Mindestens ein Hoden

Erstveröffentlicht: 
21.06.2010

Was es braucht, um in Hessen Polizist zu werden: Der Fall des Bewerbers Thomas Dahner*, der an einer eigentümlichen Vorschrift scheiterte. Jetzt soll das Bundesverfassungsgericht klären: Machen erst die richtigen Hormone einen Mann diensttauglich?

Jedes Mal wenn Thomas Dahner (Name von der Redaktion geändert) eine Polizeistreife vorbeifahren sieht, zuckt er innerlich kurz zusammen. Nicht weil er sich vor Polizisten so fürchtet, sondern weil er brennend gern selbst einer wäre. Weil er es fast geschafft hätte. Weil er auf dem besten Wege war, ein hessischer Polizist zu werden. Wenn nicht ein Polizeiarzt plötzlich die Leistungsfähigkeit von Dahners Hoden zur Schicksalsfrage gemacht hätte, an der sein ganzer Berufstraum scheitern sollte. Eine absurde Geschichte aus der hessischen Realität, für Dahner eine bis heute nicht wieder gut gemachte Ungerechtigkeit und bald vielleicht sogar ein ernsthafter Streitfall für das Bundesverfassungsgericht.

Dahner kann es bis heute nicht begreifen. Wenn er irgendwo Polizisten sieht, regt er sich auf. Längst könnte er in diesem Auto sitzen, könnte er diese Uniform tragen, könnte er in Hessen für Recht und Ordnung sorgen. "Mich könnte man sofort losschicken", sagt Dahner. "Wahrscheinlich wäre ich sogar besser als die anderen." Die Voraussetzungen hat er längst erfüllt und an der Polizeischule Wiesbaden unter Beweis gestellt: Er kann sehr lange tauchen und behände klettern, ausdauernd schwimmen und schnell rennen, er kann präzise schießen, beherrscht mehrere Kampfsportarten, weiß, wie man Personen beschützt, Gebäude bewacht und kennt viele einschlägige Rechtsvorschriften auswendig.

Als Dahner 2005 Polizist werden will, hat er sich bereits intensiv auf die Prüfungen vorbereitet. Er weiß: Das Auswahlverfahren für Polizeianwärter zieht sich tagelang hin. Dahner muss im Wendelauf hin und her rennen, die Ausbilder stoppen die Zeit. Beweglichkeit und Kraft werden getestet, er muss Rollenspiele und Intelligenztests absolvieren. Er legt Bescheinigungen der DLRG vor, wie lange er die Luft anhalten kann, Atteste von Augenärzten über seine Sehschärfe, er stemmt Gewichte und besteht im Weitsprung. Das Land Hessen will nur die Leistungsfähigsten im Polizeidienst haben. 1000 Punkte kann man erreichen, Dahner gibt alles, bekommt mehr als 900, gehört damit zu den Besten des Jahrgangs.

Seit langen Jahren der Normalzustand

Die Auswahlkommission gratuliert ihm, seine Einstellung in den Polizeidienst sei damit sicher. Nur eine Formalität fehle noch, die Untersuchung beim Polizeiarzt. Dahner geht wohlgemut zu dem Termin. Doch Polizeimediziner L. entgleisen nach der Untersuchung die Gesichtszüge, wie sich Dahner erinnert. "Er sagte, das ginge nicht, das hätte ich ihm gleich sagen müssen."

15 Jahre vor seiner Polizeibewerbung hatte Dahner eine operative Geschlechtsangleichung machen lassen, war körperlich und auch rechtlich von einer Frau zu einem Mann geworden. Er nimmt seitdem Hormone, hat eine tiefe Stimme, eine Glatze und einen künstlichen Penis. Für Dahner seit langen Jahren der Normalzustand.

Doch als der Polizeiarzt realisiert, dass er es mit einem transsexuellen Bewerber zu tun hat, beginnt er hektisch in seinem Vorschriftenbuch zu blättern. Dahner erinnert sich noch genau an die befremdliche Szene: Der Arzt erklärt ihm, ein männlicher Polizist in Deutschland müsse funktionstüchtige Hoden haben. Dahner antwortet: "Das habe ich aber noch nie gehabt." Wie das denn mit den Hormonen sei, will der Arzt wissen.

