Ein Buch mit dem Titel „Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen“ entzweit den Freistaat – und zeigt, wie Sachsen mit Kritikern umgeht.
Als alles vorbei und Daniel Bahrmann wieder zu Hause ist, umgeben von Freunden und Unterstützern, atmet er tief durch und sagt doch noch etwas. „In mir ist so viel Wut, dass wir so hängengelassen werden“, sagt er, und es ist zu spüren, dass jetzt mal alles rausmuss. In wenigen Minuten redet sich Bahrmann von der Seele, was sich in den vergangenen Wochen angestaut hat. Seine riesengroße Enttäuschung, wie die Stadt Meißen ihm und seinen Mitstreitern in den Rücken gefallen ist. Er kann das gar nicht verstehen, zumal, auch das betont er, man acht Jahre lang mit dieser Stadtverwaltung „eine Superzusammenarbeit“ hatte. „Und jetzt wird da so reingegrätscht.“ Bahrmann kann es einfach nicht fassen. „Es ist ja geradezu so, als wären wir, als wäre das Buch der Verbrecher. Und nicht die verwerflichen Taten.“
Bahrmann ist ein junger Fotograf und Mitorganisator des Literaturfestes Meißen, das sich offiziell „Deutschlands größtes eintrittsfreies Open-Air-Festival“ nennt und nun, im achten Jahr seines Bestehens, erstmals auch deutschlandweit bekannt ist. Auf den Anlass dafür hätte Bahrmann freilich gern verzichtet, denn es geht um Streit – den Streit um den im Frühjahr im Christoph-Links-Verlag erschienenen Sammelband „Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen“. In diesem hatten sich 40 Autoren, darunter auch der Autor dieser Zeilen, mit dem Zustand der Demokratie in Sachsen auseinandergesetzt. Bahrmann sagt, beim Literaturfest gehe es nicht vorrangig um Politik, man sei aber auch nicht unpolitisch. Und da das Buch mehrfach auch von Meißen handele, seien sie auf die Idee einer Lesung mit anschließender Podiumsdiskussion im großen Ratssaal der Stadt gekommen.
„Dieser Dreck wird mit Sicherheit nicht in unserem Rathaus gelesen“, äußerte daraufhin Jörg Schlechte, ein CDU-Stadtrat, und entfachte sehr lauten und bisweilen noch unflätigeren Protest bei jenen, die jede kritische Beschäftigung mit Sachsen als Nestbeschmutzung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Freistaats auffassen. Eine CDU-Landtagsabgeordnete griff die Veranstalter direkt an und warf ihnen Meinungsmache vor, ungetrübt von der Tatsache, dass ihr Parteifreund, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, in dessen Wahlkreis Meißen liegt, Schirmherr des Festes ist. Der Tenor vieler lautete, wenn schon nicht das Buch, dann wenigstens die Lesung zu verbieten. Ein Widerspruch des Stadtrates oder ein klarer Satz des Oberbürgermeisters blieben aus. Stattdessen zerstritt sich der Stadtrat, und der (parteilose) Oberbürgermeister tauchte ab – allerdings nicht ohne die Benutzerordnung für den Ratssaal zu hinterlassen, wonach politische Diskussionen dort nicht zulässig seien.
Das war insofern interessant, als in dem Saal regelmäßig der Stadtrat tagt, es dort auch Podien vor Wahlen gibt und Diskussionen der Landeszentrale für politische Bildung. Darauf hingewiesen, hieß es aus der Stadtverwaltung, dass Fragen aus dem Publikum zwar erlaubt, aber eine Diskussion nicht zulässig sei. Immer mehr wirkte der Fall wie eine Bestätigung der auch im Buch kritisierten Zustände. „Für uns war das wie Zensur“, sagt Bahrmann. Statt die ehrenamtlichen Organisatoren zu unterstützen, wich der Oberbürgermeister zurück – und das ausgerechnet in einer Stadt, in der eine „Initiative Heimatschutz“ gegen Flüchtlinge agitiert, die Rückzugsgebiet von Pegida-Organisatoren ist und in der „Reichsbürger“ Polizei spielen.
Probleme? Lieber nicht positionieren!
Fehlende Haltung und mangelnde Unterstützung der Zivilgesellschaft mögen in Meißen besonders eklatant sein, sie sind aber ein Beispiel für die Lage in vielen Klein- und Mittelstädten des Landes, deren politisch Verantwortliche oft so handeln, wie es ihnen die Landesregierung vorlebt. Nämlich: sich zu Problemen lieber nicht zu positionieren, im Zweifel nichts zu sagen und schon gar nicht darüber zu diskutieren.
