Eine Rezension von a.-t. vogel
Vergangenes historisch zu artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es den eigentlich gewesen ist'. Es heisst, sich seiner Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt...“ (Walter Benjamin)
Bis vor kurzem kannten nur noch wenige Margrit Schiller. Auch Genossinnen und Genossen, die mit ihr in der antiimperialistischen Bewegung aktiv waren, hatten sie aus den Augen verloren. Vor 20 Jahren war Margrit Schiller eine öffentlich bekannte Person. Als Mitglied der RAF, als bewaffnet kämpfende Genossin für die einen, als Terroristin für die Meisten. Ältere erinnern sich insbesondere an die Aufsehen erregenden und erschütternden Bilder der „Tagesschau“ 1971: gerade im Rahmen der Fahndung nach RAF-Mitgliedern in Hamburg festgenommen, wurde sie im Hamburger Polizeipräsidium gewaltsam vor die Kameras getragen und gezerrt. Das Foto erschien auf den Titelseiten der Springer-Presse. Der Staatsapparat wollte einen Sieg feiern. Er war verfrüht. Die RAF gab erst knapp 30 Jahre später auf.
Heute ist Margrit Schiller wieder bekannt. Im konkret-Verlag erschienen unlängst ihr Buch „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerungen - Ein Lebensbericht aus der RAF“. „Amica“ - die Zeitschrift für die Frauen unter 30, brachte eine Reportage über ihr gegenwärtiges Leben in Uruguay und ein Auftritt in Beckmanns Talkshow erreichte ein Millionenpublikum. Margrit Schillers Kampf um die Erinnerung geht nunmehr laut Verlag in die 3. Auflage. Die im April durchgeführte Lesereise findet aufgrund großer Nachfrage im Herbst ihre Fortsetzung. Auch die Rezensionen sind für einen „Lebensbericht aus der RAF“ ungewöhnlich emphatisch. „Eine kleine Perle“, so das Lob des gegenüber der RAF ansonsten ausgewiesen feindlich gesonnenen linksliberalen Ex-Spontis Reinhard Mohr im SPIEGEL. Margrit Schillers Autobiographie sei „ein zeitgenössisches Fundstück, das man nicht ohne Erschütterung zu Ende liest“, und dabei, durchaus unüblich für Lebenserinnerungen aus der radikalen westdeutschen Linken, wie Mohr nicht ohne Süffisance anmerkt, „spannend, dramaturgisch dicht, durchaus selbstkritisch und gut geschrieben“. Da meldet sich also jemand mit Erfolg aus dem off zurück, tatsächlich aus 15-jährigem lateinamerikanischen Exil - mal sehen, was sie uns zu sagen hat.
Aber der Reihe nach. Die heute 52jährige Margrit Schiller wurde in Bonn als Tochter eines Majors des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und einer Lehrerin geboren. Sie studierte in Heidelberg Psychologie und schloss sich dort der Studentenbewegung an; später dann einer Gruppe, die den bis dahin radikalsten Begriff der psychischen Folgen des kapitalistischen Verwertungsprozesses prägte. Vom Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) gingen viele Impulse aus; Antipsychiatrie und die Selbstorganisation der „Irren und Krüppel“ waren davon anfangs geprägt. Inzwischen klassisch die Parole „Aus der Krankheit eine Waffe machen“ und die Warnung vor den Nierensteinen. Im Rahmen des SPK, das selbst von Unileitung und Polizeiapparat verfolgt und zerschlagen wurde, lernte sie Genoss/innen kennen, die wiederum Kontakt zur RAF hatten. Anfangs stellte Margrit Schiller der RAF ihre Wohnung zur Verfügung, später beteiligte sie sich an ihren Aktivitäten. Dann wurde sie zur Fahndung ausgeschrieben und 1971 in Hamburg nach einer Schießerei, bei der andere RAF-Mitglieder, u.a. Ulrike Meinhof, entkommen konnten, festgenommen. 1973 kam sie frei, ging aber schon nach einem Jahr erneut in die Illegalität. Im Februar 1974, nach einer spektakulären halbjährigen Observation durch den Verfassungsschutz, wurde Margrit Schiller und das ganze RAF-Kommando verhaftet. Nach fünf Jahren in Isolationshaft und „Normalvollzug“ wurde sie 1979 vorzeitig „wegen guter Sozialprognose“ entlassen. 1984 verließ sie Deutschland. Genoss/innen, mit denen sie sich im antiimperialistischen Widerstand organisierte, waren wegen Unterstützung der RAF und dem Vorwurf, Mitglieder einer „legalen RAF“ zu seien, verhaftet und verurteilt worden. Auch gegen Margrit Schiller wurden die Ermittlungen geführt; eine erneute Verhaftung war nicht ausgeschlossen. Kuba gab ihr politisches Asyl. Dort heiratete sie einen Kubaner und lebt heute mit ihren beiden Kindern in Uruguay.
