Erinnern, um zu vergessen. Geschichtspolitik um den 11. September in Chile

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Der 11. September 1973 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis Chiles eingebrannt. Seitdem spielt der Jahrestag des Putsches für die Aufarbeitung der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Doch gerade im post-diktatorischen Chile geht damit keineswegs eine scharfe Kritik an der Diktatur und ihrer Gefolgsleute einher.
Während das regierende Mitte-Links-Bündnis die nationale Versöhnung beschwört, legitimiert die Rechte den Putsch bis heute als notwendigen Kampf gegen den »Krebs des internationalen Kommunismus«.

 

Die Innenstadt von Santiago ist nahezu menschenleer, als die Demonstration von etwa 4.000 Menschen sich langsam durch die Straße San Martín schiebt. Es ist Sonntagmorgen, der 13. September 2009. Früher fand der traditionelle Protestmarsch gegen die Pinochet-Diktatur immer am 11. September statt. Pinochet hatte diesen Tag zum Feiertag erklärt, alle hatten frei. 2001 wurde der Feiertag vom mittlerweile an die Macht gewählten Mitte-Links Bündnis Concertacióni wieder abgeschafft. Seither findet die Demonstration an Wochenendtagen rund um den 11.September statt.

 

Die ersten Reihen der Demonstration bestehen meist aus älteren Menschen. Viele von ihnen litten selbst unter der Diktatur oder verloren Angehörige durch deren Verbrechen. Ein etwa 40 Jahre alter Mann steht den Tränen nahe. In der Hand hält er ein Schildchen empor mit der Aufschrift „Donde Estan?“ (Wo sind sie?). Darunter ein Foto eines Mannes, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Wie viele andere mit ihm ruft er das Schicksal von verstorbenen Familienangehörigen in Erinnerung, die die Militärregierung hat 'verschwinden' lassen. Mit Wut und Trauer stimmt er in den Sprechchor der Demospitze mit ein: Justicia y verdad, no a la impunidad! (Gerechtigkeit und Wahrheit, nein zur Straffreiheit!).


 

Die Staatsmacht bleibt sich treu

Lärmend kritisieren die DemonstrantInnen die ausbleibende juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur. Einen beträchtlichen Anteil hat daran auch das Regierungsbündnis Concertación. Zwar hat die Regierung von den Kommissionen Rettig und Valech Berichte über Mord und Folter während der Diktatur vorlegen lassen, die der Aufarbeitung der Vergangenheit dienen und Eingang in die Bevölkerung fanden. Jedoch bestätigte der Oberste Gerichtshof im Juni 2006, dass die Namen der Folternden erst in fünfzig Jahren freigegeben werden. Für viele Geschädigte ist das eine Beleidigung.

Die Erinnerungspraktiken des post-diktatorischen Staates zeichnen sich gegenwärtig durch eine Harmonisierung der Vergangenheit aus, die die tiefen Gräben durch Versöhnung zu beseitigen gedenkt. Dabei bleibt aber nur wenig Raum für Gerechtigkeit. Die Vorwürfe der DiktaturgegnerInnen gegen diese Praktiken reichen von ‚schweren Versäumnissen’ und ‚mangelnde Initiative’ bis zu ‚beabsichtigte Unterlassung’. Der Marsch des 11. Septembers dient als zentrale Plattform, um derlei Kritik an Staat und Gesellschaft zu üben und den Opfern zu gedenken.

 

Diese harsche Kritik am post-diktatorischen Chile bleibt jedoch nicht unbeantwortet: wie aus dem Nichts preschen zwei Wasserwerfer an den Polizeiabsperrungen vorbei. Die Protestierenden nehmen die Beine in die Hand, viele von ihnen erwischt dennoch der mit CS-Gas vermengte Wasserstrahl des guanacos. So nennen die ChilenInnen liebevoll ihre Wasserwerfer, angelehnt an das spuckende Lama. Ähnlich bildhaft ist die Bezeichnung zorrillo (Stinktier) für ein Räumfahrzeug, das CS-Gas verschießt. Hinter den DemonstrantInnen feuert ein Greiftrupp der Carabineros, der Militärpolizei, Gaskartuschen in die flüchtende Menge. Doch die Vollstreckungsbeamten unternehmen keinerlei Anstrengungen, die Teilnehmenden festzunehmen, Zweck des Einsatzes ist die blanke Zurschaustellung der Staatsmacht.

