G20 und die Ausschreitungen in Hamburg - Die Stunde der Diskurs-Chaoten

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Erstveröffentlicht: 
10.07.2017

Die Ausschreitungen waren gefährlich, überflüssig und idiotisch. Aber eines waren sie mit Sicherheit nicht: so schlimm wie rechter Terror.

 

Es funktioniert jedes Mal: Es knallt nach einer Demo, und alle Maßstäbe verrutschen. Und zwar restlos. Das Chaos, das die Randalierer mit ihren brennenden Barrikaden anrichten, es beherrscht nicht nur die Straße, sondern befällt auch die Köpfe und von da aus die Kommentarspalten, Talkshows, Parlamentsdebatten und Redaktionen.

 

Die Bilder aus Hamburg waren, wie Bilder von Ausschreitungen sind: dramatisch, beängstigend, spektakulär. Wer sie aus der Ferne sieht, denkt an Bürgerkrieg. Tatsächlich spielte sich die von maximal 500 Beteiligten betriebene Randale im Wesentlichen an einer einzigen Ecke, über eine etwa 400 Meter lange Strecke, ab. Direkt daneben saßen Hunderte völlig ungerührt in den Bars und Cafés.

 

Das angeblich komplett dem Mob überlassene und von diesem in Schutt und Asche gelegte Hamburg sah an genau dieser Stelle am nächsten Tag aus, als ob nichts geschehen wäre – und zwar schon bevor der als „G20-Helden“ gefeierte Bürgerputztrupp mit Besen und Anti-Graffiti-Schaum am Sonntag anrückte.

 

Die Ausschreitungen am Freitag waren völlig idiotisch, brutal, überflüssig, gefährlich. Eins waren sie unter Garantie nicht: „so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten“. Das war Kanzleramtsminister Peter Altmaier dazu eingefallen. Der Mann bekleidet eines der wichtigsten Ämter in diesem Staat, mit seiner Geschichte des NSU und den islamistischen Anschlägen mit vielen Toten der vergangenen Zeit.

 

SPD-Chef Martin Schulz spricht von „Mordbrennern“, Welt-Journalist Ulf Poschardt von „Faschisten“. Nach den Ausschreitungen schlägt die Stunde der Diskurs-Chaoten. Jan Fleischhauer vom Spiegel schreibt: „Wer am Samstag gegen G20 auf die Straße geht, solidarisiert sich mit dem Mob.“ So hätte er es gern. 

 

In Haftung genommen


Am Samstag waren 76.000 Menschen, die meisten mit redlichen Anliegen, unterwegs. Es flog kein Stein, keine Flasche. Doch sie alle und auch die, die Sitzblockaden organisierten und dabei niemandem ein Haar krümmten, werden in Haftung genommen. Von der „Katharsis“, die nun kommen müsse, ist die Rede.

 

Am Montag war dazu etwa zu hören, „die Linke“ habe 2001 in Genua „Glück gehabt“, dass der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde. So sei sie als moralischer Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgegangen und habe sich die Gewaltdiskussion ersparen können. In Hamburg aber habe die Polizei „besser agiert“, also niemanden erschossen. Jetzt ist die „Linke“ der moralische Verlierer und müsse die eigenen Reihen säubern.

Und wehe, jemand wagt es, noch über etwas anderes sprechen zu wollen.

 

 

Zum Beispiel darüber, dass Demonstranten in Hamburg geknüppelt, gepfeffert, auseinandergetrieben wurden, und zwar keineswegs nur da, wo es knallte. Oder darüber, dass auch Journalisten, Unbeteiligte und offenbar sogar eine Anwältin verprügelt wurden. Jeder, der dar­auf verweist, muss sich sofort für den Freitagabend rechtfertigen.

 

Oder über die Behauptung der Polizei, dass sie die Schanze nicht gleich zu Beginn der Krawalle räumen konnte. War es tatsächlich so? Es standen ein halbes Dutzend Wasserwerfer, dazu viele Räumpanzer bereit. Die Sache wäre erledigt gewesen. Genauso hatte sie es an den Abenden zuvor gehalten. Die Frage interessiert niemanden mehr.

 

Eine von denen, die die friedlichen Blockaden organisiert haben, war die Sprecherin der ­Interventionistischen Linken, Emily Laquer. Sie hat – auch in der taz – die Frage aufgeworfen, warum der strukturellen Gewalt – Hunger, Kriegen, Mittelmeertoten, Frauenmorden, Klimawandel, Umweltzerstörung – so erbärmlich wenig und der Gewalt des Mobs auf der Straße so überbordend viel Aufmerksamkeit beigemessen wird. Und damit hat sie recht. Die Reaktion auf die Ereignisse vom Freitagabend haben genau das gezeigt. Wieder einmal.