„Spannend“, wie ein Kriminalroman mitten in die action, so beginnt das Buch tatsächlich. Schon in den ersten Sätzen eine Schießerei. Aber es ist kein Krimi, denn es folgt sofort die Klarstellung: „Aber ich habe nicht geschossen“. Da möchte man das Buch gleich wieder aus der Hand legen, wenn ich schon zu Anfang auf die Rolle eingeschworen werde, keine „schießwütige RAF-Terroristin“, sondern eine harmlose, irgendwie unschuldig hineingeratene Frau vor mir zu haben. Zufällig steht das nicht am Anfang. Es ist der Tenor des Buches. Deswegen ist es wichtig, es auch hier an den Anfang zu setzen.
In dem Buch erzählt Margrit Schiller ihre - oder soll ich sagen? - diese Geschichte. Sie war bei der RAF, davon handelt das Buch, der ersten linken Formation in Deutschland, die die Bewaffnung in der Revolution nicht nur als taktisches Mittel verstand. Die 1970 entstandene RAF-Guerilla hatte sich zum Ziel gesetzt, an die deutschen Zustände die Lunte zu legen. Vielzählige Explosionen und Gefechte sollten die Verhältnisse so zum Tanzen bringen, dass die Unterdrückten und Beleidigten (Fanon) Mut fassen, der Raum frei wird für massenhafte Selbstorganisation und Klassenkampf. Ein sehr gewagtes Vorhaben. Dabei gewesen zu sein, davon berichten zu können, ist Grund genug sich der Erinnerung zu bemächtigen. Ist es möglich, in einer solchen Geschichte harmlos zu sein? Ich glaube nicht. Das Normalmaß von Akteuren historischer Entwicklungen ist doch der Ausgangspunkt; nur in der apologetischen Literatur werden der Dämonisierung unerschütterliche Heldinnen und Helden entgegengesetzt.
In dem Buch können wir den Werdegang von Margrit Schiller in die RAF bis 1979 verfolgen, so wie sie ihn sieht. Ihr gelingt es einige ihrer Genossinnen und Genossen zu charakterisieren, skizzenhaft aus den scheinbar doch sehr wenigen Begegnungen, die sie hatte: Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Holger Meins. Einige weitere Namen tauchen auf, aber die Menschen werden nicht deutlich. Es sind diese Berühmtheiten, die herausstechen, die aber sind tot. Genossinnen und Genossen, mit denen sie in der RAF viel mehr Zeit verbrachte - in der Illegalität oder im Knast -, werden nur vereinzelt erwähnt. Ich weiß nicht, ob dies Ausdruck eines hierarchischen Verständnisses ist oder Margrit Schiller sich an andere nicht mehr erinnert, oder nur, weil die anderen sagen könnten: „Ej, was machst du denn da?“. Auffallen tut es dennoch.
