Kritik nach Abschiebeversuch in Nürnberg - SPD fordert Aufklärung

Erstveröffentlicht: 
01.06.2017

Nach dem Polizeieinsatz an einer Nürnberger Berufsschule fordern SPD-Abgeordnete Aufklärung von Joachim Herrmann (CSU). Der Innenminister sei der Öffentlichkeit Antworten schuldig, sagte der mittelfränkische SPD-Politiker Horst Arnold dem BR. Die Lage in Nürnberg war gestern eskaliert. Als die Polizei einen Afghanen während des Unterrichts abholen wollten, kam es zu Tumulten, Verletzten und Festnahmen.

 

Der SPD-Politiker Arnold betont, er wolle unter anderem wissen, warum die Festnahme eines 20-jährigen Afghanen, der abgeschoben werden soll, während der Schulzeit durchgeführt wurde. Maßnahmen wie Abschiebungen dürften nicht in die Schulen hineingetragen werden, sagte Arnold dem Bayerischen Rundfunk. Warum habe die Schulleitung nichts dagegen unternommen oder versucht, deeskalierend zu wirken? Arnold und auch die SPD-Landtagsabgeordnete Alexandra Hiersemann verlangen außerdem eine Erklärung, warum bei dem Einsatz Pfefferspray verwendet wurde.

 

"Die Videobilder von dem Einsatz sind verstörend", sagte Arnold. "Ich bin sehr befremdet von dem, was da in und vor der Schule passiert ist. Der Innenminister ist uns und der Öffentlichkeit einige Antworten schuldig." Hiersemann sagte, sie sei "erschreckt" von den Vorfällen. 

 

Bis zu 300 Teilnehmer


Es beginnt am früheren Mittwoch Morgen: Die Polizei will den 20 Jahre alten Afghanen in einer Nürnberger Berufsschule während des Unterrichts abholen, er soll abgeschoben werden. Dessen Mitschüler wollen genau das verhindern. Sie setzen sich, wie die Polizei später berichtet, vor der Schule auf die Straße. Blockieren die Abfahrt. Verbreiten die Aktion per Facebook und Twitter. Irgendwann sind es der Polizei zufolge bis zu 300 Teilnehmer, die an der Aktion teilnehmen - und von denen einige aggressiv, ja handgreiflich werden. 

 

Neun verletzte Polizisten


Die Einsatzkräfte werden - so ein Polizeisprecher - mit einem Fahrrad und zahlreichen Flaschen beworfen; einem Beamten wird ein Zahn ausgeschlagen. Die Polizei hält dagegen: Sie setzt Pfefferspray ein, auch Hunde mit Beißschutz, sogar Schlagstöcke. "Es wurde mit den Schlagstöcken aber nicht geschlagen", betont ein Polizeisprecher später. Und: Von den Demonstranten sei niemand verletzt worden. Anders das Bild bei der Polizei: Nach deren Angaben werden neun Beamte verletzt. Drei Demonstranten werden vorläufig festgenommen.

 

Etwa 100 Protestierende, unter ihnen viele Schüler, marschieren schließlich zum Ausländeramt der Stadt Nürnberg, um dort erneut gegen die Abschiebung des Afghanen zu demonstrieren. Der dortige Behördenleiter, Olaf Kuch, spricht mit einigen Demonstranten. Er macht ihnen klar, dass sie mit ihrem Protest an der falschen Stelle seien: Der Fall liege nicht mehr bei der Stadt, so Kuch - sondern bei der Zentralen Ausländerbehörde bei der Regierung von Mittelfranken (ZAB).

 

So oder so: Die Polizei setzt sich durch, nimmt den Afghanen in Polizeigewahrsam. Die Abschiebung des 20-Jährigen aber könnte sich noch länger hinziehen. Morgen soll - auf Antrag der ZAB - ein Richter darüber entscheiden, ob der Mann in Abschiebehaft kommt.

 

Gegen eine Abschiebehaft und gegen die Abschiebung des Mannes demonstrierten in Nürnberg auch am Abend noch rund 150 Menschen bei einer spontanen Kundgebung; sie zogen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Hauptmarkt. Dabei blieb es friedlich. Ebenfalls ohne Zwischenfälle verlief eine Anti-Abschiebung-Aktion in Bamberg, bei der rund 200 Menschen auf die Straße gingen. 

 

SPD, Linke, Grüne, Kirchen - alle sind empört


Derweil schlagen wegen des Vorfalls vor der Nürnberger Schule die Wellen hoch, vor allem in der bayerischen Politik. Stefanie Krammer, die Vorsitzende der bayerischen Jusos, kritisierte den Polizeieinsatz massiv: "Wir sind zutiefst erschüttert von den Bildern, die uns heute aus Nürnberg erreicht haben." Dass man einen jungen Menschen, der in der Ausbildung ist und seit vier Jahren in Deutschland lebt, während der Schulzeit aus einem Klassenzimmer zerren wolle, zeige "das neue, erschütternde Ausmaß des Abschiebeverhaltens der Bayerischen Staatsregierung." Auch die Nürnberger SPD äußerte sich empört: Sie forderte die Staatsregierung auf, die "rücksichtslose Abschiebepraxis" zu überdenken.

