Der Polizeieinsatz beim G-20-Gipfel war gefährlicher als bislang bekannt, zeigt die Sondersitzung des Innenausschusses. Dabei wirkte die „Welcome to Hell“-Demo wie eine Triebfeder für den Exzess.
Von Denis Fengler
Dass die Nachbereitung des G-20-Einsatzes ein Kraftakt wird, daran ließ bereits die Sondersitzung des Innenausschusses keinen Zweifel. Acht Stunden, bis nach Mitternacht, stellten sich Innensenator Andy Grote (SPD) und die Polizeiführung den Fragen der Abgeordneten. Und es hätte wohl noch länger gedauert, hätte sich die Opposition, abzüglich der AfD, nicht der Fragerunde entzogen. Doch auch so zeichnete sich das Bild eines Einsatzes, der deutlich schwieriger und gefährlicher war, als bislang bekannt. Die Zahl der militanten Gipfelgegner wird mittlerweile auf mindestens 5000 geschätzt, 1500 sollen aus dem Ausland gekommen sein. 23.000 Polizisten waren im Einsatz, fast 600 wurden verletzt.
Mehrfach war die Strategie der Polizei nicht aufgegangen, traten unerwartete Situationen ein – ungeachtet der sonst zutreffenden Lageeinschätzungen: Dass Randalierer am Freitagmorgen marodierend durch Altona zogen, abseits aller benannten Ziele der Gipfelgegner, hatte die Polizei ebenso überrascht, wie die Tatsache, dass sie sich am Abend ins Schanzenviertel zurückziehen würden.
Überrascht wurde die Polizei auch von der Dimension der Gewaltbereitschaft und der Zerstörungswut der Gipfelgegner. Wer dieser Gegner war, darüber ist auch zwei Wochen nach dem Gipfel wenig bekannt, wie die Polizei am Mittwochabend eingestehen musste und auf die Erkenntnisse der Soko „Schwarzer Block“ hofft. Klar ist nur: Die militanten Gipfelgegner waren sehr gut organisiert, brachten eine Straßenkämpfermentalität mit, kommunizierten teils über Funk, setzten massiv Wechselkleidung ein und nutzten wie die Polizei eigene Aufklärer.
Die Bilder von brennenden Autos entlang der Elbchaussee und geplünderten Geschäften in der Sternschanze lassen sich nicht auf Einzelereignisse reduzieren. Die Ausschreitungen zum Ende der „Welcome to Hell“-Demo auf der St. Pauli Hafenstraße am Donnerstagabend wirkten wie eine Triebfeder für eine Welle militanter Proteste, die die Stadt darauf überspülte, und die Polizei bis einschließlich Sonntag in Atem hielt. Viele Polizei-Einheiten kamen in diesen vier Tagen kaum zum Schlafen.
Ein Übersicht über die entscheidenden Situationen des Gipfels und den Erkenntnissen aus dem Innenausschuss:
Donnerstagabend: „Welcome to Hell“-Demo
Den größten Schwarzen Block aller zeiten wollten Rote Flora-Aktivist Andreas Blechschmidt und der Szenenwalt Andreas Beuth auf die St. Pauli Hafenstraße bringen – und hatten dann die Kontrolle über die Geister verloren, die sie gerufen hatten. Der größte Teil der knapp 1500 Schwarzgekleideten hatten sich vermummt – entgegen der Absprachen, sagt die Polizei. Holzlatten seien verteilt worden. Es gab Erkenntnisse über Waffendepots entlang der Strecke. Eine Eskalation spätestens auf der Reeperbahn befürchteten nicht nur die Polizei, sondern wohl auch Beuth und Blechschmidt, die laut Bereitschaftspolizei-Chef Joachim Ferk die seitliche Begleitung des Aufzugs durch Polizeikräfte sowie weitere starke Kräfte entlang der Strecke befürworteten. Ein Novum.
Außer Kontrolle geriet die Situation, als die Polizei versuchte, den Schwarzen Block zu separieren. Der flüchtete daraufhin teils auf die Flutschutzmauer und griff die Polizei von oben und der Straße an. Laut Polizei war die ihnen entgegenschlagende Gewalt massiver als noch vor drei Jahren, als eine Flora-Demo auf dem Schulterblatt eskalierte. Während sich ein Teil der Demonstranten neu organisierte, strömten randalierende Gruppen auf den Kiez, lieferten sich bis in den Freitagmorgen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Vor dem Haus von Innensenator Grote wurden Personenschützer angegriffen, die sich in einen Wagen retteten.