Aber so wie die RAF-Aktivist/innen weitgehend ausgeblendet bleiben, taucht auch die gesellschaftliche Bewegung, aus dem heraus der 68er-Aufbruch, und dann auch die RAF entstand und handelte, kaum auf. Aus den antikolonialen Kämpfen im Süden der Weltkugel entwickelten sich sozialistisch verstehende Befreiungsbewegungen. Ein Sieg der vietnamesischen Vietminh (FNL) war greifbar; den Imperialismus an vielen Punkten der Welt anzugreifen, um den Befreiungsbewegungen des Trikont wie den Klassenkämpfen in den Metropolenstaaten Raum für emanzipatorische Entfaltung zu schaffen, war eine reale Möglichkeit nicht nur für den Sieg in Vietnam über die US-Militärmaschine. In den USA, in Japan, in Westeuropa, aber auch im sowjetischen Staatenbündnis, gab es Rebellionen und Aufstände gegen die zementierten Kalte-Krieg-Zustände. Der radikaldemokratische Protest gegen den Vietnam-Krieg radikalisierte sich, wie die studentische Ablehnung der überkommenden Ausbildungsstruktur, so wie zehntausende Lehrlinge und Schüler/innen anfingen sich selbst zu organisieren und endlich mal wieder die eigenen Sachen auch in die eigenen Hände zu nehmen. Black Panthers in den USA, Tupamaros in Uruguay, Rote Brigaden oder Armeen in Italien, Deutschland oder Japan... - „Die Erde wird rot“, eine Chance für einen globalen revolutionären Aufschwung. Keine Romantik, auch wenn die Selbstüberschätzung der Aktivist/innen grenzenlos war. Trotzdem ein reales Feuer, aber noch kein Steppenbrand.
Margrit Schiller suchte die Veränderung, suchte auch den Anschluss an die Aufbegehrenden - aber spürbar wird das nicht so richtig: Was wollte sie denn anders, was zog sie an? Sie rutschte rein, was, wenn man ihr glaubt, eigentlich immer so war. Sie traf keine Entscheidungen - und dass sie irgendwann bei der RAF war: eine Kette von Zufällen. Das klingt wie die Lesart des Schriftstellers Peter Schneider, der für die „68er-Generation“ die These aufstellte, es sei mehr Sache des Zufalls gewesen, wer sich am italienischen Strand von Ostia sonnte oder bei der RAF landete. Er meinte das noch gut, so weit weg von den später karrieremachenden 68ern seien die RAF'ler nicht gewesen. Mit dieser Sorte Zufall stehe ich auf Kriegsfuß. Wir sind Produkte gesellschaftlicher Umstände. Natürlich hängt viel davon ab, wer wann wen kennt, wer wann wo war - aber, die Frage, welchen Weg ich gehe, wenn ich die Möglichkeit zu wählen habe, findet eine Antwort, die ich ihr gebe. Margrit Schiller sieht und notiert das anders, obwohl die Stationen eigener Entscheidung genannt werden: den zur Fahndung ausgeschriebenen Mitgliedern der RAF die Wohnung zur Verfügung stellen, die RAF-Leute da zu treffen, mit ihnen quasi zusammenzuwohnen... bis hin zu der Entscheidung, nach ihrer ersten Haftentlassung 1973 erneut abzutauchen. Da noch vielmehr: Die RAF war fast vollständig aufgerieben und im Knast. Da ging es um den Neuaufbau der RAF-Kommandos. Da konnte man nicht reinrutschen. Da gab es nämlich nichts.
Der Titel des Buches verspricht Authentizität: „Der harte Kampf um meine Erinnerung“. Welche Erinnerung? frage ich mich. Und: Was war hart an dem Kampf sich zu erinnern, was war verdrängt und musste mühevoll wieder zum Bewusstsein gebracht werden? Ich erfahre das nicht oder kann es nicht finden. Es bleibt nur die Erkenntnis, dass Erinnerung etwas sehr schmerzvolles sein muss. ‚Keine gute Zeit gehabt', fiel mir spontan zu dem Buch ein. Aber wer mag das glauben, dass das Leben als RAF oder in und mit der RAF eine so trostlose Angelegenheit war.
