Repression in der Türkei: Erdoğan hat Ohrensausen

Erstveröffentlicht: 
06.11.2016

Nach den Verhaftungen will die Oppositionspartei HDP das Parlament boykottieren. Staatschef Erdoğan ist immun gegen Kritik.

 

Von Jürgen Gottschlich, Auslandskorrespondent Türkei

 

BERLIN taz | Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat am Sonntag Kritik an der Verhaftung von Oppositionsabgeordneten zurückgewiesen und seinerseits Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Erdoğan betonte, Kritik aus dem Ausland sei ihm gleichgültig. „Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt.“ Der EU warf Erdoğan vor, PKK-Anhängern Unterschlupf zu bieten.

 

Mit einem radikalen Schritt reagierte die kurdisch-linke HDP auf die Verhaftung ihrer Parteichefs und weiterer Abgeordnete vom Freitag: Die drittgrößte Partei der Türkei will künftig das Parlament boykottieren. „Angesichts des schwärzesten Tages in der Geschichte unserer demokratischen Politik stellen wir unsere Mitarbeit im Plenum und den Ausschüssen des Parlaments ein“, sagte ein Parteisprecher am Sonntagvormittag in Diyabakır.

HDP-Mitglieder erklärten, angesichts der verschärften Repression sei eine normale Arbeit im Parlament nicht mehr möglich und mache auch keinen Sinn mehr. Das Land bewege sich ohnehin auf eine Einmanndiktatur zu, parlamentarische Entscheidungen spielten da kaum noch eine Rolle.

Viele Anhänger der HDP erwarten nun von der anderen Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, dass diese sich dem Parlamentsboykott anschließt. CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu hat zwar die Verhaftungen der HDP-Führung scharf kritisiert, bislang aber zum Boykott keine Stellung genommen.
Neun Oppositionelle in Untersuchungshaft

Das machten am Samstag Hunderte Demonstranten, die sich rund um die Moschee im Istanbuler Bezirk Sisli versammelten, um sowohl gegen die Verhaftungen der HDP-Abgeordneten wie auch der Journalisten der Zeitung Cumhuriyet zu protestieren. Deren Redaktionsgebäude befindet sich nahe der Sisli-Moschee. Nach einer Kundgebung wollten die Demonstranten zur Cumhuriyet-Zentrale marschieren. Doch die Polizei griff die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas an. Gruppen von Flüchtenden wurden durch die Straßen des Viertels verfolgt.

 

Unterdessen sind die Festgenommenen aus den Reihen der HDP-Führung wie von Cumhuriyet den Haftrichtern vorgeführt worden, die bei neun von ihnen Untersuchungshaft anordneten. Zu diesen zählen neben Chefredakteur Murat Sabuncu der Karikaturist Musa Kart und der Kolumnist Kadri Gürsel. Die Kolumnisten Hikmet Çetinkaya und Aydin Engin wurden aus gesundheitlichen und Altersgründen freigelassen, stehen aber weiterhin unter Kontrolle der Justiz. Zwei weitere Cumhuriyet-Mitarbeiter kamen frei, nachdem die Vorwürfe gegen sie fallengelassen wurden.
Die „Kurdischen Freiheitsfalken“ bekennen sich

In politischen Verfahren wie die, die nun gegen HDP und Cumhuriyet anstehen, kann die Untersuchungshaft jahrelang andauern, bevor es zu einem Prozess kommt. Sabuncu und die übrigen acht verhafteten Journalisten wurden in das Spezialgefängnis für politische Gefangene in Silivre gesteckt, HDP-Chef Selahattin Demirtaş und Kochefin Figen Yüksekdağ kamen in die Hochsicherheitsgefängnisse in Edirne und Kocaeli in der Westtürkei; weit weg von Diyabakır im kurdisch geprägten Osten des Landes, wo ihre Familien und politischen Anhänger leben.

Überraschend haben sich am Sonntag die „Kurdischen Freiheitsfalken“ (TAK), eine Unterorganisation der verbotenen kurdischen PKK, zu dem verheerenden Bombenanschlag in Diyabakır von Freitag bekannt. Das Attentat fand in unmittelbarer Nähe eines Polizeikomplexes statt, in dem sich zur selben Zeit die kurz zuvor festgenommenen Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ aufhielten. Schon am Samstag hatte sich der „Islamische Staat“ zu dem Attentat bekannt. Die Selbstbezichtigung der TAK unterstützt die Auffassung der Regierung, die von Beginn an behauptet hatte, der Anschlag gehe auf das Konto der PKK.