Freitagmorgen: Marodierende Gruppen in Altona
Abseits angekündigter Störaktionen im Hafen und der Konvoi-Zone, wurde die Polizei von Randalierern in Altona überrascht. Unklar ist, um wie viele Gruppen es sich handelte und welchen Weg sie gingen. Die Polizei zog ihre Kräfte im Hafen und am Flughafen ab, kam jedoch zu spät, konnte die marodierenden Gruppen nicht aufhalten. Nach den bis in die frühen Morgenstunden andauernden Auseinandersetzungen waren viele Einheiten nach kurzer Pause direkt in den neuen Einsatztag und noch heftigere Auseinandersetzungen gegangen, weshalb die Bundesreserve der Bundespolizei und bundesweit Einheiten nachfordert wurden.
Gewalt sei insbesondere von Bewohnern des Volkspark-Camps ausgegangen, hieß es. Als Beispiel führt die Polizei einen Vorfall am Rondenbarg an, wo 200 Personen eine Polizeieinheit angriffen. Es gab zahlreiche Verletzte. 59 Personen wurden überwältigt, darunter auch Halil S., Aktivist des linksextremen Roten Aufbaus und Anmelder des Camps. Sie hatten Waffen, Pyrotechnik, Steine, Wechselkleidung und lange Stahlkabel bei sich. Die Polizei geht davon aus, dass die Seile über Straßen, etwa das Schulterblatt, gespannt werden sollten, um die Polizei aufzuhalten. Aktuell sitzen auch nach Haftprüfungsterminen noch zehn der Angreifer in U-Haft. In der Innenstadt wurde die Polizei den Vormittag über von mindestens acht teils militanten Gruppen, insgesamt 1500 Personen, unter Druck gesetzt. An der Kersten-Miles-Brücke setzte eine bedrängte Einheit einen Notruf ab. Am Bahnhof Altona zogen Bundespolizisten Waffen, als sie in ihren Wagen angegriffen wurden.
Freitagabend: Das Schanzenviertel außer Kontrolle
Dass das Viertel frei von Randale bleiben würde, wie in den letzten Jahren auch, war eine der entscheidenden Fehleinschätzungen. Hielt sich die Polizei am frühen Abend noch bewusst zurück, um keine Auseinandersetzung zu provozieren, „wir wollte keine zusätzliche Lage schaffen“, wurde sie wenig später überrascht, als sie nicht mehr in das Viertel hinein kam, das von paramilitärisch organisierten Gruppen kurzum zur „Festung“ ausgebaut worden war. Selbst auf Demo-Lagen spezialisierte Einheiten konnten sich nur noch mit Not aus Seitenstraßen retten, in denen sie angegriffen wurden. Personen standen auf zahlreichen Dächern, wie neue Aufnahmen aus Hubschrauberkameras zeigen. Angesichts der bis dahin sichergestellten Waffen und der Erkenntnisse aus dem Viertel ging die Polizei von einem Hinterhalt aus. Nach der Remonstration bayerischer Einheiten blieb nur der Einsatz von Spezialeinheiten.
Bis zu 115 Beamte und der Panzerwagen „Survivor“ wurden laut SEK-Einsatzleiter Michael Zorn zur Bereinigung von neun Wohnhäusern eingesetzt, mehr als bislang bekannt: Die österreichischen Cobra, das sächsische und das Hamburger SEK, aber auch die zur Terrorabwehr ausgebildete BFEplus der Bundespolizei, die die Fahrzeuge bewachte. Die Einheiten stießen bis zum Schulterblatt 15 vor. Bis auf die 13 Ingewahrsamnahmen im Haus am Schulterblatt 1, unter anderem von vier Russen ohne deutschen Wohnsitz, wurden keine Personen „gefangen“ genommen, nur eine Gruppe Demo-Sanitäter überrascht, was die Polizei mit der „präventiven Wirkung“ des SEK begründete.
Auch die SEK-Einheiten seien von Dächern angegriffen und beworfen worden. Daraufhin sei die Dachkante mit Gummigeschossen beschossen und Verdächtige mit dem Ziellaser erfasst worden, sagte Zorn. Und resümierte: Der Einsatz des SEK sei richtig gewesen, man sei nur „um Haaresbreite an einer sehr, sehr schwerwiegenden Eskalation der Lage vorbeigeschrammt“.