Ein enttäuschendes Buch also, oder ist es nur so, dass die Erinnerung täuscht? Wir kennen das ja: Im Nachhinein sieht alles besser aus... Aber bei Margrit Schiller ist es andersherum. Das klingt nach Glaubwürdigkeit, nach schonungsloser Offenheit, nach harten Ringen um - beinahe hätte ich gesagt: die Wahrheit, aber doch nicht, die Erinnerung. Und Erinnerung ist ein Ding oder Zustand, dessen Kriterium nur die Person selbst ist, die den Blick zurück wirft. In diesem Verständnis misst sich Erinnerung an nichts außer dem eigenen Gefühl oder dem eigenen Begriff von Wahrhaftigkeit. Sie kann überprüfbar sein, muss es aber nicht - und ein Gefühl ist es nie. In dem Buch von Margrit Schiller wird Erinnerung eine Sichtweise, eine höchst private Angelegenheit, entkleidet aller kollektiven Bezüge. „Wir, die RAF“ kommt denn auch kein einziges Mal vor. Allerdings auch nicht: Ich, das Subjekt, meine Handlungen und Gedanken in einem kollektiven Wir.
Margrit Schiller macht sich klein, sie duckt sich. Vielleicht hat sie das jahrelang in der RAF gemacht, glauben kann ich es ihr nicht. Aber das ist ihre Selbstcharakterisierung, klein und verschüchtert - zur falschen Zeit am falschen Fleck. Die Teilhabe an einem historischen Moment revolutionärer Bewegung - denn das war die RAF allemal -, wird zu einer einzigen Qual. Da kann man nicht glücklich gewesen sein. Dabei habe ich beileibe keine Heldinnensaga erwartet. Eine Lobhudelei wäre mir genauso aufgestoßen.
Margrit Schiller läßt ihre Erinnerung 1979, mit ihrer zweiten Haftentlassung enden. Sie nennt es einen Beitrag zur Geschichte der RAF. Sicherlich ist das Buch ein Beitrag zur Psychologie der Sichtweisen, wie man sich, die RAF und die Zeit angucken kann. Mehr nicht. Zum Verständnis eines historischen Prozesses trägt es nicht bei. Nicht nur nicht, weil das Außen, das gesellschaftliche und politische Umfeld weitgehend ausgeblendet ist (sozialdemokratisches „Modell Deutschland für Europa“, das Ende der Student/innenbewegung, die hitzigen Debatten in der Linken um den richtigen revolutionären Weg, die 77er-Offensiven der RAF und die Toten in Stammheim...). Der innere Prozess der RAF bleibt genauso außen vor. Was trieb die RAF? Womit setzte sie sich auseinander? Was waren Streitpunkte und wie wurden sie geklärt? Überhaupt: Wie wurden Entscheidungen getroffen? Selbst da, wo Margrit Schiller unmittelbar involviert war, gelingt es ihr, alles auszublenden.
