Uwe Böhnhardt und der Tod eines neunjährigen Jungen

Erstveröffentlicht: 
03.02.2017

Bis heute ist Uwe Böhnhardts Rolle beim Mord an dem neunjährigen Bernd Beckmann in Jena ungeklärt. Wie schon oft im NSU-Komplex zeigen Aktenfunde: Ermittler verfolgten wichtige Spuren schlichtweg nicht.

 

Uwe Böhnhardt, mutmaßlich eines der Kernmitglieder der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), geriet 1994 in das Visier einer Jenaer Mordkommission. Die versuchte damals, den Mord an dem neunjährigen Bernd Beckmann aufzuklären. Aus Ermittlungsakten, die der „Welt“ vorliegen, geht hervor, dass Böhnhardt für die Tat kein Alibi hatte und das als konkrete Spur in dem Fall bearbeitet wurde.

 

Die Polizei nahm ihm damals Haarproben ab, um sie mit DNA-Spuren am Fundort der Kindesleiche abzugleichen. Die Ermittlungen in Richtung Böhnhardt, auch das wird aus den Akten klar, wurden damals jedoch nicht gründlich genug geführt. Bisher war öffentlich nur bekannt, dass ein Freund des Rechtsradikalen lange als einer der Hauptverdächtigen in dem Fall galt. Dass Böhnhardt selber kein Alibi für die Tat hatte, ist neu.

 

Eine Sonderkommission des Thüringer Landeskriminalamts (LKA) arbeitet nun die Altakten des Falles seit Monaten auf. Eine sonderbare Spur hatte die Thüringer Ermittler dazu gebracht, den Fall neu aufzurollen: Am Fundort der Leiche des vor gut 15 Jahren verschwundenen Mädchens Peggy K. war Böhnhardts DNA festgestellt worden.

Plötzlich stellte sich die Frage: War Böhnhardt – mutmaßlicher Terrorist, Bankräuber, Mörder – auch noch in einen Kindesmord verwickelt? Die neunjährige Peggy war im Mai 2001 in Oberfranken verschleppt worden. Überreste ihrer Leiche wurden erst 14 Jahre später in Thüringen gefunden. Wenige Tage nach der Feststellung der Böhnhardt-DNA am Fundort von Peggys Leiche dann die vermeintliche Wende: Eine Verunreinigung sei der Grund für die Spur, hieß es in Presseberichten.

 

Der Beweis für diese These fehlte jedoch; die zuständige Staatsanwaltschaft in Bayreuth ließ nur verlauten, dass sowohl am Fundort von Peggy als auch bei der Obduktion von Böhnhardt „teilweise identisches Spurensicherungsgerät“ verwendet worden sei. Eine Aussage zu einer möglichen Kontamination könne, so die Staatsanwalt, „erst nach weiteren umfassenden und zeitaufwendigen Ermittlungen getroffen werden“.

 

Diese Untersuchung dauert auch drei Monate später immer noch an. Die Staatsanwaltschaft wollte der „Welt“ nicht sagen, wie weit man mit den Ermittlungen ist. Ein Ergebnis hatte der rätselhafte DNA-Fund jedoch: Eine Thüringer Sonderkommission bekam den Auftrag, ungeklärte Kindermorde neu zu bewerten.

 

Und hierbei steht besonders ein Fall im Zentrum: der Mord an Bernd Beckmann in Jena. Seine Mutter meldete den Neunjährigen am 6. Juli 1993 als vermisst. Er war nach der Schule nicht nach Hause gekommen; zuletzt wurde er in der Nähe des Wohnhauses seiner Großeltern im Stadtteil Lobeda gesehen. Zwölf Tage später wurde seine Leiche von Kindern am Ufer der Saale gefunden. Bernd Beckmann war erdrosselt worden. 

 

Böhnhardt blieb trotz fehlenden Alibis gelassen


Die Mordkommission ermittelte, dass der Junge vor seinem Tod an verschiedenen Orten im Viertel Lobeda gesehen wurde. Dort lebte damals auch Uwe Böhnhardt. Der war Teil einer Jugendgang, die Autos stahl und auch sonst zunehmend kriminell wurde. Ein Mitglied geriet ins Visier der Mordermittler: Enrico T., damals 18 Jahre alt.

 

In der Nähe der Leiche des Jungen war ein Außenbordmotor gefunden worden. Zeugen sagten aus, diesen Motor an einem Boot von Enrico T. gesehen zu haben, das dieser oft in der Nähe des Fundorts der Leiche an einem Anleger vertäut hatte. T. gab bei der Polizei an, das Boot sei ihm kurz vor dem Verschwinden des Jungen gestohlen worden. Mehrere Freunde hätten von dem Boot gewusst, darunter Böhnhardt.

