Helfried Gareis spricht über den früheren Umgang mit hessischen Heimkindern, ihr Leid in den Kinderheimen der 50er, 60er und 70er Jahre - und die Konsequenzen.
Herr Gareis, durch das Bekanntwerden von Medikamententests an Heimkindern gibt es wieder eine Aufmerksamkeit für das Leid in den Kinderheimen der 50er, 60er und 70er Jahre. Wie verbreitet waren diese Tests?
Wahrscheinlich sehr verbreitet. Es ist aber schwer zu beweisen, da
Behörden und Heimträger bewusst ungenügend dokumentiert haben.
Sie leiten eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Heimkinder in Frankfurt. Was haben diese Kinder erlebt?
Sie haben in der eigenen Familie Gewalt erlebt oder wurden aus nichtigen
Anlässen als verwahrlost gebrandmarkt. Die Jugendämter verstanden sich
als Jugendverfolgungsbehörde und betrieben ihre Strafverfolgung mit
größter Menschenverachtung an der desinteressierten Justiz vorbei.
Beleidigungen, Gewalt, Bildungsverweigerung, Kinderarbeit und
Zwangsarbeit werden heute in den Selbsthilfegruppen beklagt, und auch
der materielle Betrug, da die Arbeit nicht entlohnt wurde. Mir geht es
darum, dass die Betroffenen die damaligen Zustände hinterfragen, um ihre
Schuld- und Angstgefühle zu überwinden.
Was berichten die ehemaligen Heimkinder?
Ein Mann aus unserer Frankfurter Gruppe ist im Kinderheim Wolfsmünster,
einem Heim der Stadt Frankfurt, mehrfach ans Bett gefesselt und mit
Luminal regelrecht betäubt worden. Es gab die chemische Keule statt
Heilpädagogik. Die hemmungslosen Bestrafungsorgien waren damals schon
als Kindesmisshandlung erkannt. Die Idealisten waren in Wolfsmünster wie
im gesamten Heimwesen der Nachkriegszeit eine stets bedrohte
Minderheit. Der Betroffene kam mit neun Jahren in die Anstalt Hephata in
Treysa. Er kann sich bis heute des Eindrucks nicht erwehren, dass es
auch dort Medikamententests gegeben hat. Lumbalpunktionen und angebliche
Beruhigungstabletten auf Zeit für eine begrenzte Teilnehmerzahl von der
Stationsgruppe sind jedenfalls starke Indizien. Die illegale Sedierung
ohne medizinische Indikation war in den Heimen der Nachkriegszeit sehr
verbreitet.
Sind nur Männer in der Selbsthilfegruppe oder auch Frauen?
Männer und Frauen. Von vielen Frauen hört man, dass sie Medikamente im
frauenärztlichen Bereich bekommen haben. Sie mussten jede Woche
hingehen, obwohl sie nicht krank waren. Sie glauben nicht, dass die
Ärzte, die sie behandelt haben, wirklich Frauenärzte waren. Das gab es
zum Beispiel im Haus Fuldatal, das dem Landeswohlfahrtsverband
untersteht.
Wie alt sind die Menschen, die in der Selbsthilfegruppe zusammenkommen?
Von 58 bis 80 Jahre alt. Viele haben ihren eigenen Familien nie erzählt,
was sie erlebt haben, und sprechen inzwischen offen über ihre
traumatischen Erfahrungen.
Was tun sie in der Selbsthilfegruppe, um damit fertig zu werden?
In geschützten Räumen mit Geduld zuhören und das zerstörte Grundvertrauen mit gegenseitiger Anteilnahme zur Kenntnis nehmen.
Auch in Frankfurt soll es Tests mit Impfstoffen gegeben haben. Wissen Sie darüber etwas?
Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sofort sagen. Ich glaube, es gibt
einige Mitarbeiter des Jugendamts, die das auch gerne wüssten.
Der Landtag hat eine Anhörung zu Medikamententests gemacht, an der Sie teilgenommen haben. Was müsste folgen?
Die Betroffenen und Verantwortlichen sollten zusammenkommen und unter
Respekt vor den Opfern Fehler offen ansprechen, ohne einander zu
verletzen.
So einen runden Tisch hat es auf Bundesebene ja auch gegeben.
Ja, aber am runden Tisch in Berlin spielten die Verantwortlichen Richter
in eigener Sache und erklärten den Skandal als Ausfluss des
Zeitgeistes, was aber grober Unfug ist. Die vorsätzliche Veruntreuung
der Zukunftschancen und der materielle Betrug wurden als Thema
systematisch unterdrückt.
Auch die Hilfszahlungen waren zu gering?
Es gab 10 000 Euro für einen Aufenthalt im Heim und 300 Euro pro Monat
für unterschlagene Beiträge zur Rentenversicherung. Die Zahlungen
sollten laut dem Endbericht „Hilfe in Anerkennung des Leids“ sein. Von
einer Entschädigung kann bei diesem Skandal keine Rede sein. Hinter
dieser Billiglösung zeigt sich eine Geringschätzung menschlichen Lebens
besonders durch die kirchlichen Heimträger.
Sie wünschen sich also eine vom Landtag eingesetzte Kommission?
Ja, so eine Kommission wäre gut. Dabei sollte es nicht nur um die Schuld
der Vergangenheit gehen, sondern vor allem um größtmögliche Sicherheit
für die nächste Kindergeneration.
Eine Schwierigkeit bleibt: In der Anhörung hat sich gezeigt, dass für viele Vorgänge aus diesen Jahrzehnten die Akten fehlen.
Ja, das wird vielen gesagt, die ihre eigenen Akten sehen wollen. Dazu
wird ihnen erklärt: Es sind keine Akten da. Ich halte das in den meisten
Fällen für unglaubwürdig.
Gibt es nicht sogar eine Verpflichtung, solche Akten in der Regel nach Jahrzehnten zu vernichten?
Nein. Frankfurt hat zum Beispiel einen Vollbestand der Akten. Das
Jugendamt Frankfurt erweist sich als Leuchtturm. Frankfurt ist
vorbildlich, auch in der Betreuung und Begleitung der Betroffenen, die
ihre Akten einsehen wollen.
Interview: Pitt von Bebenburg