Die Literaturfest-Macher wollten das nicht akzeptieren. „Wenn wir als Bürger grundsätzlich und speziell zum Literaturfest auf den Anspruch verzichten würden, uns im Rathaus offen zu artikulieren, so wäre das doch ein fatales Zeichen“, schrieben sie. „Abgesehen davon, dass uns dann im nächsten Jahr womöglich die öffentlichen Plätze strittig gemacht würden, weil dort jemandem irgendein Veranstaltungsinhalt nicht passt.“
In der Lesung am Donnerstagabend sitzt auch Ingolf Brumm. Der Bauunternehmer kennt das, was die Organisatoren erleben, nur zu gut. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren steckten zwei Männer ein von ihm frisch saniertes Mietshaus in Brand, kurz bevor dort Flüchtlinge einziehen sollten. Als Brumm zum Tatort fuhr, sah er Flammen aus den Fenstern schlagen und Menschen davor jubeln. Für ihn, der in Meißen geboren ist und in der Stadt 75 Menschen Arbeit gibt, war klar, dass er nicht weichen wird. Er sagte öffentlich, dass er das Haus wieder aufbauen wird, woraufhin seine Mitarbeiter, seine Familie und er selbst massiv bedroht wurden. Vermeintliche Freunde wandten sich ab, Kunden stornierten Aufträge. „Zuspruch“, sagt Brumm, „haben wir nur von sehr wenigen und nicht in der Öffentlichkeit bekommen.“
Die Drohungen hätten zwar nachgelassen, aber Brumm vermisst bis heute einen offenen Umgang mit der Tat. Ein Vier-Augen-Gespräch beim Oberbürgermeister hat er als „ernüchternd“ in Erinnerung. Wenn er nicht öffentlich über den Brandanschlag geredet hätte, wäre alles nicht so schlimm gekommen, sei ihm dort gesagt worden, und überhaupt solle er nicht so einen Wirbel machen. „Das hat mir die Augen geöffnet, warum die Dinge hier so sind, wie sie sind“, sagt Brumm, den die Tat bis heute auch finanziell belastet. Er hat das Haus ein zweites Mal saniert, heute leben sieben Flüchtlingsfamilien darin. Die Brandstifter, zwei bis dahin nicht vorbestrafte Meißner Familienväter, wurden zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt, und auch den Schaden, eine hohe sechsstellige Summe, müssen sie wohl ihr Leben lang abbezahlen.
Die Tat ist ein Beispiel dafür, wie der Hass Existenzen zerstört und das Klima einer Stadt vergiftet. Darüber sollte mindestens geredet werden dürfen, finden die Veranstalter, die schließlich zwischen den Texten auf dem Podium einzelne Fragen ansprechen und so zumindest einen kreativen Umgang mit dem Diskussionsverbot beweisen. Verleger Christoph Links, der den Abend moderiert, sagt, dass er „so eine eigenartige und absurde Situation“ noch nie erlebt habe, seit er seinen Verlag Ende 1989 in Ost-Berlin gründete. Gleichwohl nimmt er die Sache auch mit Humor. Aus der DDR sei man es gewohnt, beim Verbot politischer Diskussionen in private Räume auszuweichen. Auch diese Möglichkeit gibt es an diesem Abend, im Zuhause von Daniel Bahrmann.
Karl May als Provokation
Die Lesung selbst verläuft bis auf einige Protestrufe ohne Zwischenfälle. In der – von der Stadt erlaubten – Fragerunde ergreifen auch Bürger das Wort, die den Veranstaltern „Einseitigkeit“ und „Systempropaganda“ vorwerfen. Sie tun das jedoch in überwiegend zivilisiertem Ton. Die Mehrzahl der rund 300 Teilnehmer gibt sich eher weltoffen. Für Ingolf Brumm ist das eine völlig neue Erfahrung. „Es ist das erste Mal, dass ich in Meißen öffentlich so viel Zuspruch bekomme“, sagt er sichtlich gerührt nach der Veranstaltung.
Jörg Schlechte, der Auslöser des Aufruhrs, bekommt das schon nicht mehr mit, weil er zusammen mit Wortführern der rechtsradikalen Szene nach einer halben Stunde den Saal verlassen hat. Auch der Oberbürgermeister, der gleich mehrfach eingeladen war, bleibt der Veranstaltung „aus Termingründen“ fern. Die öffentliche Lesebühne des Literaturfestes auf dem Markt wollte er am Freitag aber unbedingt eröffnen. Daniel Bahrmann sagt am Donnerstag, dass er noch nicht wisse, wie er sich dazu verhalten wolle.
Unterdessen droht bereits am Sonntag abermals eine Provokation für manchen Meißner. Dann liest Thomas de Maizière auf der Marktbühne nämlich keine Eloge auf das Elbtal, sondern aus dem Orientzyklus von Karl May, und zwar die Stelle, in der Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar von Ägypten über das Rote Meer nach Arabien reisen.