 

So verhörte die Polizei diesen im April 1994. Der damals 16-Jährige ging in die achte Klasse, war aber wenige Monate zuvor erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hatte mehrere Monate in Untersuchungshaft gesessen. Unter anderem hatte er einen Jungen schwer misshandelt und Geld von ihm erpresst. In der Haft hatte Böhnhardt einen Mithäftling gefoltert, unter anderem heißes Plastik auf seinen Rücken tropfen lassen.

 

Das aber wussten die Polizisten nicht, die ihn in der Mordsache Beckmann verhörten. Die gewannen vielmehr einen positiven Eindruck von Böhnhardt und notierten: Der Zeuge erkläre, nur aus Dummheit in die Straftaten anderer hineingezogen worden zu sein.

 

Seiner Erscheinung nach – Springerstiefel, Bomberjacke – sei Böhnhardt zwar rechts einzuordnen; inzwischen trage er die Haare aber länger, zum Scheitel gekämmt. Ein in sich ruhender 16-jähriger Ex-Krimineller: „Auch nach der Erläuterung des Hintergrundes der Entnahme von Körperhaaren blieb Böhnhardt ruhig.“ Die Polizisten schlossen nach „subjektiver Einschätzung“ eine Täterschaft aus: „Es wird vorgeschlagen, die Spur Böhnhardt abzulegen.“

 

Ein auf den ersten Blick unscheinbarer Nebensatz im Vermerk über die Aussage Böhnhardts lässt jedoch aufhorchen. Der blieb, so schrieben die Beamten, „bei allen ihn konfrontierenden Fragestellen“ gelassen – „dies auch im Bewusstsein, kein Alibi zu haben“. Denn er konnte auch mit „Hilfestellungen“ keine Angaben zu einem Alibi machen. Das aber heißt: Eine Beteiligung Böhnhardts an dem Verbrechen lässt sich nicht ausschließen, da er eben kein Alibi für die Tatzeit hatte. 

 

Sein Freund Enrico T. war dringend tatverdächtig


Allerdings wird es schwer für die Ermittler werden, die nun den Fall neu aufrollen, der Wahrheit näher zu kommen und Böhnhardts Rolle abschließend zu klären. Denn die Akten offenbaren, wie an vielen anderen Stellen im NSU-Komplex auch, Lücken, Widersprüche und Belege dafür, dass wichtige Beweismittel vernichtet worden sind.

 

Auf dieses Problem stieß auch zehn Jahre nach dem Mord ein Team von Ermittlern, das schon einmal versucht hatte, den ungelösten Fall zu klären. Zu ihrer Verblüffung mussten sie feststellen, dass mehrere Asservate, unter anderem fremde Haare, die man an der Leiche des Jungen festgestellt hatte, bereits vernichtet worden waren.

 

Auch war nicht auszumachen, ob der Junge missbraucht worden war: „Beachte: Ein Abstrich aus der Genito-/Analregion sowie aus dem oralen Bereich wurde nicht vorgenommen. Ein Eindringen in den Afterbereich … wurde nicht untersucht.“ Zudem gab es kaum Fotos vom Fundort und „kein Faserverteilungsbild der Bekleidung des Opfers“. Weiter hieß es: „DNA-Auswertung nicht abgeschlossen.“ Es finden sich mehrere Vermerke, in denen sich Beamte später intern über die unvollständigen Ermittlungen beschwerten.

 

Die vorhandenen Akten zeigen immerhin, dass Enrico T. sehr viel schwerer belastet wurde als bislang bekannt. Diese Informationen lagen etwa dem Gericht in München, wo T. mehrfach aussagen musste, nicht vor. So verstrickte er sich nach dem Mord in seinen Aussagen bei der Polizei in Widersprüche. Und wie Böhnhardt hatte T. kein Alibi. Er erklärte, dass er zum Zeitpunkt des Mordes 200 Meter entfernt in seiner Garage gewesen sei.

 

Zudem wurde der Jenaer Junge, wie die Gerichtsmediziner feststellten, mit einem Draht erwürgt, dessen Beschaffenheit klar einzugrenzen war: Ein Draht der gleichen Machart wurde auch in T.s Wohnung gefunden. Noch Jahre nach dem Mord hielten die Ermittler deshalb den jungen Mann aus Jena-Lobeda für dringend tatverdächtig.

