Heimkinder „Betäubt ans Bett gefesselt“

Erstveröffentlicht: 
06.06.2017

Helfried Gareis spricht über den früheren Umgang mit hessischen Heimkindern, ihr Leid in den Kinderheimen der 50er, 60er und 70er Jahre - und die Konsequenzen.

 

Herr Gareis, durch das Bekanntwerden von Medikamententests an Heimkindern gibt es wieder eine Aufmerksamkeit für das Leid in den Kinderheimen der 50er, 60er und 70er Jahre. Wie verbreitet waren diese Tests?

 
Wahrscheinlich sehr verbreitet. Es ist aber schwer zu beweisen, da Behörden und Heimträger bewusst ungenügend dokumentiert haben.

 

Sie leiten eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Heimkinder in Frankfurt. Was haben diese Kinder erlebt?

 
Sie haben in der eigenen Familie Gewalt erlebt oder wurden aus nichtigen Anlässen als verwahrlost gebrandmarkt. Die Jugendämter verstanden sich als Jugendverfolgungsbehörde und betrieben ihre Strafverfolgung mit größter Menschenverachtung an der desinteressierten Justiz vorbei. Beleidigungen, Gewalt, Bildungsverweigerung, Kinderarbeit und Zwangsarbeit werden heute in den Selbsthilfegruppen beklagt, und auch der materielle Betrug, da die Arbeit nicht entlohnt wurde. Mir geht es darum, dass die Betroffenen die damaligen Zustände hinterfragen, um ihre Schuld- und Angstgefühle zu überwinden.

 

Was berichten die ehemaligen Heimkinder?

 
Ein Mann aus unserer Frankfurter Gruppe ist im Kinderheim Wolfsmünster, einem Heim der Stadt Frankfurt, mehrfach ans Bett gefesselt und mit Luminal regelrecht betäubt worden. Es gab die chemische Keule statt Heilpädagogik. Die hemmungslosen Bestrafungsorgien waren damals schon als Kindesmisshandlung erkannt. Die Idealisten waren in Wolfsmünster wie im gesamten Heimwesen der Nachkriegszeit eine stets bedrohte Minderheit. Der Betroffene kam mit neun Jahren in die Anstalt Hephata in Treysa. Er kann sich bis heute des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch dort Medikamententests gegeben hat. Lumbalpunktionen und angebliche Beruhigungstabletten auf Zeit für eine begrenzte Teilnehmerzahl von der Stationsgruppe sind jedenfalls starke Indizien. Die illegale Sedierung ohne medizinische Indikation war in den Heimen der Nachkriegszeit sehr verbreitet.

 

Sind nur Männer in der Selbsthilfegruppe oder auch Frauen?

 
Männer und Frauen. Von vielen Frauen hört man, dass sie Medikamente im frauenärztlichen Bereich bekommen haben. Sie mussten jede Woche hingehen, obwohl sie nicht krank waren. Sie glauben nicht, dass die Ärzte, die sie behandelt haben, wirklich Frauenärzte waren. Das gab es zum Beispiel im Haus Fuldatal, das dem Landeswohlfahrtsverband untersteht.

 

Wie alt sind die Menschen, die in der Selbsthilfegruppe zusammenkommen?

 
Von 58 bis 80 Jahre alt. Viele haben ihren eigenen Familien nie erzählt, was sie erlebt haben, und sprechen inzwischen offen über ihre traumatischen Erfahrungen.

 

Was tun sie in der Selbsthilfegruppe, um damit fertig zu werden?

 
In geschützten Räumen mit Geduld zuhören und das zerstörte Grundvertrauen mit gegenseitiger Anteilnahme zur Kenntnis nehmen.

 

Auch in Frankfurt soll es Tests mit Impfstoffen gegeben haben. Wissen Sie darüber etwas?

 
Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sofort sagen. Ich glaube, es gibt einige Mitarbeiter des Jugendamts, die das auch gerne wüssten.

 

Der Landtag hat eine Anhörung zu Medikamententests gemacht, an der Sie teilgenommen haben. Was müsste folgen?

 
Die Betroffenen und Verantwortlichen sollten zusammenkommen und unter Respekt vor den Opfern Fehler offen ansprechen, ohne einander zu verletzen.

 

So einen runden Tisch hat es auf Bundesebene ja auch gegeben.

 
Ja, aber am runden Tisch in Berlin spielten die Verantwortlichen Richter in eigener Sache und erklärten den Skandal als Ausfluss des Zeitgeistes, was aber grober Unfug ist. Die vorsätzliche Veruntreuung der Zukunftschancen und der materielle Betrug wurden als Thema systematisch unterdrückt.

 

Auch die Hilfszahlungen waren zu gering?

 
Es gab 10 000 Euro für einen Aufenthalt im Heim und 300 Euro pro Monat für unterschlagene Beiträge zur Rentenversicherung. Die Zahlungen sollten laut dem Endbericht „Hilfe in Anerkennung des Leids“ sein. Von einer Entschädigung kann bei diesem Skandal keine Rede sein. Hinter dieser Billiglösung zeigt sich eine Geringschätzung menschlichen Lebens besonders durch die kirchlichen Heimträger.

 

Sie wünschen sich also eine vom Landtag eingesetzte Kommission?

 
Ja, so eine Kommission wäre gut. Dabei sollte es nicht nur um die Schuld der Vergangenheit gehen, sondern vor allem um größtmögliche Sicherheit für die nächste Kindergeneration.

 

Eine Schwierigkeit bleibt: In der Anhörung hat sich gezeigt, dass für viele Vorgänge aus diesen Jahrzehnten die Akten fehlen.

 
Ja, das wird vielen gesagt, die ihre eigenen Akten sehen wollen. Dazu wird ihnen erklärt: Es sind keine Akten da. Ich halte das in den meisten Fällen für unglaubwürdig.

 

Gibt es nicht sogar eine Verpflichtung, solche Akten in der Regel nach Jahrzehnten zu vernichten?

 
Nein. Frankfurt hat zum Beispiel einen Vollbestand der Akten. Das Jugendamt Frankfurt erweist sich als Leuchtturm. Frankfurt ist vorbildlich, auch in der Betreuung und Begleitung der Betroffenen, die ihre Akten einsehen wollen.

 

Interview: Pitt von Bebenburg