»Die Frau muss selbst bestimmen können«

Erstveröffentlicht: 
12.06.2017

Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz protestiert gegen den Marsch für das Leben

 

Am Montag, 12. Juni, findet in Annaberg-Buchholz der achte Schweigemarsch für das Leben statt. Die Teilnehmenden demonstrieren gegen Abtreibung und gegen Sterbehilfe. Begleitet wird der Marsch von Gegendemonstrationen. Die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gisela Notz plädiert nicht nur für eine Abschaffung des Strafgesetzbuch-Paragrafen zum Schwangerschaftsabbruch, sondern fordert auch ein allgemeines Umdenken weg vom klassischen Familienmodell mit Mutter, Vater und Kind.

 

kreuzer: Am 12.6. findet wieder einmal der »Marsch für das Leben« statt. Sie bewerben die Gegendemo. Warum?


GISELA NOTZ: Aufgerufen zum Marsch haben unter anderem der Verband Lebensrecht Sachsen und andere christlich-fundamentalistische Gruppen und Organisationen. Sie treten für ein »unbedingtes Lebensrecht ungeborener Kinder« ein. Das dürfen wir nicht unwidersprochen lassen. »Wir haben den Schöpfer des Lebens auf unserer Seite«, behaupten diejenigen, die jede Art von Abtreibung verbieten wollen. Nach der Rhetorik der selbsternannten »Lebensschützer« kann nur Gott alleine über Leben und Tod bestimmen, nicht der Mensch. Damit machen sie es sich einfach: Gott muss sich weder mit den Umständen noch den Folgen einer ungewollten Schwangerschaft auseinandersetzen.

 

kreuzer: Sie sprechen sich dafür aus, dass Schwangerschaftsabbruch legal wird. Warum sollte Abtreibung erlaubt sein?


NOTZ: Längst ist bekannt, dass wie immer geartete Strafen nicht zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen führen. Dies zeigen Beispiele aus Ländern mit restriktiver Gesetzgebung. Durch restriktive Gesetze fällt der Schwangerschaftsabbruch der Klassenjustiz anheim. Während sich vermögende Frauen eine medizinisch einwandfreie Abtreibung leisten können, wird sie für arme Frauen zum sozialen und gesundheitlichen Risiko. Weltweit sterben jährlich ca. 47.000 Frauen nach illegalisierten Abtreibungen. Die Niederlande haben eines der liberalsten Gesetze und eine der geringsten Abtreibungsquoten. Kanada hat überhaupt kein Abtreibungsgesetz und nicht mehr, sondern weniger Abtreibungen als europäische Länder.

 

kreuzer: Warum ist es so wichtig, dass der Paragraf 218 – der Strafgesetzbuch-Paragraf zum Schwangerschaftsabbruch – abgeschafft wird?


NOTZ: Der Paragraf 218 steht seit 1871 im Strafgesetzbuch. Er stellt die Abtreibung auch heute noch unter Strafe. Abtreibung ist in der BRD nur unter bestimmten Bedingungen legalisiert. Frauen können innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen nach einer Pflichtberatung und dreitägigen Bedenkzeit eine Abtreibung vornehmen lassen, wenn sie einen Beratungsschein erhalten und wenn sie einen Arzt finden, der den Eingriff vornimmt. Verpflichtende Beratung widerspricht den fachlichen Grundsätzen von psychosozialer Beratung. Die Frau muss selbst bestimmen können.

 

kreuzer: Sie kritisieren in Ihrem Buch den Familismus*. Bei dieser Theorie aus der Soziologie geht es um die Familie als Basis der Gesellschaft. Die Familie als Basis eines jeden – das klingt doch erst einmal gut. Warum ist Familismus ein Problem?


NOTZ: Mir geht es weniger um den theoretischen Begriff, sondern um die Wirkmächtigkeit der familistischen Ideologie. Familismus bedeutet die »Herrschaft der Familie«, das heißt der heterosexuellen, monogamen Kleinfamilie mit leiblichem Vater, Mutter und deren Kind oder Kindern vor allen anderen Lebensformen. Das grenzt alle Menschen aus, deren soziale Realität an dem ideologischen Gemälde vorbeigeht. Und das sind heute sehr viele Menschen, denn nur noch 20,3 Prozent der Haushalte entsprechen dieser Lebensform.

 

kreuzer: Wie hängt die Theorie mit der Bewegung der Neuen Rechten zusammen?

 

NOTZ: Die Forderung nach Aufrechterhaltung des Familismus verbindet die AfD mit der antimuslimisch-rassistischen Pegida-Bewegung und mit den selbsternannten »Lebensschützern«. Hauptrednerin bei dem Schweigemarsch für das Leben in Annaberg-Buchholz wird die Koordinatorin der »Demo für alle«, Hedwig Freifrau von Beverfoerde sein. Sie tritt für den Schutz von Ehe und Familie ein, so wie ich sie eben beschrieben habe.

 

kreuzer: Die Teilnehmerzahlen der Märsche für das Leben wachsen …


NOTZ: Das sollten wir ernst nehmen. Oft werden selbsternannte Lebensschützer als extremistische Spinner oder nicht ernst zu nehmende »Wirrköpfe« bezeichnet. Das ist fatal, denn so werden sie rechts liegen gelassen und Gegenwehr unterbleibt. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und machen Stimmung gegen emanzipatorische Vorstellungen Andersdenkender.

 

kreuzer: Was müsste geschehen?


NOTZ: Das Engagement gegen den Abbau emanzipatorischer Errungenschaften sollte Potenziale für feministische Gegenwehr zusammenführen. Notwendig werden breite Bündnisse zur Organisierung von Protest und Widerstand gegen die »Lebensschutzbewegung« und gegen »neue Rechte« – europaweit und weltweit. Es geht um die selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen ein ungewolltes Kind und um freie Zusammenschlüsse unter freien Menschen ohne Unterdrückung und Gewalt.

 

* Ihre Kritik beschreibt Notz in ihrem Buch:
Gisela Notz: Kritik des Familismus: Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2015. 222 S., 10 €.

INTERVIEW: THERESA HELLWIG