Bautzens Bürgermeister: "Kein wesentliches Problem mit Flüchtlingen"

Erstveröffentlicht: 
30.11.2016

Alexander Ahrens über Gewaltausbrüche in seiner Stadt und mögliche Lösungsansätze

 

Die sächsische Stadt Bautzen war im Jahr 2016 zweimal in den Schlagzeilen: Im Februar brannte eine geplante Flüchtlingsunterkunft. Im September wurde Bautzen durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Flüchtlingen und Rechtsradikalen international bekannt. Alexander Ahrens, Oberbürgermeister der Stadt, spricht im STANDARD-Interview über sein umstrittenes Treffen mit Vertretern rechter Gruppen und über Bautzen als "sehr wohlhabende Stadt" mit Problemen, die vor allem durch Jugendarbeit und Gesprächsrunden gelöst werden sollen.

 

STANDARD: Vor wenigen Tagen haben Sie sich, wie im September angekündigt, mit Vertretern einer rechten Gruppe getroffen. Es hagelte bereits bei Ihrer Ankündigung Kritik. Wen haben Sie nun eigentlich getroffen?

 

Ahrens: Es waren zwei junge Betreiber einer rechten Internetseite und zwei weitere Männer. Einer von den Älteren ist Mitglied der NPD, das wusste ich allerdings im Vorfeld nicht. Es sind Gruppierungen, die eine Art Streifendienst in der Stadt organisieren und Flüchtlingshelfer bis nach Hause verfolgen – ich habe ihnen unmissverständlich erklärt, dass ich das nicht dulde. Wir überlegen gerade, wie wir dagegen vorgehen. Der Stalking-Paragraf könnte hier zur Anwendung kommen.

 

STANDARD: Was waren weitere Themen des Gesprächs?

 

Ahrens: Es ging mir darum herauszufinden, ob weitere moderierte Gespräche möglich sind. Das bezieht sich vor allem auf die zwei sehr jungen Vertreter, die an dem Gespräch teilgenommen haben. Ich will herausfinden, ob es die Möglichkeit gibt, einen nach strengen Regeln ablaufenden Gesprächsprozess mit Jugendlichen mit komplett anderer politischer Einstellung ins Leben zu rufen. Mir geht es darum, die Schwelle für die Gewaltbereitschaft hoch zu setzen. Ich erwarte nicht, dass sie sich um den Hals fallen, aber, wenn sie sich in der Stadt begegnen, vielleicht lediglich denken: Der andere ist ein politischer Idiot, hat aber nicht komplett unrecht. Außerdem geht es mir darum, einige wenige aus der Szene herauszulösen. Aus meiner Sicht sind sie nämlich wegen der Kombination aus bestimmter politischer Ansicht und einer gewissen Intelligenz gefährlich.

 

STANDARD: Einige linke Gruppen und die Grünen werfen Ihnen vor, Sie würden mit dem Treffen rechtsextremes Gedankengut legitimieren.

 

Ahrens: Es sind keine Parteivertreter gewesen, einer ist NPD-Mitglied, das habe ich wie gesagt erst im Lauf des Gesprächs herausgefunden. Ich habe auch im Vorfeld des Treffens gesagt, dass ich sie treffe, um sie massiv zu kritisieren, und das ist auch dokumentiert. Deswegen sehe ich nicht ein, wieso ich sie damit legitimiere. Kommunikation kann nicht scheitern, nur Nichtkommunikation scheitert.

 

STANDARD: In einem Interview haben Sie gesagt, die Männer hätten Ihnen im Gespräch versichert, dass sie Gewalt ablehnen, aber sie könnten nicht für alle Mitglieder ihrer Gruppen sprechen. Was für einen Sinn oder Wert hat dann dieses Versprechen oder ein Treffen mit zufällig ausgewählten Rechten überhaupt?

 

Ahrens: Also, zufällig und wahllos war das nicht, es waren die Betreiber der Seite "Stream BZ". Und sie behaupten, sie seien nicht gewalttätig. Ich finde es schon interessant, dass sie sogar zu feige sind, ihre eigen Taten zu verteidigen. Sie behaupten auch, sie seien keine Rassisten, und erzählen im nächsten Satz von der Überlegenheit des deutschen Volkes. Sie können also sicher sein, dass mir dieses Treffen keine große Freude bereitet hat. An meiner Positionierung in der Flüchtlingsfrage ändert das nichts.

 

STANDARD: Es gab nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen und dem Angriff auf Flüchtlinge auch wieder eine Demonstration von Rechten und Gegendemonstrationen mit Lichterkette von linken Gruppen in Bautzen. In einem Interview haben Sie gesagt, Sie halten Gegendemonstrationen nicht für ein brauchbares Mittel. Was wäre ein brauchbares Mittel?

