Ein jüdischer Junge wird massiv gemobbt und muss die Schule verlassen. Kein Einzelfall. Antisemitismus ist in Deutschland ein Problem. Vier Juden berichten über Ressentiments und Beleidigungen im Alltag.
Millionen Menschen in Deutschland haben feindliche Einstellungen gegenüber Juden. Das zeigen mehrere Studien. Über das konkrete Ausmaß von Antisemitismus existieren verschiedene Angaben. Laut der Bertelsmann-Studie von 2015 stimmt jeder vierte Bundesbürger der Aussage zu, „Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss“.
In einer von der Bundesregierung beauftragten Studie kamen Experten im Jahr 2012 zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent der Bevölkerung latente antisemitische Einstellungen aufweisen. Die Autoren der Studie „Die enthemmte Mitte“ der Universität Leipzig sprachen zwar 2016 von einer rückläufigen Entwicklung. Demnach seien nur noch 4,8 Prozent der deutschen Bevölkerung Antisemiten, gleichzeitig glaubten aber noch zehn Prozent, dass Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen.
Gerade unter Muslimen in Deutschland soll einer Bielefelder Studie zufolge ein latenter Antisemitismus verbreitet sein. Demnach stimmten 36 Prozent der Jugendlichen arabischer Herkunft und 21 Prozent der türkischstämmigen der Aussage zu: „Juden haben in der Welt zu viel Einfluss“. Bei Schülern ohne Migrationshintergrund beträgt der Wert lediglich zwei Prozent.
Juden nehmen massive Bedrohung wahr
In der jüdischen Gemeinschaft – in Deutschland leben mehr als 120.000 Juden – wird Antisemitismus weiterhin als massive Bedrohung wahrgenommen. Bei einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) im Jahr 2012 gaben 61 Prozent der jüdischen Deutschen an, dass Antisemitismus ein großes oder ziemlich großes Problem sei. Mehr als ein Drittel erklärte, innerhalb der letzten fünf Jahre antisemitisch belästigt worden zu sein.
Hier erzählen vier deutsche Juden über ihr aktuelles Leben in Deutschland:
Lisa Scheremet
Lehrerin an einer Hauptschule in Niedersachsen, 36 Jahre
„Als Lehrerin wundere ich mich über den medialen Aufschrei, nachdem ein Schüler aufgrund seiner jüdischen Herkunft an einer Berliner Schule gemobbt wurde. Als wären antisemitische Ausschreitungen unter Jugendlichen etwas Seltenes und Ungeahntes. Nein, antisemitische Vorfälle innerhalb der Schullandschaft hierzulande sind nicht neu, sie gehören zum Schulalltag, und das nicht erst seit gestern.
Vorurteile regieren die Schulwelt. Juden seien komische Gestalten, irgendwie anders und oftmals für die Politik Israels verantwortlich. Auf den Schulhöfen wird „Jude“ als Beleidigung verwendet – aber nicht nur von muslimischen Schülern. Und niemand steht Kopf, niemand wundert sich. Nichts passiert, um die Geschehnisse zu ändern, zumindest nicht in dem notwendigen Maße. Weil es viel zu kompliziert ist und viel nervliche Kraft erfordert, mit den Jugendlichen sachliche Diskussionen über Israel zu führen und sie von der Gehirnwäsche abzubringen, die sie zu Hause erleben.
Weil es finanziell sowie organisatorisch viel zu aufwendig ist, außerschulische Experten in die Schulen einzuladen und Projekte durchzuführen. Die Lehrer sind teilweise überfordert, Schulleitungen auch. Bildungspolitik sowieso.
Wenn man den Nahost-Konflikt unterrichten möchte, eskaliert die Situation in der Klasse oftmals dermaßen, dass kein Unterrichten mehr möglich ist. Ich habe erlebt, dass Kinder mit irgendwelchen YouTube-Videos und aufgeschnappten Kindermörder-Israel-Parolen „argumentieren“, ohne jemals eine Nachrichtenmeldung zu dem vielschichtigen Konflikt gelesen zu haben. Das zeigt, dass wir Fortbildungen für Lehrer brauchen, um mit solchen Situationen umgehen zu können. Um dem Antisemitismus in den Schulen begegnen zu können, muss man die Ursachen angehen, Konzepte schaffen, Lehrpläne überarbeiten, Dialoge ermöglichen.
