Ein Geheimpapier der Expertenkommssion zum Fall Al-Bakr offenbart schwere Fehler von Sachsens Sicherheitsbehörden. Am Mittwoch müssen Justiz- und Innenminister dem Landtag Rede und Antwort stehen. Ungeachtet der Fehler wird der damals Verantwortliche befördert.
Dresden. Der Fall Dschaber al-Bakr beschäftigt am Mittwoch Sachsens Landtag: Innenminister Markus Ulbig und Justizminister Sebastian Gemkow (beide CDU) müssen Rede und Antwort stehen. Vorab sorgt eine Personalentscheidung für Aufsehen: Der Hauptverantwortliche für die Pannenserie bei der Polizei, Volker Lange, wird befördert. Die Leipziger Volkszeitung gibt Einblick in das 184 Seiten starke geheime Protokoll des Einsatzes.
Wahrscheinlicher Anschlag: Nachdem Geheimdienstler den mutmaßlichen Terroristen Al-Bakr in Chemnitz observiert hatten, wird „Gefahr in Verzug“ gemeldet: Der Syrer erhält am 7. Oktober 2016, einem Freitag, ein Paket, das Grundstoffe für Sprengstoff beinhalten soll; außerdem kauft er Heißkleber-Kartuschen, die als Indiz für die Herstellung von Bomben gelten. Nach einer Besprechung im Berliner Terrorabwehrzentrum geht die Meldung an das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen: „Mögliche Anschlagspläne in Leipzig“. Der Fall wird als „Gewissheit – hohe Wahrscheinlichkeit“ eingestuft.
Fatale Anfangsfehler: Am Abend des 7. Oktober werden im LKA zwei fatale Fehlentscheidungen getroffen. Erstens: Behördenchef Jörg Michaelis setzt den Abteilungsleiter Volker Lange als Polizeiführer ein. Zweitens: Lange verkennt den Terrorverdacht und geht von einem eventuell bewaffneten Mann aus, der festzunehmen ist. Die Kommission sagt: Das LKA habe „keine Erfahrungen mit der Führung von Sofortlagen“ und sei „nach geltender Vorschriftenlage auch grundsätzlich nicht dafür vorgesehen“. Das Lagezentrum Berlin bietet zwei Spezialeinheiten an, doch dies wird abgelehnt. Landespolizeipräsident Jürgen Georgie nimmt das LKA später in Schutz – eine „zumindest fragwürdigen Entscheidung“ Georgies, kritisieren die Experten.
Überforderte Einsatzleitung: Einen Führungsstab gibt es bis zum 8. Oktober – nachdem Al-Bakr geflohen ist – nicht. Einzelne Bereiche werden gar nicht (unter anderem das Lagezentrum für das Erheben, Sammeln und Steuern von Informationen) oder nicht durchgängig (Lagedarstellung sowie Dokumentation) besetzt. Der Einsatzabschnitt Ermittlungen ist „faktisch wirkungslos“, stellt die Kommission fest. Ein weiterer Fehler ist: Obwohl Al-Bakrs Kumpel Khalil A., der ihm die Wohnung in Chemnitz zum Bombenbau überlässt, in Leipzig observiert wird, wird auf eine Festnahme verzichtet. Das ist „nicht nachvollziehbar“, so das Expertengremium.
Abgebrochene Festnahme: In Chemnitz wird in der Nacht vom 7. zum 8. Oktober zwei Mal ein Zugriff erwogen – doch jeweils nicht durchgeführt. Ein Grund ist, dass verschiedene arabische Namen an den Klingeln für Verwirrung sorgen. Was viel schlimmer ist: Es gibt keinen „Plan B“. Deshalb kann Al-Bakr gegen 7 Uhr aus seinem Versteck spazieren – die Polizeiführung ist auf einen Zugriff außerhalb des Hauses nicht vorbereitet. Nebenbei stellt die Kommission fest: Das SEK Sachsen verfügt über keine Drohne. Mit dieser hätte zum Beispiel die Wohnung ausgespäht werden können.
Verwirrende Kommunikation: Es gibt vier unterschiedliche Funkgruppen (MEK, SEK, Verfassungsschutz, Einsatzleitung). Notwendig und normal wäre das Prinzip „Jeder hört jeden“. Ein Beispiel: Als MEK und Verfassungsschutz beobachten und funken, dass Al-Bakr das Haus verlässt, kommt das beim SEK nicht an. Das Fazit der Kommission: Die Polizeiführung hatte auch keinen Kommunikationsplan. In dieses Bild passt: Das Innenministerium als Dienstherr – und hier auch der Landespolizeipräsident – werden erst am Vormittag des 8. Oktober, nach dem fehlgeschlagenen Zugriff, in Kenntnis gesetzt.
Verzögerte Fahndung: Die Liste der Pannen ist so lang, dass nur drei Beispiele genannt werden sollen. Erstens: Der Einsatzleiter geht – nachdem das SEK einen Warnschuss abgesetzt hat – davon aus, dass Al-Bakr wieder in der Wohnung ist. Deshalb wird die Nahbereichsfahndung beendet und kein Großalarm ausgelöst. In einer internen Mitteilung werden die Beamten nur zur Eigensicherung ermahnt. Zweitens: Die offizielle Wohnung von Al-Bakr in Eilenburg wird erst acht Stunden nach der Flucht überwacht und um Mitternacht durchsucht, weil in Sachsen kein geeignetes Personal mehr zur Verfügung steht. Drittens: Der Fahndungsaufruf erfolgt schließlich spät, die Übersetzung ins Arabische (80 Wörter) braucht 28 Stunden. „Es verrann wertvolle Zeit“, so die Kommission, da „keine besondere Eile“ an den Tag gelegt wurde. Dabei sei gerade die Übersetzung des Fahndungsaufrufs wichtig gewesen, um mögliche Kontakte anzusprechen. So melden sich zwei Libyer bei der Polizei, die am 8. Oktober mit Al-Bakr in Leipzig gesprochen haben. Zwei Landsleute setzten den Syrer am 9. Oktober fest.