es tut mir leid, Dir das sagen zu müssen, aber bis vor einigen Tagen hatte ich keinen Schimmer, wer Du bist. Wahrscheinlich hätte ich Dir auch nie einen Brief geschrieben, hätte nicht mal wieder der Weltfrauentag vor der Tür gestanden, den Du vor über 100 Jahren ins Leben gerufen hast. Lange warst Du für mich nur eine Randnotiz aus meinem Geschichtsbuch, eine von vielen historischen Persönlichkeiten, mit der ich nicht viel mehr verbinde als die nach Dir benannten Straßen und Schulen. Dabei warst Du für die proletarische Frauenbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägend wie keine Zweite. Die von Dir geleitete Zeitung "Die Gleichheit" galt als Sprachrohr der sozialistischen Frauen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie 125.000 Abonnentinnen.
Ich bin jetzt Ende Zwanzig und muss zugeben: Für Frauenrechte habe ich mich bisher nicht gerade aufgerieben. Wie die meisten meiner Freunde habe ich eine berufstätige Mutter, und auch sonst gab es in meinem Leben genug starke Frauen, die ich mir zum Vorbild nehmen konnte. Schon in der Kindheit wurde mir immer wieder versichert, dass es von Fußballspielen bis Astronautin werden nichts gab, das ich aufgrund meines Geschlechts nicht erreichen könnte. Als ich 2005 das erste Mal wählen durfte, bekam die Bundesrepublik ihre erste weibliche Regierungschefin. Ich habe mich als Frau in Deutschland nie wirklich benachteiligt gefühlt. Aber heißt das auch, dass ich es nicht bin?
Als Du vor 160 Jahren in Wiederau bei Rochlitz geboren wurdest, durften Frauen nicht wählen, nicht an politischen Versammlungen teilnehmen und ohne die Einwilligung ihres Ehemanns nicht arbeiten gehen. Im Vergleich dazu sind wir heute weit gekommen. Deine Forderungen aber gingen noch weiter. Zu meinem Erschrecken sind einige davon bis heute nicht erfüllt. Gleiche Löhne bei gleicher Arbeit, gewerkschaftliche Interessenvertretung und staatliche Kinderbetreuung: "Der wirtschaftlichen Bedeutung der Frau als Produktivkraft müssen auch endlich ihre politischen und sozialen Rechte entsprechen", sagtest Du 1889.
Dass Du Dein Leben dem Kampf für die Rechte der Arbeiterinnen verschriebst, ist bemerkenswert. Warst Du doch ein Mittelstandsmädchen - genau wie ich. Dein Papa Dorfschullehrer, die Mama selbst schon eine, die sich im Allgemeinen Deutschen Frauenverein für Frauenrechte engagierte. Sie verschaffte Dir eine Ausbildung zur Lehrerin in Leipzig. Abschluss 1878, Note "gut". Ob es für "sehr gut" gereicht hätte, wenn Du in Leipzig nicht Deinen Lebensgefährten Ossip Zetkin und mit ihm den Sozialismus kennengelernt hättest? Schon bald gingen die Forderungen Deiner Mutter und ihrer bürgerlichen Frauenbewegung Dir nicht mehr weit genug. Wahlrecht, akademische Schulbildung, freie Berufswahl, Arbeitsschutzgesetze und die Möglichkeit, frei über das eigene Vermögen zu verfügen? Alles schön und gut. Doch in Deinen Augen wurden Frauen nicht durch Männer und ihre Gesetze unterdrückt, sondern durch das gesamte System: "Die Emanzipation der Frau wie des ganzen Menschengeschlechts wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein."