 

Ahrens: Es gab eine Lichterkette, und es gab in weiterer Folge, wie ich sie nenne, "Stellvertreterdemonstrationen". Es gab von rechter und linker Seite aus Hamburg und aus Weißwasser Demonstrationen, die nicht von Bautzen aus angemeldet wurden, und es gab reflexartig Gegendemonstrationen der sogenannten Antifa Leipzig. In diesem Zusammenhang habe ich gesagt, dass ich diese Stellvertreterdemonstrationen leid bin, also Demonstrationen, die von Nichtbautzenern angemeldet werden. Demonstrationstourismus von beiden Seiten – dem kann ich nichts abgewinnen. Das war vielleicht nicht so klar formuliert in der Presseerklärung, ich habe eingesehen, dass ich da einen Fehler gemacht habe. Ich habe formuliert, dass Lichterketten und Gegendemonstrationen nicht ausreichen. Das heißt nicht, dass sie nichts nützen.

 

STANDARD: Kommen wir also zu Sachen, die Sie für noch nützlicher und sinnvoll halten. Sie haben angekündigt, Streetworker anzustellen.

 

Ahrens: Wir planen nicht nur die Einstellung von zwei Streetworkern, sondern den Bau eines Jugendzentrums im größten Teil Bautzens, in Gesundbrunnen. Da ist viel gebaut worden, und es ist auch hübsch geworden, im Gegenzug sind aber in den letzten 25 Jahren alle Anlaufstellen für Jugendliche geschlossen worden. Fast alle Jugendlichen in der Stadt stehen praktisch auf der Straße. Das ist für mich unverständlich, denn Bautzen ist eine sehr wohlhabende Stadt, wir sind praktisch schuldenfrei und haben große Reserven für Infrastrukturausgaben. Das brauchen wir auch, weil wir seit zehn Jahren sämtliche Geburtenprognosen sprengen. Dass vor diesem Hintergrund in den letzten Jahren Mittel für die Jugendarbeit zusammengestrichen wurden, ist mir ein absolutes Rätsel. Unabhängig von den Vorfällen müssen wir mehr Anlaufstellen für Jugendliche schaffen, die Stadt muss für Leute unter 30 Jahren attraktiv werden, für sie ist die Stadt nämlich langweilig.

 

STANDARD: Aber das, was in Bautzen und anderen Teilen Sachsens passiert, passiert nicht nur aus reiner Langweile.

 

Ahrens: Es ist aber ein nicht zu unterschätzender Faktor.

 

STANDARD: Die Ereignisse vom September waren nicht der erste derartige Vorfall, es gab vor zwei Jahren auch Angriffe auf Sorben. Was läuft schief in Bautzen und Umgebung?

 

Ahrens: Es ist 25 Jahre lang weggeschaut und behauptet worden, wir hätten kein Problem mit Rechtsextremismus. Das ist definitiv falsch gewesen. Es ist eine Fortsetzung der unseligen Tradition der DDR, denn bis 1989 hieß es, in der DDR gebe es keine Nazis, die kamen alle aus Westdeutschland. Und nach 1989 hatten die Leute auch wichtigere Probleme zu lösen, als sich Gedanken zu machen, ob man rassistisch ist. Man hatte viel zu tun und hatte überhaut keinen Kontakt mit Ausländern.

 

STANDARD: Laut dem "Sachsen-Monitor", die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, findet jeder dritte Jugendliche, dass es in seiner unmittelbaren Umgebung zu viele Ausländer gibt. Bei den Erwachsenen liegt der Anteil bei 17 Prozent. Tatsächlich hat Sachsen einen Ausländeranteil von 3,9 Prozent. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

 

Ahrens: Man fürchtet sich vor dem, das man nicht kennt, dann ist man auch empfänglich für gewisse Botschaften. Für mich ist der hohe Anteil von Jugendlichen mit einschlägigen Aussagen ein klarer Beweis dafür, dass die Bildungspolitik in Sachsen in den letzten 25 Jahren falsche Schwerpunkte gesetzt hat. Man ist stolz darauf, dass man dieses Mint-System an den Schulen eingeführt hat, also einen Schwerpunkt auf Natur- und Ingenieurswissenschaften. Aber ich kann mich nicht darüber freuen, wenn wir lauter potenzielle Ingenieure haben, die von Geschichte keine Ahnung haben und daraus falsche Schlüsse ziehen.

 

STANDARD: Wenn Sie sagen, dass man sich weniger fürchtet, wenn man einander kennt: Haben Sie vor, auch Begegnungen zwischen Flüchtlingen und anderen Jugendlichen in Bautzen zu ermöglichen?