 

Später, auf dem Hauptfriedhof, wiederholt sich das Säbelrasseln. Nach einer ruhigen Andacht und vereinzelten Kundgebungen marschieren mehrere Hundertschaften der Polizei auf. Die Drohgebärden machen deutlich, dass nun Schluss ist mit dem Gedenken. Die Polizei beleidigend, verlassen viele DemonstrantInnen empört den Friedhof. Am Rande des Geschehens spielt sich derweil ein Scharmützel zwischen Polizei und Autonomen ab. Diese greifen einen CNN-Übertragungswagen an und flüchten anschließend vor den Einsatzkräften. Die Gegnerschaft zu den bürgerlichen Medien richtet sich gegen deren Berichterstattung. Mit Nachdruck arbeiten sie an der Inszenierung der zerstörungswütigen Autonomen. Seit 2006 beim Marsch eine Brandbombe auf ein Fenster der Moneda, den Regierungspalast, geworfen wurde, war das Geschrei groß. Schnell wurden Vergleiche mit den Luftangriffen der Kampfjets am Tag des Putsches laut. Der Angriff auf die Moneda kam aus dem noch jungen anarchistischen Spektrum. Spekulationen über dessen Ideologie und Stärke kursierten schnell in allen Blättern und Kanälen. Die Tageszeitung La Nación unterstellte den AnarchistInnen kurzerhand „Gewaltfetischismus“, während El Mercurio die TäterInnen als „Vertreter und Verteidiger der Moral korrupter Menschen“ verstanden wissen mochte. Die vermeintliche Gefahr, die von den AnarchistInnen ausgehe, wurde zu einer landesweiten Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgeblasen.

 

 

Verdrängte Kritik an der Diktatur

Den grotesken Feierlichkeiten der Diktatur zum 11. September wurde erstmals Ende der siebziger Jahre mit Protestmärschen und Gedenkveranstaltungen begegnet. Sie thematisieren offen die Verbrechen und das Leid in der Diktatur. Diese für die Teilnehmenden nicht ungefährlichen Gegenveranstaltungen etablierten sich in den Folgejahren. „Damit kam die Deutungsmacht des Regimes an einem zentralen Punkt ins Wanken“, resümiert der Historiker Stefan Rinke diese Entwicklung.ii Nicht zuletzt die massiven Proteste in den 1980ern haben den Weg für das „Bündnis der Rückkehr zur vollen Demokratie“ bereitet. Ende der Achtziger Jahre lancierte dieses eine landesweite Kampagne gegen eine weitere Amtszeit Pinochets. Als 1988 der Volksentscheid „No“ lautete, war dies der Auftakt zum Prozess des paktierten Übergangs. Dieser fand 1990 in den ersten demokratischen Wahlen und im Sieg der Concertación seinen Höhepunkt.

 

Das erste Jahrzehnt der Concertación war geprägt von zaghaften Versuchen, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Mit der Einführung der Kommission Rettig 1990 kam erstmals eine systematische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur zustande. Der Kommission oblag es allerdings nur, die Todesopfer zu registrieren, das Thema Folter wurde ausgespart. Das lag nicht zuletzt am gesellschaftlichen Klima, das durch Spannungen zwischen Militär und Politik sowie der Opposition und der Regierung geprägt war. Bis Ende der 1990er Jahre verteidigten Militärs den Putsch als notwendigen Eingriff. Auch wenn 1993 erstmalig Offiziere wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt wurden, fiel die Strafverfolgung milde aus.