Vielleicht hattest Du damit nicht ganz Unrecht. Die Forderungen der bürgerlichen Feministinnen Deiner Zeit sind schließlich längst erfüllt. Und trotzdem sind da diese 21 Prozent. Die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern. Gemessen wird sie am durchschnittlichen Bruttostundenlohn, ausgewiesen vom Statistischen Bundesamt. Den 21 Prozent ist ein Tag gewidmet, der "Equal Pay Day", der in diesem Jahr am 18. März stattfindet. Es ist der Tag, bis zu dem Frauen statistisch gesehen umsonst arbeiten, während Männer seit dem 1. Januar für ihre Arbeit bezahlt werden. Es gibt in meinem Alltag wenig, das mir auf ähnlich harsche Weise vor Augen führt, dass Dein Kampf längst nicht gewonnen ist.
Trotzdem kämpfen wir jungen Frauen heute nicht mehr so, wie wir es angesichts dieser 21 Prozent sollten. Warum nicht? Weil uns zwischen G8, Turbobachelor und dem Hangeln von einem befristeten Job zum nächsten nicht die Zeit bleibt für mehr als ein paar wütende Tweets mit dem Hashtag #Aufschrei? Statt für eine faire Bezahlung auf die Straße zu gehen oder wenigstens für die gesetzlich garantierten und trotzdem nicht ausreichenden Kitaplätze, schauen wir Serien wie "Girls", lesen popfeministische Publikationen wie das "Missy Magazine" und liken auf Instagram Bilder der "Body Positive"-Bewegung, bei der Frauen sich selbst versichern, dass sie auch ohne Modelmaße und Ganzkörperrasur attraktiv sind. Und weil wir uns vor zwei Jahren mal über die steilen Thesen einer Ronja von Rönne aufgeregt haben, finden wir uns bei all dem verdammt feministisch. Die bittere Wahrheit aber ist, dass wir keine Aktivistinnen sind, sondern höchstens Feminismus-Konsumentinnen.
Du dagegen riebst Dich tagtäglich auf für unsere Rechte. Dabei hattest Du es sehr viel schwerer als ich. Nachdem Ossip schwer erkrankte, musstest Du ihn pflegen, eure beiden Söhne versorgen und als Alleinverdienerin die Familie durchbringen. Nach Ossips Tod warst Du schließlich sogar alleinerziehend. Über Frauen wie Dich, die Kinder, Karriere und obendrein noch soziales Engagement unter einen Hut bringen, staunen wir jungen Frauen oft ungläubig. Ich persönlich bin ja schon stolz, wenn ich nach dem Abendessen noch zwei Episoden irgendeiner Netflix-Serie schaffe, ohne dabei einzuschlafen. Nach Feierabend noch für meine Rechte eintreten? Klar, gerne! Welche Online-Petition kann ich unterschreiben?
Momentan, liebe Clara, mache ich mir manchmal Sorgen um das, was Du, Deine Zeitgenossinnen und die Frauenrechtlerinnen, die nach Euch kamen, erreicht habt. Im Weißen Haus regiert jetzt ein Mann, der im Wahlkampf mit sexistischen Sprüchen auffiel und in einer seiner ersten Amtshandlungen Geld für Organisationen strich, die im Ausland Abtreibungsberatungen anbieten. Vor einigen Tagen sorgte ein gewählter Vertreter Polens im EU-Parlament für Aufruhr, weil er die Lohnungleichheit damit rechtfertigte, dass Frauen kleiner, dümmer und schwächer seien als Männer. Und in den Deutschen Bundestag könnte in wenigen Monaten eine Partei einziehen, die Frauenquoten "leistungsfeindlich und ungerecht" findet, Gender Studies als Pseudowissenschaft bezeichnet und meint, die derzeitige Familienpolitik diskriminiere Vollzeit-Mütter.
Kritisiert man heute Sexismus oder fordert - wie Du - gleiches Geld für gleiche Arbeit, heißt es oft nur: "Hab dich nicht so" oder "Verhandelt halt besser". Hat man meine Generation bloß eingelullt, mit all den Geschichten übers Fußballspielen und Astronautin werden? Clara, es könnte unbequem werden, aber ich fürchte, wir Frauen von heute müssen uns ein Beispiel an Dir nehmen.
Deine Lea Becker
Die Autorin Lea Becker wurde 1987 in Düsseldorf geboren. Sie ist Volontärin der "Freien Presse".