 

Ahrens: Es gibt eine große Unterstützergemeinde für die Flüchtlinge in Bautzen – die nicht müde wird, von ihren Erfahrung und Erfolgen zu berichten. Wir haben auch eine sehr umtriebige freikirchliche Gemeinde, die auch mit Videobotschaften dazu aufruft, dass man Flüchtlinge zu sich nach Hause einladen soll. Diese Aktion habe ich auch unterstützt. Und es gibt auch Handwerksbetriebe, die jungen Flüchtlingen Ausbildungsplätze verschafft haben. Leider sind es nicht viele, aber die, die es gemacht haben, berichten, dass sie in den letzten 30 Jahren keine so motivierten Mitarbeiter hatten. Auch die Schuldirektorin spricht in höchsten Tönen von afghanischen und arabischen Kindern, die innerhalb eines Jahres eine erstaunliche Wandlung durchgemacht haben: Sie lernen nicht nur Deutsch, sondern inhalieren auch den Lernstoff von vier Schuljahren. Es gibt also viele Anknüpfungspunkte, an denen man sieht, dass viele Leute eine Bereicherung für das Land sein können. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass es auch diejenigen gibt, die sich nicht bemühen. Und da kann man sich nicht hinstellen und sagen, alle Flüchtlinge sind Heilige. Wenn es Probleme gibt, muss man die ansprechen und ebenso entschlossen handeln. Aber ich will betonen: Wir haben kein wesentliches Problem mit Fehlverhalten von Flüchtlingen, sondern ein Problem mit massiven Straftaten aus der organisierten rechten Ecke.

 

STANDARD: Ihre Kritiker aus der linken Ecke sagen, Sie hätten diese Straftaten nicht klar genug verurteilt.

 

Ahrens: Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Was zu den Aktionen im September geführt hat, waren gezielte Provokationen der Rechten, es wurde eine Woche lang immer wieder gestichelt und eine Gruppe von zehn bis 15 jugendlichen Flüchtlingen provoziert. Ich habe mehrmals gesagt, es geht mir nicht darum, wer als Erster eine Flasche oder einen Stein geworfen hat, denn ich kann Gewalt von keiner Seite gutheißen. Wir haben hier eine Gruppe von fünf bis sechs jugendlichen Flüchtlingen, die sich niederschwellig danebenbenehmen – das sind Sachen, die man nicht hinnehmen muss, die aber nicht in den Bereich Kriminalität fallen. Das ist aber ein Thema, das eine Zeitlang niemand hören wollte. Ich habe immer klar gesagt, dass das, was wir an Straftaten der rechten Ecke sehen, wesentlich gravierender ist. Das sind Verbrechen, für die man mit einer Mindeststrafe von einem Jahr rechnen muss.

 

STANDARD: Am Freitag sprechen Sie in Wien über Maßnahmen, die kleine Gemeinden treffen können, um Konflikte zwischen Flüchtlingen und Einwohnern zu vermeiden. Was werden Sie den Österreichern raten?

 

Ahrens: Das klingt vielleicht komisch, aber wir haben mit einer breitangelegten, offensiven Kommunikation gute Erfahrungen gemacht. Darunter verstehe ich, dass man auch Leuten mit unbequemen oder krassen Standpunkten zuhört. Nur wenn ich die geheimsten Ängste und schlimmsten Vorbehalte offen auf dem Tisch habe, kann ich mich damit auseinandersetzen. Als wir unsere erste Flüchtlingsunterkunft im Spreehotel geplant haben, gab es einen Riesenaufstand in der Nachbarschaft und auch viele Nazis aus der Umgebung, die sich bemüßigt gefühlt haben, sich vor dem Hotel zu produzieren. Man hat daraus gelernt und bei den folgenden Einrichtungen im Vorfeld Diskussionen ins Leben gerufen. Als das Hotel, das dann im Februar abgebrannt ist, zur Flüchtlingsunterkunft gemacht werden sollte, gab es eine große Bürgerversammlung mit 450 Anwohnern, und es wurde zwei Stunden lang diskutiert. Ich kann also nur empfehlen, moderierte Großgruppendiskussionen zu organisieren, bei denen jeder etwas sagen kann.

 

Alexander Ahrens ist seit 2015 Oberbürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt Bautzen in Ostsachsen. Er wurde von den im Stadtrat vertretenen Parteien Linke, Bürgerbündnis Bautzen und SPD aufgestellt und setzte sich gegen den CDU-Kandidaten durch. Ahrens ist Jurist, Sinologe, belesen, eloquent, geschichtsinteressiert und "Bautzener aus Überzeugung", wie er sich selbst beschreibt.

 

Am Freitag spricht Alexander Ahrens in Wien bei der Konferenz "Aktionstage: Flucht – Migration – Demokratie".