 

Lassen sich die ersten Bemühungen der Concertación noch einer Problematisierung der Vergangenheit zuordnen, so änderte sich der Kurs ab 2001. Auf die intensiven Auseinandersetzungen mit den vergangenen Geschehnissen und die klare Trennung zwischen TäterInnen und Opfern folgte eine harmonisierende Erinnerungspolitik. Die Concertación versicherte sich selbst der Läuterung durch die jüngere Geschichte und renovierte eifrig das nationale Ansehen. Motor dieser Politik war die Versöhnung der Gesellschaft, welche sich aus der völkischen Ideologie einer „verlorenen Einheit“ speiste, „die es wieder herzustellen gelte“.iii Die Schaffung einer nationalen Einheit verdrängte zusehends kritische Diskurse, die dieses Vorhaben gefährdeten. Parolen wie „Kein Vergeben, kein Vergessen!“ standen nur noch auf den Spruchbändern und Pappschildern der Menschenrechtsorganisationen. Die Concertación wollte davon nichts mehr wissen. Mit dem Wunsch nach Einheit und Befriedung der Konfliktparteien ging die Forderung einher, man müsse auch in die Zukunft blicken. Die demokratische Entwicklung, der soziale Fortschritt und die ökonomische Stabilität gelte es nicht zu gefährden. Die unerbittliche Beschäftigung mit der Vergangenheit durch Opferverbände und linke Gruppen reiße nur alte Wunden auf, was keinen Fortschritt zulasse. Dieser Haltung schloss sich auch die katholische Kirche und Teile der Medienlandschaft an. Konfliktreiche Felder wurden gemieden und soziale Themen wie Armut aus den geschichtlichen Zusammenhängen gerissen.

Gleichwohl sind unter Bachelet, der amtierenden Präsidentin, Initiativen wie die Errichtung des Museums der Erinnerung zu verzeichnen. Ein solches Museum stellt einen bedeutenden Schritt dar, der Erinnerung einen weiteren festen Platz zu verschaffen. Neben der höchst fraglichen Annahme, der von der Regierung eingeschlagene Kurs ändere sich dadurch, besteht zudem eine handfeste Gefahr, dass die dadurch institutionalisierte Verwaltung des gedenkens die bestehende Erinnerungspolitik der Concertación weiter untermauert.


 

Glorifizierende Sichtweisen

2003, zum 30. Jahrestag des Putsches, wurden die Diktatur und ihre Folgen erneut breit diskutiert. Schon Monate vor dem 11. September wurden Seminare an Universitäten abgehalten, eine Vielzahl von Büchern und Reportagen veröffentlicht und inner- wie zwischenparteiliche Debatten geführt. Zu einer kritischen Auseinandersetzung kam es allerdings nicht. Vielmehr bekräftigte die Concertación ihre harmonisierende Erinnerungspolitik mit der Begehung offizieller Zeremonien. Zentral war hierbei die Einweihung der Pforte Morandé 80 am Moneda-Palast. Diese Zeremonie hatte eine Doppelbedeutung: einerseits liefen seinerzeit durch die Pforte alle Staatsbeamten der Unidad Popular hindurch, von SekretärInnen bis zu den höchsten MinisterInnen. Anderseits verließ auch der Leichnam Allendes die Moneda durch diese Pforte. Ihre Symbolik stellt den Versuch dar, gegensätzliche Positionen miteinander zu versöhnen. Begleitet wurde die Zeremonie von der Verlesung der Menschenrechte durch die katholische Kirche. Beim Gedenken wurden die zivilen und militärischen Opfer in einem Atemzug genannt, ohne Unterschiede zu benennen. Zum Repertoire der Concertación gehört auch die Zurechtstutzung der Figur Allendes. Gesinnung und Politik Allendes werden zunehmend ausgeblendet und seine Rolle ausschließlich auf das eines Opfers runtergekürzt.

 

Die chilenische Rechte – eine Gesinnungsgemeinschaft aus konservativen Medien, reaktionären Politikern und Militärs – begann am 30. Jahrestag einen Feldzug gegen missliebige Formen der Erinnerung. El Mercurio, die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, erinnerte an den "Beginn einer Periode ökonomischer und sozialer Modernisierung" und gedachte der finalen "Überwindung" des bewaffneten Terrors der Linken. Eine solch glorifizierende und revisionistische Sicht auf die Geschichte wundert nicht sonderlich, galt das Blatt schon in den 1970ern als erbitterter Gegner Allendes und der Unidad Popular. Rechte Oppositionelle riefen in El Mercurio zum Sturz der Regierung auf – Meinungsmache, die als Information verkauft wurde. Während der Diktatur zählte der hinter der Zeitung stehende Medienkonzern der Familie Edwards zu einem der großen Profiteure des Regimes. Während die demokratische Konkurrenz verboten, die Pressefreiheit abgeschafft wurde und Journalisten ermordet wurden, konnte sich das Unternehmen ungehindert ausbreiten.iv