Die Lesenden brauchen eine gute Portion Hoffnung, es vielleicht doch noch zu finden; von der Autorin verlangte es erhebliches Stehvermögen, das bis zum Schluss durchzuhalten. Vielleicht wegen dieser Selbstcharakterisierung muss das Buch auch 1979 enden. 1973, nach ihrer ersten Haftentlassung, ging sie in die Illegalität, um die RAF neu aufzubauen. Was machte sie nach 1979? Die Linke hatte sich mühsam vom Schock des Herbst 1977 erholt. Die Solidaritätsgruppen mit den politischen Gefangenen trauten sich wieder an die Öffentlichkeit, nach den revolutionären Kämpfen im Iran, die zur Vertreibung des Schah führten, gewann auch die antiimperialistische Bewegung in den Metropolen wieder Aufschwung. 1980 gingen aus Auseinandersetzungen um besetzte Häuser und gegen staatliche Großprojekte wie der Startbahn-West in Frankfurt oder der Atomindustrie und gegen die Nuklearkriegstrategien der NATO neue militante Kämpfe hervor. Eine gute Zeit, um aus dem Knast zu kommen; eine bessere als für die entlassenen Gefangenen aus der RAF der letzten Jahre. Was machte Margrit Schiller? Ihre Rolle in der entstehenden antiimperia-listischen Front von RAF und Widerstand Anfang der 80er Jahre, erwähnt sie nicht mal. War sie wirklich nicht mehr RAF, nur weil sie nicht mehr im Knast war? Die Zurückweisung der bundesanwaltschaftlichen Behauptung einer „legalen RAF“ durch Ausklammerung entscheidender Jahre politischen Agierens im Rahmen der Konzeption der RAF, führt zur Verfälschung der individuellen wie kollektiven Geschichte.
Selbstkritik kennt das Buch von Margrit Schiller nicht. Ein Satz deutet an, dass andere Menschen, auch Genossinnen und Genossen, sie anders in Erinnerung haben müssen. Für die Zeit nach ihrer ersten Haftentlassung 1973 schreibt sie, dass sie hart und ungerecht gewesen sein muss. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, eine Struktur zu verstehen, in der sich Margrit Schiller selbst als Opfer sieht, andere sie aber eher obenauf. Wie geht das zusammen? Ein Problem autoritärer Persönlichkeiten, die sich immer gegängelt fühlen, aber selbst andere gängeln. Zum Beispiel würde ihre Rolle, Funktion und Verhalten in der „Antiimperialistischen Front“ den Widerspruch offensichtlich werden lassen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum das Buch 1979 endet. Die Gründe für ihr Exil nennt sie nicht. Auch die sicherlich sehr wichtige und spannende Diskussion, um den Kämpfen in Deutschland den Rücken zuzukehren, zeichnet sie nicht nach.
Indem sie ihre Handlungen ausblendet und als Subjekt farblos bleibt, nimmt Margrit Schiller den Lesenden die Möglichkeit, etwas von ihr und der RAF zu verstehen. Die vollständige Abwesenheit von eigenen Gedanken und Reflexion macht das Buch unerträglich. Immer, wenn es um Inhalte, z.B. von Diskussionen geht, kann sie sich nicht mehr erinnern. Wie Margrit Schiller über irgendwas nachgedacht hat oder heute darüber denkt, wir erfahren es an keiner Stelle. Sie liest Wilhelm Reich, aber was konnte sie damit anfangen? Hat es eine Bedeutung für sie gehabt? Zur Entführung einer Israel anfliegenden Air-France-Maschine nach Entebbe 1976, an der neben Palästinensern auch Mitglieder der Revolutionären Zellen und Bewegung 2. Juni beteiligt waren, schreibt sie, erst später habe sie die „Antisemitismusproblematik“ verstanden. Aber was hat sie verstanden? Die Diskussionen innerhalb der RAF - was war wichtig und hat sie weitergebracht? Hat sie irgend etwas dazu beigetragen? Was hat sie über die Aktionen der RAF gedacht, was denkt sie heute? Die Politik und Strategie der RAF, die Veränderungen und Erweiterungen, die darin stattgefunden haben - wie hat sie sich damit auseinandergesetzt - und wie bewertet sie das heute?
Margrit Schiller hat ihr Buch im Exil geschrieben. Es ist in Deutschland erschienen und für dieses Land geschrieben. Für Lateinamerika sicherlich nicht. Da würde erst recht niemand diese Haltung, keiner will es gewesen sein und eigentlich war es eine fortgesetzte Leidensgeschichte, verstehen. Welchen Grund mag es geben, aus 15jähriger Entfernung diesen unvollständigen „Lebensbericht“ in einem Land erscheinen zu lassen, mit dessen Auseinandersetzungen man nichts mehr zu tun hat?