Gerade in der Schule, einer Institution, die tagtäglich Bildungs- und Erziehungsarbeit leistet und großartige Möglichkeiten hat, an die Kinder und Jugendlichen heranzutreten, darf man die Augen nicht verschließen. Auch nicht vor den zahlreichen antisemitischen Fällen, die es nicht in die Medien schaffen. Auch nicht, sobald es um die Schule in Berlin-Friedenau wieder ruhiger wird. Erst wenn Antisemitismus, Rassismus und Gewalt gegen Minderheiten zuallererst an den Bildungseinrichtungen, systematisch bekämpft werden, dann kann auch ich als Mutter ruhiger schlafen, wenn meine jüdischen Kinder eines Tages eine öffentliche Schule in Deutschland besuchen.“
Jonas Schnabel
Hotelbetreiber und Fußballspieler beim jüdischen Klub Makkabi Frankfurt, 32 Jahre
„Der Fall aus Berlin hat bei mir Erinnerungen wachgerufen. Auch ich musste mit 14 Jahren nach antisemitischen Angriffen die Schule wechseln. Ein paar jüdische Freunde und ich waren damals erst ein paar Wochen auf dem Goethe-Gymnasium in Frankfurt und fuhren rasch das erste Mal auf Klassenfahrt. Dort wurden wir von Mitschülern eines Nachts geweckt und drangsaliert. „Wir vergasen euch“, drohten sie, und wir wurden massiv beleidigt. Nach diesem Vorfall wechselte ich die Schule. Danach gab es im Schulalltag keine Probleme mehr.
Im Fußball nehme ich eine Entwicklung wahr. Als Jugendspieler war das wirklich schlimm. Wir konnten zu Spielen gegen bestimmte Klubs nur unter Polizeischutz fahren und wurden häufig beschimpft. Heute passieren antisemitische Vorfälle im Fußball seltener. Das ist eigentlich nur noch in den unterklassigen Ligen zu spüren, wo es den Spielern oftmals egal ist, eine Sperre zu erhalten. Die Vereine sensibilisieren ihre Kicker mittlerweile ganz gut.
Aber auch die Anfeindungen auf dem Fußballplatz hängen immer total von der Situation im Nahen Osten ab. Als der Gaza-Konflikt 2014 eskalierte, spürten wir den Antisemitismus zuletzt extrem. „Da zückten gegnerische Spieler beim Jubel schon mal eine Palästina-Flagge und die Zunge saß insgesamt lockerer. „Scheiß Jude“ und „Kindermörder“, riefen sie uns häufig zu. Damals wurden wir zur Zielscheibe für all diejenigen, die einen Hass auf Israel haben. Und dieser Hass vieler Israel-Gegner entlud sich dann eben auch auf dem Platz gegen Makkabi Frankfurt.
Was mir und meinen jüdischen Freunden bei den Anfeindungen 2014 aber vor allem wehgetan hat, war das Schweigen unserer nicht jüdischen Freunde. An die Beleidigungen auf Facebook oder auf dem Fußballplatz gewöhnt man sich, das prallt an einem ab. Aber die Ignoranz des eigenen Umfelds schmerzt. Auf Dutzenden Großdemos wurde damals auf deutschen Straßen „Juden ins Gas!“ gerufen, und kaum einer stellte sich vor uns. Das hat mich mehr getroffen als jede Beleidigung.“
Yael Michael
Mathematik-Studentin an der Humboldt-Universität Berlin, 29 Jahre
„Ich bin 2012 aus Tel Aviv nach Berlin gezogen. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich die naive Utopie eines supersicheren Lebens ohne jede Sorgen in mir. Jüdisch zu sein, war kein großes Ding für mich. Meine Mutter hat türkische und mein Vater bulgarische Wurzeln. Je länger ich nun hier lebe, desto realistischer bin ich geworden. Ich weiß, dass es Übergriffe auf Juden gab und gibt. Deutschland ist für mich kein Regenbogen-Paradies mehr.
