bibliothek "Die Sturmflut" im LiZ (Libertäres Zentrum, Karolienenstraße 21, Hinterhof, U2-Messehallen)"

Wisst ihr ob absehbar ist, wie lange Riccardo (und ggfalls andere, die Post bekommen wollen) noch inhaftiert bleiben? Also stehen Gerichtstermine oder ähnliches an?!

Hier eine Übersetzung eines schon etwas älteren, aber lesenswerten Briefes von Maria, die ebenfalls noch in der JVA Billwerder sitzt.

 

Schreibt ihr:

MARIA ROCCO
JVA Billwerder
Dweerlandweg n° 100
22113 Hamburg
Germany

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Freitag, 14. Juli 2017

 

Heute vor 2 Jahrhunderten wurde die Bastille vom Volk gestürmt.
Heute errichten diejenigen, die die Erstürmung der Bastille als Gründungsdatum moderner Demokratien feiern, überall neue Festungen. Niemand sollte hier drin sein müssen. Nie wieder. Es ist zu viel für eine einzelne Person. Ob es Minderjährige sind, schwangere Frauen oder Frauen, die eigentlich in einem Krankenhaus sein müssten - alle in den gleichen grauen Anzügen...


Ich weiß, dass ihr alles Mögliche versucht, um mich hier herauszuholen und ich danke euch dafür. Es tut mir leid, dass ihr euch Gedanken, Sorgen machen müsst.
Ich habe hier euer Telegramm und in Wirklichkeit hatte ich gehofft, heute herauszukommen und euch laut und herzlich zu danken! Im Gegensatz dazu bin ich weiterhin hier, der Einspruch [gegen meine Haft] wurde nicht akzeptiert. Aber in dem Moment, wenn ihr diesen Brief erhalten werdet, wisst ihr das ja bereits.


Wir waren zu fünft in dieser Situation gewesen, alle  Arm in Arm. Die beiden Deutschen sind Mittwoch rausgekommen, heute ist die Venezolanerin entlassen worden - aber nur auf Kaution von 10.000 €, ja zehn Tausend!
Hier drin bleiben ich und eine Kurdin. Sie ist sehr stark - immer positiv, und das, obwohl zwei ihrer Brüder in Kurdistan gefallen sind.
Das einzig Schöne hier sind die Beziehungen, die wir knüpfen. Alle sind so freundlich, altruistisch. Alle sind jederzeit bereit, dich zu umarmen.
Was alles andere betrifft, habe ich kaum noch Illusionen...  Einmal ließen sie uns zu dritt aus den Zellen, angeblich, um mit unseren AnwältInnen reden zu können - in Wirklichkeit wollten sie nur unsere DNA.


Ich muss hier an sich immer mit dem Schlimmsten rechnen, obwohl das überhaupt nicht meine Art ist. Das erste Gefängnis, in das sie uns gebracht hatten, war ein Fertigbau mit 10qm kleinen Kammern. Wir waren darin für zwei Tage zu fünft, ohne alles, kein Fenster, wir mussten um alles bitten, auch darum, etwas zu Trinken zu bekommen und darum, aufs Klo gehen zu können - natürlich nur unter Aufsicht. Fast ohne Essen. Hier ist es jetzt ein wenig besser - ich habe zumindest ein Bett und ein Bad. Ihr wisst ja schon, dass ich hier nur sitze, weil ich kurz zurückblieb, um einer Verletzten zu helfen, deren Bein "zerbrochen" war - im wahrsten Sinne, der Knochen war zu sehen, der Fuß war "nur" zur Hälfte getroffen worden... Ich glaube, diesen Anblick werde ich nie wieder vergessen. Genauso wenig wie den der Polizei, die sie mit bloßen Händen schlug.


Und ich konnte mir nicht ausmalen, hier gelandet zu sein, dafür, dass ich nichts gemacht habe. Obwohl ja alle hier drin wegen nichts sitzen. Wegen Diebstahl vor allem. Leute, schreibt etwas über das, was passiert ist, bitte! Schweigt nicht. Wenn ihr wollt, veröffentlicht das, was ich euch schreibe.


Ich weiß wiederum nichts von Fabio, ich hatte ihm geschrieben, aber er hat nicht geantwortet. Er müsste im gleichen Knast sein wie ich. Wenn ihr Infos zu ihm habt, schreibt mir das und schreibt mir überhaupt!


Wenn ihr mir eine Briefmarke rein tun könnt, kann ich antworten. Ich werde bis mindestens Mittwoch hier ausharren müssen. Danach - ich weiß es nicht. Ich wünsche euch ganz viel Gutes, euch allen. Eine Umarmung, ich hoffe, bald zurück zu kommen.
Maria

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Maria weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Fabio im Jugendknast Hanöfersand festgehalten wird, dreißig Kilometer außerhalb von Hamburg, dass es ihm gut geht und dass er gut mit den anderen dort klarkommt.
Auch seiner Entlassung nach Zahlung einer Kaution auf Vorschlag des Gerichts wurde von der Staatsanwaltschaft Hamburg ebenso wenig zugestimmt, wie der von Maria.
Sie weiß auch nicht, dass im Gegensatz zu Fabio jedoch Alessandro, Orazio, Emiliano und Riccardo zusammen im Männertrakt ihres Gefängnisses, also der JVA Billwerder sitzen, die letzten beiden sind Zellennachbarn.

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hier das Original und mehr Infos auf Italienisch:

 

http://www.radiondadurto.org/2017/07/26/g20-amburgo-ancora-35-persone-in...

 

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Bisher sind die Einsprüche gegen die Untersuchungshaft alle von der Staatsanwaltschaft Hamburg abgelehnt worden...