Er spritze sich Testosteron und habe seit 15 Jahren keine gesundheitlichen Probleme, antwortet Dahner. Doch der Arzt lässt nicht locker. Da könne es doch zu Schwankungen kommen, da könne man doch aggressiv werden, oder? Nein, er lebe seit vielen Jahren ohne Beschwerden, sagt Dahner. "Aber Sie können doch nicht ohne funktionsfähige Hoden als Polizist nach Afghanistan", spekuliert der Mediziner. "Stellen Sie sich vor, Sie liegen da in Afghanistan und ihr Testosteron geht ihnen aus, da werden Sie doch aggressiv!" Bislang habe er sein Hormon immer bekommen, sagt Dahner und erinnert den Arzt daran, dass auch Frauen zu Verhütungszwecken dauerhaft Hormone nehmen, zeigt ihm endokrinologische Gutachten seines Facharztes - doch es hilft alles nichts.

"Er hatte Angst", sagt Dahner heute im Rückblick. "Ich wollte sie ihm nehmen, aber er blätterte hilflos in seinem Buch." Schließlich habe Polizeimediziner L. in seinem Buch eine Stelle gefunden und aus den Vorschriften zur ärztlichen Beurteilung der Polizeidiensttauglichkeit doziert: "Wenigstens ein Hoden soll hormonell funktionsfähig sei." Und weiter: Der "Verlust oder diesem gleichzusetzender Schwund beider Hoden" gehöre zu den "Fehlern, die eine Einstellung ausschließen." So steht es in der "Polizeidienstverordnung 300", gültig seit 1998 für Bund und Länder.

Dahner wird als untauglich für den Polizeidienst abgelehnt, ist sich aber keines Fehlers bewusst. Weder hat er seine Hoden verloren, noch sind sie ihm durch Schwund abhanden gekommen - er hatte nie welche. 15 Jahre nach seiner Geschlechtsanpassung hat er sich korrekt als männlicher Polizist beworben. Nun wird ihm zum Vorwurf gemacht, was er nie beeinflussen konnte: Dass er keine Hoden hat, die Hormon produzieren. Selbst die Auswahlkommission der Polizeischule versteht nach der Entscheidung des Arztes die Welt nicht mehr. Ob Dahner etwa ein Hakenkreuz auf sein Gesäß tätowiert habe, das bei der Untersuchung aufgefallen sei, fragt einer. So etwas komme manchmal vor, da könne man natürlich nicht zur Polizei. Nein, sagt Dahner, es geht um die Hoden. Deshalb darf er nicht Polizist werden. Deshalb verklagt Dahner das Land Hessen.

"Das ist eine Diskriminierung wegen des Geschlechts", sagt Dahners Anwalt Oliver Tolmein. "Wenn er eine Frau geblieben wäre, hätte er Polizistin werden können." Falls die absurde Hoden-Vorschrift Bestand haben sollte, könnten Transsexuelle in Hessen nie Polizisten werden, so der Anwalt, der den Streitfall jetzt vor das Bundesverfassungsgericht gebracht hat. "Dieser Fall zeigt, dass die Polizei weit davon entfernt ist, Verschiedenheit anzuerkennen", sagt Tolmein. "Es gibt dort ein sehr enges Spektrum davon, was als normal akzeptiert wird". Dabei gebe es in vielen Bundesländern bereits transsexuelle Polizisten - allerdings hätten diese ihre Geschlechtsangleichung gemacht als sie bereits Beamte waren. In diesem Fall beschäftigen die Länder die Polizisten lieber weiter als sie kostspielig in den Ruhestand zu versetzen.

