Berlin - Seit 1989 sind 502 obdachlose Frauen und Männer durch Gewalt ums Leben gekommen. Das hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) ermittelt. Die Tendenz ist steigend.
Vermutung von Rechtsextremistischen Motiven
Allein 2016 waren es 17; dabei waren die Tatverdächtigen in acht der 17 Fälle selbst nicht wohnungslos. Dies legt aus Sicht der BAGW den Verdacht nahe, dass hier ein rechtsextremistisches Motiv dahinter stecken könnte. Denn: „Bei den Gewalttaten gegen wohnungslose Menschen spielen nach Erkenntnissen der BAGW menschenverachtende und rechtsextreme Motive häufig eine zentrale Rolle.“ Unter den mindestens 179 Todesopfern rechtsextremistischer Gewalt hätten demnach zirka 20 Prozent bis dahin auf der Straße gelebt.
Bundesregierung gibt keine Auskunft über Mordmotive
Die grüne Bundestagsabgeordnete Monika Lazar aus Leipzig wollte es genau wissen, stellte eine entsprechende Anfrage an die Bundesregierung – und hält die nun eingetroffene Antwort aus dem Bundesinnenministerium für „eine einzige, große Enttäuschung“. Wörtlich sagte Lazar dieser Zeitung: „Dass die Bundesregierung nicht bereit ist, anzugeben, wie viele Obdachlose seit 1990 aus politischen Gründen ermordet wurden, ist eine Frechheit. Obdachlose werden damit auch über ihren gewaltsamen Tod hinaus ein weiteres Mal ausgegrenzt und ihrer Würde beraubt.“
Zwar wurde 2001 vereinbart, dass Hasskriminalität in Deutschland fortan erfasst werden soll. Ein Kriterium sollte dabei sein, dass das Motiv des Täters „im gesellschaftlichen Status“ des Opfers begründet liegt. In der Antwort wird aber darauf verwiesen, dass die zuständigen Bundesländer Informationen über politisch motivierte Kriminalität an das Bundeskriminalamt weiter reichen müssten. Und Detailinformationen zu Opfern seien „hierbei nicht als Pflichtfelder vorgesehen. Aus diesem Grund sind die genannten Opfereigenschaften nicht automatisiert recherchierbar.“
Hasskriminalität scheinbar nur einseitig erfasst
Stattdessen, so Lazar, würden unter Hasskriminalität Gewalttaten gegen Polizeibeamte oder „Straftaten gegen höhere soziale Schichten“ erfasst und damit das gesamte Vorhaben auf den Kopf gestellt. „Eine solche Statistik braucht kein Mensch – außer, man will das Ausmaß rechter Gewalt in Deutschland verschleiern“, erklärte die grüne Parlamentarierin. Unter Straftaten gegen höhere soziale Schichten wird etwa das Abfackeln von „Nobelkarossen“ verstanden, das nicht zuletzt in Berlin meist auf das Konto von Linksextremisten geht. Soeben erst hatte der Europarat kritisiert, dass Hasskriminalität in Deutschland unzureichend erfasst werde.
Nicht selten gleichen die Angriffe auf Obdachlose regelrechten Hinrichtungen. Am 27. Mai 2011 zum Beispiel wurde André Kleinau im sächsischen Oschatz von fünf Männern im Alter von 16 bis 36 Jahren mit Schlägen und Tritten schwer misshandelt. Am nächsten Morgen fanden Zeugen den 50-Jährigen mit schwersten Kopfverletzungen auf. Vier Tage später starb er.
Exakte Zahlen fehlen – obwohl Gewalt immer brutaler wird
Umso frustrierter ist Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, über die Antwort der Bundesregierung. „Wir beobachten in den letzten Jahren eine Zunahme von Gewalt gegen Wohnungslose“, sagte sie dieser Zeitung. „Und immer wieder haben Gewalttaten einen rechtsextremistischen Hintergrund. Das hat manchmal den Charakter von Folter.“ Rosenke fügte hinzu: „Trotzdem gibt es daran offenbar kein Interesse. Wohnungslose sind ohnehin schon marginalisiert. Und jetzt geht das offenbar so weit, dass sie auch als Opfer marginalisiert werden.“ Exakte Zahlen der Bundesregierung könnten ein Mittel sein, um dem abzuhelfen.