 

Die Rechte blieb ihren Ansichten und Erinnerungspraktiken über die Jahre hinweg nahezu treu. Schweigt sie sich einmal nicht über die Dikatur aus, hebt sie deren Vorzüge hervor – zumeist die wirtschaftliche Entwicklung. Die Betonung der Notwendigkeit militärischer Intervention gegen den "Krebs des internationalen Kommunismus", wie sie 2003 erneut propagiert wurde, verharmlost nicht nur die systematische Verfolgung und Ermordung tausender Oppositioneller, sondern rechtfertigt sie weiterhin.

 

 

Zerschmetterter Nachlass

Die „autoritäre Demokratie“, wie die chilenische Psychologin Isabel Piper das Staatswesen in Chile benennt, pflegt seit jeher einen harten Umgang mit sozialen Bewegungen, die sich nicht den vom Staat festgesetzten Spielregeln unterordnen wollen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Piper erforscht seit Jahren an der Universidad de Chile in Santiago die sich ändernden Akteure und Konfliktlinien in der Erinnerungspolitik. Ihrer Ansicht nach leidet der zentrale Gedenkmarsch, wenngleich bedeutsamstes und größtes Ereignis der kritischen Aufbereitung der Vergangenheit, seit Jahren stark an Bedeutungsverlust.

 

Dies zeigt sich einerseits in der Jahr für Jahr beständig sinkenden TeilnehmerInnenzahl, andererseits in der geringen medialen Aufmerksamkeit. Über Jahre hinweg berichteten die bürgerlichen Medien allenfalls von den Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und der Polizei. Die Forderungen der DemonstrantInnen wurden, wenn überhaupt, nur am Rande angeschnitten. Die Gründe hierfür sind divers; einer mag sicherlich der stark institutionalisierte und ritualisierte Ablauf sein. Die jährliche Traditionspflege markiert mit ihrer Demonstrationsroute den Untergang der Unidad Popular, des chilenischen Weges zum Sozialismus: Von der Moneda, dem Machtzentrum Chiles, hin zum Grab des Ex-Präsidenten Allendes. Jahr ein, Jahr aus wird der zerschmetterte Nachlass der Unidad Popular auf diesem Wege zu Grabe getragen.

 

Sollte im Dezember 2009 der rechtspopulistische Kandidat der Alianza por Chile Sebastián Piñera die Wahlen gewinnen, kommen auf die sozialen Bewegungen keine rosigen Zeiten zu. Schon jetzt malt er in den Medien aus, was auf die Gesellschaft zukommen wird: eine Erhöhung der Zahl der Carabineros im Land und eine Verschärfung der Gesetzgebung gegen Kriminelle.

2010 feiert Chile seine 200-jährige Unabhängigkeit, den so genannten Bicentenario. Die Werbetrommel für dieses Großereignis wird schon jetzt kräftig gerührt. Die Medien ziehen munter mit, der nationale Kitt schweißt eben zusammen. Als bedeutendenstes Happening gilt vor allem der 18. September, der Nationalfeiertag. Es steht außer Frage, dass sich der Staat dieses Spektakel nicht von einer Handvoll 'linker KrawallmacherInnen' eine Woche zuvor verderben lassen will.

 

 

Anmerkungen

i Das Bündnis Concertación setzt sich aus folgenden Parteien zusammen: Partido Demócrata Cristiano, Partido Socialista, Partido por la Democracia, Partido Radical Social Demócrata. Allgemein stehen die Parteien in Chile weiter links als ihre Namensvettern in Deutschland

ii Stefan Rinke: Kleine Geschichte Chiles. München 2007, S. 168

iii Marcelo Casals Araya. El Poder de los Silencios y los Silencios del Poder. Los Vaivenes de las Conmemoraciones del „Once“ Chileno. 2001 – 2006. In: Nuestra Historia, Jahrgang 2, Nr. 2, Dez. 2007, S. 87

iv Vergleiche das Feature von Karl-Ludolf Hübener im Deutschlandradio: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/dasfeature/878690/

 

 


 

Der Artikel erschien in der Ausgabe 315 - November/Dezember 2009 - der iz3w. Der Artikel befindet sich im Anhang.