Am Samstag erschien im neuen deutschland (8./9.10.2016, S. 21) ein Artikel von Raul Zelik mit der Überschrift „Macht Gegenmacht!“. Bereits am Freitag erschien von uns selbst auf der Webseite des ND ein Artikel zum Thema „Verteilungs- oder Produktionsfragen in den Mittelpunkt stellen?“. Beide Artikel konvergieren in 2 x 2 Thesen:
Raul: „In bürgerlichen Gesellschaften ist Macht [...] nicht in erster Linie im politischen Apparat angesiedelt, sondern in den Eigentumsverhältnissen […] und in den antrainierten Handlungsmustern der Individuen (das ist die gouvernementale Seite der Macht). Linke Politik hat deshalb nur dann eine Perspektive, wenn sie die Macht der Großkapitalvermögen durch soziale Kämpfe und die allgemein durchgesetzten Handlungsmuster durch gegenkulturelle Formen […] zurückdrängt.“
systemcrash/TaP: „Solange das produktive Kapital sich in Privathand befindet, ist auch die Einkommensverteilung ‚ungleich’ (denn den Mehrwert [...] bekommen diejenigen, die die Produktionsmittel besitzen, d.h. die produzierten Produkte verkaufen und die Einnahmen daraus realisieren); diese Konzentration des Reichtums ist also eine sekundäre Wirkung des Privateigentums an Produktionsmitteln, der Tausch gleicher Wertquanta – Lohn gegen Arbeitskraft – bleibt dabei unangetastet. Das heißt wiederum: Der Konzentration des Reichtums kann letztlich nur dann wirksam begegnet werden, wenn die ‚Primärverteilung’, also die Aufteilung in private KapitaleignerInnen und (produktionsmittelfreie) ArbeitskraftbesitzerInnen angetastet wird. Und das heißt konkret, die Lohnabhängigen müssen die Produktionsbedingungen unter ihre kollektive Kontrolle bringen.“
Raul: „Ein Reformismus, den man ernst nehmen könnte, müsste zunächst einmal einen radikalen Perspektivwechsel vollziehen: Er müsste konsequent aus der Perspektive der Gesellschaft gedacht werden und auf die Entfaltung sozialer Gegenmacht – statt auf die symbolische Macht von PolitikerInnen – setzen.“
systemcrash/TaP: „Ein sozial- oder steuerpolitischer gesetzgeberischer Erfolg im Sinne von mehr ‚Verteilungsgerechtigkeit’ mag die vorherige Eroberung gesellschaftlicher Gegenmachtpositionen voraussetzen, ist aber selbst keine Gegenmachtposition, sondern läßt die Entscheidungsgewalt beim Staatsapparat und macht den Entscheidungsinhalt von dem jeweiligen dortigen politischen Kräfteverhältnis abhängig. Zumindest tendenziell etwas anderes wären gesetzliche Regelungen, die mehr gesellschaftliche Handlungsspielräume für die Lohnabhängigen eröffnen, z.B. die Abschaffung der Pflicht der Betriebsräte zur ‚vertrauensvoll[en]’ Zusammenarbeit mit der Kapitalseite zum Zwecke des ‚Wohl[s] der Arbeitnehmer und des Betriebs’ (§ 2 Abs.1 BetrVG) oder ein Verbot von Aussperrung; noch etwas anderes wäre die Besetzung eines Betriebes und dessen Verteidigung gegen die Polizei.“
Das heißt: Wir sind uns einig, dass
(unter dem Gesichtspunkt der Klassenverhältnisse): die Eigentumsverhältnisse (in Bezug auf die Produktionsmittel) (und nicht erst die Verteilung der jährlichen Einkommen) das Ausschlaggebende sind
und dass es nicht darauf ankommt, Vertrauen in den bestehenden Staat zu investieren, sondern Gegenmacht zu entwickeln.
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Eine Differenz ergibt sich allerdings aus folgender These von Raul:
„Wenn man sich die Geschichte der Revolutionen vergegenwärtigt, die stets mit (Bürger-)Krieg und der autoritären Verteidigung der Staatsmacht durch revolutionäre Führungsgruppen einhergingen, begreift man schnell, warum Subalterne ihre Unzufriedenheit so selten in revolutionäres Aufbegehren verwandeln.“
Auch diese These ist auf der beschreibenden Ebene zutreffend; allerdings überzeugt es uns nicht, diesen bisherigen Geschichtsverlauf als Schicksal hinzunehmen. Zwar dürften grundlegende Veränderungen ohne BürgerInnenkrieg um die Macht nicht sehr wahrscheinlich sein; aber nicht notwendig ist unseres Erachtens, dass dieses zu einer Verselbständigung der Führung gegenüber etwaigen revolutionären Massen führen muss.
Vor allem sind wir der Überzeugung, dass sich Gegenmachtpositionen nicht mehr und mehr ausbauen lassen, ohne – früher oder später – vor die Machtfrage gestellt zu sein. Jedes besetze Haus und jede Straßensperre von streikenden ArbeiterInnen, die geräumt werden, zeigen dies – noch lange, bevor sie zu wirklichen Bedrohungen für die powers that be werden.
Deshalb stellten wir in unserem Artikel von Freitag die These auf: „Wir teilen unsererseits die Ansicht, daß [...] Angriffe auf die ‚unternehmerische Autonomie’ […] für die Eroberung von ‚Gegenmachtpositionen’ und deren Weiterentwicklung in Richtung ‚ArbeiterInnenkontrolle’ [...] wichtig sind.“ Denn: „ArbeiterInnenkontrolle“ im strengen Sinne ist mehr als bloße Gegenmacht: „Normalerweise üben […] die Gewerkschaften eine gewisse Kontrolle im konventionellen Sinne über Produktionsbedingungen, Arbeitsnormen und dergleichen aus“. ArbeiterInnenkontrolle im strengen Sinne ist dagegen „Doppelherrschaft auf Betriebsebene“ – also „ein Aspekt (gewöhnlich ein sekundärer) einer verallgemeinerten revolutionären Krise“.1
Solange diese „verallgemeinerte revolutionäre Krise“ aber noch nicht herangereift ist – bzw. noch Lichtjahre von unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt ist2 –, stimmen wir Raul Zeliks Plädoyer, so würden wir ihn ‚übersetzen’ wollen, für einen „Kampf von unten um Reformen (im vor-neoliberalen Sinne)“ zu – allerdings eingebunden in eine (nicht nur Sonntagsrede seiende, sondern die konkrete Form der Tagespolitik bestimmenden) Perspektive der revolutionären Umwälzungen.
2 Wir stimmen Raul ausdrücklich zu, dass „es im Moment keine Anzeichen für einen linken Massenaufbruch gibt“.