Selbständigkeit und Verantwortung sind Begriffe emanzipatorischer Politik. In ihrer Autobiografie übernimmt Margrit Schiller keine Verantwortung für sich und den Kampfprozess, dem sie sich angeschlossen hat. Sie leidet, dass sie Hungerstreiks abbrach, aber was es bedeutete aus einer Aktion auszusteigen, kennzeichnet sie nicht. Sie leidet, dass der Versuch des Neuaufbaus der RAF daran scheiterte, dass sie und ihre Gruppe monatelang vom Verfassungsschutz observiert und dann auf einen Schlag verhaftet wurde. Aber was das heißt...? Die Dimension wird in dem Buch nicht deutlich. Erst recht nicht, dass das nicht nur sie betraf, sondern Dutzende weitere (legale) Genossinnen und Genossen, die sich z.B. in gutem Glauben mit der RAF trafen, oder ihre Ausweise zur Verfügung stellten, die dann kofferweise den Behörden in die Hände fielen.
Vielleicht ist es diese Haltung, für nichts wirklich verantwortlich zu sein, die Andreas Baader, wie in dem Buch beschrieben, zur Weißglut brachte. Auch in der Auseinandersetzung mit der Hamburger Gefangenengruppe, zu der Margrit Schiller ab 1974 gehörte und die RAF-intern zynisch „Gehirnwäschekollektiv“ genannt wurde. Oder der Unmut von Ulrike Meinhof als sie Margrit Schiller bei einer Begegnung den Entwurf der später erschienenen RAF-Schrift „Konzept Stadtguerilla“ zu lesen gab und Auseinandersetzung und Kritik hören wollte, aber nicht zu hören bekam.
Auch als Verlagsprojekt ist das Buch kein Beitrag zur Geschichte der RAF. Der konkret-Verlag hat eine schlampige Arbeit abgeliefert. Einige Personen und Ereignisse werden von Margrit Schiller erwähnt, an die sich heute nur wenige erinnern. Gemessen an dem formulierten Anspruch hätte zumindest der Verlag die historischen Bezüge und Daten aufschlüsseln müssen. Der angehängte Kalender und das Glossar einiger Personen und Begriffe ist untauglich, zudem teilweise falsch (wie zur Bewegung 2. Juni).
Margrit Schillers Erinnerungen sind nicht das erste biografische Buch über die westdeutsche Stadtguerilla. So wie auch Irmgard Möller, Till Meyer, Inge Viett, Ralf Reinders und Ronald Fritzsch hat auch Margrit Schiller mittels persönlicher, mehr oder weniger gelungener Reflexion letztlich die kollektive Geschichte der Stadtguerilla individualisiert. Es ist deutlich: Das Buch über die RAF oder die Bewegung 2. Juni, oder allgemein den bewaffneten Kampf, muss noch geschrieben werden. Aber es kann aufgrund der, nicht nur in diesem jüngsten Buch zu Tage tretenden Zerstörung des kollektiven Bewusstseins und dessen Aufspaltung in die individuelle Erinnerung wohl nicht mehr erarbeitet werden. Was bisher erschienen ist und zukünftig noch erscheinen wird, ist auf eine bestimmte Art „Legitimationsliteratur“. Also eine „Erinnerung“, die letztlich dazu dient den - privaten, nicht gesellschaftlichen - aktuellen Zustand zu erklären, sich aber nicht an das erinnert, was „wirklich“ war. Dies leistet keines der erschienenen „authentischen“ Bücher über die Stadtguerilla. Aber individuell geht das auch nicht; das ist der Widerspruch, nicht nur wie ihn Benjamin benennt, sondern wie ihn die RAF ins „kollektive Gedächtnis der Unterdrückten“ geschrieben hat.
Margrit Schiller: „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“. Ein Lebensbericht aus der RAF. Konkret Literaturverlag, DM 39,00