 

Immer wieder schrieben sie der Staatsanwaltschaft, die über eineinhalb Jahre lang auf die Schreiben der Polizei nicht reagierte. Und das, obwohl ein weiterer Zeuge T. schwer belastet hatte: T. habe ihm gegenüber den Mord an einem Kind zugegeben. Die Polizei hielt den Zeugen für glaubhaft und schlussfolgerte: „Die wesentlichen Spuren sind alle in Bezug zum Verdächtigen, Herrn T., zu bringen.“

 

Trotzdem versandete die Spur. Die zuständige Staatsanwaltschaft entschied sich vielmehr dafür, intensiv gegen einen Mann zu ermitteln, der wegen mehrerer Sexualdelikte vorbestraft war und in Tatortnähe gearbeitet hatte. Er wurde zeitweise abgehört und durch das Mobile Einsatzkommando observiert. Allerdings wussten die Ermittler, dass er ein Alibi hatte. So endete diese Spur zwangsläufig in der Sackgasse. 

 

Noch eine verblüffende Verbindung zum NSU-Komplex


Bei Enrico T. indessen sind solche Maßnahmen – intensives Abhören, Observationen – nicht zu erkennen. Es findet sich keine Erklärung dafür, warum man irgendwann von T. abgelassen hat. Unklar ist, ob ihn irgendein Indiz entlastet hat.

 

T. saß nach dem Mord an Bernd Beckmann lange Zeit im Gefängnis; er wurde zum Berufskriminellen. 2012 geriet er wieder in den Blickpunkt – und damit auch wieder der ungeklärte Mord an dem Kind. T. stand im Verdacht, dabei geholfen zu haben, dem NSU eine seiner Mordwaffen, die Ceska 83, beschafft zu haben. Die Waffe hatte ein Schweizer Staatsbürger, Hans-Ulrich Müller, 1996 in seinem Heimatland besorgt, samt Schalldämpfer.

 

Das Verblüffende: Dieser Mann taucht ebenfalls in den Akten zum Mordfall Beckmann auf. In der Hosentasche des Opfers war ein Fetzen Lagenzellstoff gefunden worden, der in der EU nicht hergestellt wird. Die Ermittler bekamen heraus, dass Enrico T. eng mit dem Schweizer Müller befreundet war – das brachte man offenbar mit dem Stoff in Verbindung.

 

Der Schweizer hatte einiges zu verbergen, so hielt man in einem Dokument fest: „Müller hielt sich auch unter falschem Namen in Kaatschen-Weichau (bei Camburg) verborgen, wo er regelmäßig von Enrico T. besucht wurde; ebenso war der Müller in der Garage des T. Er ist Schweizer Staatsbürger, mehrfach vorbestraft und z. Z. in der Schweiz inhaftiert.“ Hatte der junge Bernd Beckmann etwas gesehen, was er nicht sehen sollte?

 

Nach der Aussage einer Zeugin hatte T. spätestens 1997 in seiner Garage Waffen versteckt, darunter eine Maschinenpistole. In der Nähe dieser Garage wurde die Leiche von Bernd Beckmann gefunden. Die Möglichkeit einer Verdeckungsstraftat wurde damals nicht intensiv verfolgt.

 

Und just in diesem Garagenkomplex mietete auch Beate Zschäpe eine Garage, allerdings erst nach dem Mord an dem Jungen. Die Garage nutzten unter anderem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos als Lager und Bombenwerkstatt. Als sie Anfang 1998 von der Polizei durchsucht wurde, setzten sich Böhnhardt und seine Freunde aus Jena ab.

 

Enrico T. hat in seinen Aussagen vor Gericht im NSU-Prozess und beim BKA jede Beteiligung am Beckmann-Mord bestritten. Beim BKA behauptete er, Böhnhardt habe etwas mit der Tat zu tun. Ob Enrico T. am Ende recht hat oder nur von seiner eigenen Rolle ablenken will, wird schwer aufzuklären sein.

 

Inzwischen bemühen sich sowohl der NSU-Ausschuss des Bundestags als auch der des Thüringer Landtags, Licht ins Dunkel zu bringen. Dabei dürfte die Rolle von Ron E. von besonderem Interesse sein. Der Mann führte mit seinem Bruder eine Verbrecherbande in Jena an. Für diese soll der Schweizer Waffenhändler des Öfteren Pistolen besorgt haben, auch Enrico T. arbeitete für ihn.

 

Eine Ex-Freundin meldete sich 1998 bei der Polizei und fragte, ob DNA-Spuren am Tatort gesichert worden seien, etwa Haare. Erst nach mehreren Nachfragen gab sie zu, dass E. sie geschickt habe. Warum sind die Thüringer Ermittler dieser Information über Ron E. nicht mit Nachdruck nachgegangen und haben geklärt, warum er sich so für den Mord interessiert hat?

 

Ein Grund könnte sein, dass Ron E. zeitweilig als Informant für das LKA Thüringen gearbeitet hat. Ob er damals von seinen Führungsbeamten auch zum Kindesmord befragt worden ist, werden die verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse klären müssen.