Persönlich habe ich aber keine schlimmeren Dinge erlebt. Ich bin aber auch nicht besonders religiös oder lebe meinen Glauben öffentlich aus. Wenn mich jemand nach meiner Herkunft fragt, rede ich gerne über meine israelischen Wurzeln. Und dann erkläre ich ganz offen meine Sicht der Dinge.
Besonders Humor finde ich bei dem ganzen Thema wichtig. Er bricht das Eis. Lachen macht uns menschlich, nichts ist zu ernst. Du lachst über mich, ich lache über dich.
Was ich beobachte: Immer wenn sich der Nahost-Konflikt verschärft, fühle ich mich plötzlich deutlich unsicherer. Man spürt dann wie zuletzt 2014, dass die Stimmung überkocht. Leute verurteilen mich als Israeli und verpassen mir dieses Bad-Guy-Image, für das Israel in den Köpfen vieler Menschen leider steht. Ich bin dann plötzlich der Sündenbock. So ein Quatsch.
Ehrlich gesagt denke ich, dass Muslime auf den Straßen hierzulande aktuell deutlich mehr Hass zu spüren bekommen als Juden. Ich fühle mich hier derzeit sicher. Und ich fühle mich in Deutschland wohl. Trotzdem liebe ich Israel. Ich liebe die hebräische Sprache, ich liebe meine Familie, und vor allem liebe ich meine Freunde.“
Daniel Alter
Rabbiner aus Berlin, 57 Jahre
„Seit August 2012 bin ich nicht mehr bereit, mich in der Öffentlichkeit als Jude identifizieren zu lassen. Im Beisein meiner siebenjährigen Tochter wurde ich damals von mutmaßlich arabischstämmigen Jugendlichen in Berlin-Schöneberg auf der Straße antisemitisch angepöbelt und angegriffen. Mit einem Jochbeinbruch wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert.
Es kann überall in Berlin passieren, auch auf der Kantstraße wurde ich schon antisemitisch beleidigt. Dennoch existieren in der Stadt Hotspots. Auch bei mir in Friedenau gibt es eine Ecke, in der viele arabische und palästinensische Familien wohnen. Wenn ich dort an den öffentliche Treffpunkten ihrer Jugendlichen mit meiner Kippa vorbeigelaufen bin, wurde ich verbal fast immer dumm angemacht.
Seit dem Angriff auf mich 2012 hat sich die Situation für Juden hierzulande weiter verschärft. Antisemitismus ist in Deutschland mittlerweile salonfähig. Die Anfeindungen sind offener und vor allem aggressiver geworden. Diesen aggressiven Judenhass nehme ich massiv, aber nicht ausschließlich aus der islamischen Gemeinschaft wahr. Das erreichte 2014 seinen Höhepunkt, als bei Demonstrationen in Berlin gerufen wurde: „Hamas! Hamas! Juden ins Gas!“ Das hatte es in dieser Radikalität in den Jahren zuvor nie gegeben; eine erschreckende Entwicklung.
Es handelt sich nicht mehr um dumpfen Antisemitismus ungebildeter Menschen. Ganz im Gegenteil.In meiner Rolle als Beauftragter zur Bekämpfung von Antisemitismus in der jüdischen Gemeinde erhielt ich viele Hassbriefe von hochgebildeten Menschen: Professoren, Ärzten, Lehrer. Das schockierte mich.
Für mich steht außer Frage, dass wir Menschen helfen müssen, die vor Krieg und Elend fliehen. Allerdings müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, dass der Zuzug von Hunderttausenden Menschen aus Ländern und Kulturen, in denen der Judenhass staats- und gesellschaftstragenden Charakter hat, unser gesellschaftliches Klima mitbestimmt. Das ist für unsere demokratische Zivilgesellschaft ein Problem, und dafür müssen wir angemessene Antworten finden.“