 

"Junge Geflüchtete müssen sich in der Schule sicher fühlen können. Andernfalls werden sie aus Angst gar nicht in den Unterricht gehen. Das wäre fatal für unsere Integrationsbemühungen."

Thorsten Brehm, Nürnberger SPD-Chef

 

Nürnbergers Oberbürgermeister Ulrich Maly, ebenfalls SPD, äußerte sich ähnlich schockiert: "Einen Schüler dazu auch noch aus dem Unterricht herauszuholen, geht gar nicht." Er werde sich dafür einsetzen, dass so etwas nicht mehr geschehe. Der Bund müsse zudem seine Afghanistan-Abschiebungen "dringend überdenken". Arif Tasdelen, integrationspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, bemängelte im BR zudem mangelndes Fingerspitzengefühl der Polizei.

 

Auch aus anderen Parteien hagelt es Kritik: Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg, sprach von "Polizeigewalt gegenüber den Demonstranten". Margarete Bause von den Grünen befürchtet, dass sich junge Flüchtlinge aus Angst vor Abschiebung nicht mehr in die Schule trauen. Das sei das Gegenteil von Integration. Ausdrücklich lobte sie dagegen die Solidarisierung der Mitschüler und schickte einen Apell an den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU): "Ich fordere den Innenminister auf, alles zu tun, damit sich solche furchtbaren Szenen in Bayern nicht mehr wiederholen." 

 

DGB-Jugend spricht von "gnadenloser Abschiebepolitik"


Die Jugend des DGB zeigt sich ebenfalls entsetzt über den Polizeieinsatz an der Nürnberger Berufsschule, spricht in Person ihres Bezirksjugendsekretärs Carlo Kroiß von einer "gnadenlosen Abschiebepolitik" der Staatsregierung. Und davon, dass der CSU-Abschiebewahnsinn "einzig dem Stimmenfang am ganz rechten Rand" diene.

 

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisierte die Aktion ebenso. Bayerns GEW-Vorsitzender Anton Salzbrunn sagte, es sei "menschenrechtswidrig und menschenverachtend", wie hier das Bayerische Innenministerium agiere. 

 

Fünf Sammelflüge bisher

Bisher hat Deutschland in fünf Sammelflügen 106 abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben. Die Abschiebungen sind umstritten, weil sich in Afghanistan der Konflikt zwischen Regierung und radikalislamistischen Taliban verschärft und es landesweit Gefechte und Anschläge gibt. Heute gab es einen Anschlag nahe der Deutschen Botschaft. Es war mit mehr als 90 Todesopfern einer der schwersten seit Jahren. Der für heute geplante Sammelflug für eine Abschiebung wurde deshalb kurzfristig verschoben.

 

Auch die Kirchen betrachten die Ereignisse von Nürnberg extrem kritisch. Der evangelisch-lutherische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm schrieb auf Facebook, die Politik solle den Vorfall "als Alarmzeichen und Grund zum Umdenken nehmen". Der Nürnberger Jesuit Jörg Alt attackierte auf Facebook noch direkter die CSU: Diese nähme immer weitere Züge einer Partei an, die sie zu bekämpfen angebe, schreibt Alt mit Verweis auf die AfD. "Das hat mit 'Christlich' und 'Sozial' nichts mehr zu tun." 

 

Seehofer stellt sich hinter den Einsatz


CSU-Chef Seehofer betonte derweil die Notwendigkeit gründlicher Einzelfall-Prüfungen, sprach von "schwierigen Entscheidungen" vor jeder Abschiebung. Grundsätzlich aber verteidigte er aber das Vorgehen der Polizei.

 

"Wir müssen ja einerseits schauen, dass die Integration funktioniert. Auf der anderen Seite müssen wir auch darauf achten, dass es nicht zu neuen, massenhaften Flüchtlingsströmen kommt. So etwas spricht sich ja sehr schnell rum."

Horst Seehofer in der dpa

 

Dennoch: Nach den Protesten von Nürnberg, vor allem aber nach dem verheerenden Anschlag in Kabul mit zahlreichen Toten wächst nun auch der Druck auf die Staatsregierung, sich nicht mehr an Abschiebungen nach Afghanistan zu beteiligen, nicht nur seitens SPD, Grünen und Linken. Auch der Bayerische Flüchtlingsrat forderte einen sofortigen Abschiebestopp. Er hat für heute Abend eine Demonstration vor dem Bayerischen Kultusministerium in München angekündigt.