"Keine negativen Auswirkungen festzustellen"

Dahner sucht nach der Ablehnung die juristische Auseinandersetzung mit dem Land Hessen. Er legt dem Gericht ärztliche Gutachten vor, die beweisen, dass sein Hormonspiegel normal ist. Es seien "keine negativen Auswirkungen der Hormontherapie festzustellen", bescheinigt ein Gutachter. Der endokrinologische Verlauf sei "komplikationslos". Deshalb sei hier eine "Polizeidienstfähigkeit im Alltag gegeben". Doch die Polizei hält dagegen.

Die Behörde lässt andere Gutachter vor Gericht ausführlich über die potenzielle Gefährlichkeit oder Verletzlichkeit von Dahners Penisprothese räsonieren - allerdings am Beispiel eines völlig anderen Falles, eines "hydraulisch penilen Prothesensystems", das Dahner nie hatte. "Ich wusste gar nicht, was das mit mir zu tun hatte", sagt Dahner. Das ganze Gerede über seine angeblich labile Gesundheit. "Ich war nie krank", sagt er. Hilft in Hessen aber nichts.

Vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt geht es ausufernd um die angeblich "erhöhte Verletzlichkeit" von Dahners Penis im Gegensatz zu "den natürlichen Verhältnissen im männlichen Penis". Zeichnungen und Pumpenmodelle werden den Richtern vorgeführt - für Dahner ist es ein Alptraum. Es komme ihm so vor als ob "das Vorhandensein eines nicht-operativ hergestellten Penis" in Hessen "schon eine entscheidende berufliche Anforderung" an Polizisten sei, sagt Dahner. Seine Klage wird abgewiesen.

Es liege im Ermessensspielraum des Landes, den Bewerber abzulehnen, begründeten die Richter. Dies sei zwar eine Diskriminierung wegen des Geschlechts, diese sei jedoch "gerechtfertigt", weil sie folgendem übergeordnetem Ziel diene: "Der Sicherstellung eines funktionierenden Polizeivollzugsdienstes durch den Ausschluss von solchen Bewerbern, die durch eine künstliche Hormonversorgung Stimmungsschwankungen unterliegen und dadurch Gefahr liefen, den besonderen Anforderungen dieses Dienstes nicht gerecht zu werden."

Die Berufung gegen dieses Urteil wurde nicht zugelassen. Für die Polizei sei der Fall damit abgeschlossen, sagt der Sprecher der Hessischen Bereitschaftspolizei, Peter Freier. Bewerber Dahner sei "aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt" worden. "Das ist wie bei jedem anderen körperlichen Gebrechen", so Freier, etwa "bei Bänderrissen im Knie". Wer Polizist werden wolle, müsse eben eine Verlässlichkeit vorweisen, "auch eine hormonelle Verlässlichkeit".

Eine Diskriminierung Transsexueller erkennt der Polizeisprecher nicht. Die Polizeidienstverordnung werde "laufend fortgeschrieben nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen." Polizeiarzt L. wollte zu dem Fall keine Stellungnahme abgeben.

Der Diskriminierung Grenzen setzen

Dahners Anwalt Tolmein hat nun Verfassungsbeschwerde eingelegt. Aus seiner Sicht hat das Land nicht ernsthaft geprüft, ob sein Mandant "polizeidiensttauglich" ist, sondern nur Gründe gesucht, um einen transsexuellen Menschen nicht in den Dienst aufzunehmen. Es geht ihm aber auch um Grundsätzliches. Er will der Diskriminierung Grenzen setzen, will Grundrechte durchsetzen. Tolmein will mit seinem bis heute gesunden und sportlichen Mandanten die deutsche Polizeivorschrift "wer keine Hoden hat, darf kein Polizist werden" kippen.

Und Dahner will immer noch zur Polizei. Er gibt den Traum nicht auf. "In meinem Freundeskreis kann keiner meine Polizei-Begeisterung verstehen", sagt er. "Ich bin damit völlig alleine." Ihn fasziniert die mentale Wachsamkeit, die man als Polizist benötigt, die Körperspannung, das Beherrschen von Waffen, die Disziplin. "Die Menschen verstehen es einfach nicht, wenn man sich umorientieren möchte" sagt Dahner. Und wenn eine Polizeistreife vorbeifährt, dann schmerzt es ihn.