Hunderte Flüchtlingskinder in hessischen Erstaufnahme-Einrichtungen gehen oft monatelang nicht in die Schule. Dabei haben sie ein Recht darauf. Was die Bildungsgewerkschaft GEW einen Skandal nennt, hat aus Sicht der Landesregierung praktische Gründe.
Sein Mäppchen kramt Mobin mit dem Stolz eines frischgebackenen Erstklässlers aus seinem blauen Schulranzen mit den vielen Fußballspielern drauf. Der Sechsjährige zückt einen Bleistift. Es kann losgehen.
Dieser Morgen ist nach der Einschulung vor einer Woche der nächste große Moment für den Jungen aus Afghanistan und die anderen Schüler in der Fuchsklasse der Neu-Isenburger Buchenbusch-Grundschule. Ihre Lehrerin wird ihnen gleich den allerersten Buchstaben zeigen. Das L. "L, wie Lampe", erklärt sie, und zeigt auf ein kleines Bild. Oder: L, wie lernen.
"Bildung ist so wichtig"
Viel lernen. Mobin muss Deutsch lernen. Der Junge ist mit seinen Eltern im Dezember aus Afghanistan geflohen. Bis die Familie von der Erstaufnahme der Stadt Neu-Isenburg zugewiesen wurde, war es Juni. Zu spät, um noch in den Kindergarten zu gehen, aber noch genug Zeit für die Schulanmeldung, mit der Hilfe ehrenamtlicher Isenburger. "Wer da auf die Ämter wartet, kann lange warten", sagt eine Helferin der katholischen Kirchengemeinde St. Josef, die auch Spenden für Mobins Schulmaterial sammelte.
Mobins Vater fiel ein Stein vom Herzen, als er hörte, dass sein Sohn zum Start des Schuljahres eingeschult wird. "Bildung ist so wichtig", sagt der 35-Jährige, der in Kabul als IT-Techniker für die ISAF-Truppen gearbeitet hat.
Fußball spielen von früh bis spät
Der gleiche Vormittag in Frankfurt. Raed, Khald und Mustafa, drei Brüder im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren aus Syrien, kicken einen abgewetzten Fußball an die Fassade ihrer Unterkunft auf dem Gelände der Goethe-Universität. Von früh bis spät geht das so, Tag für Tag. Seit zehn Monaten waren die Jungen nicht mehr in der Schule. Das letzte Mal saßen sie im vergangenen November in Syrien im Unterricht.
Ihr Vater, Salih Al Soltan, der in seiner Heimat als Banker gearbeitet hat, ist am Verzweifeln. "Meine Kinder müssen in die Schule gehen, sie können doch nicht den ganzen Tag Fußball spielen", sagt er, während er, immer makellos mit Anzug gekleidet, am Rand ihres Spielfeldes steht - zwei auf den Betonplatten des Innenhofs eingezeichnete Behindertenparkplätze.
Um einen Hauch von Normalität im Tagesablauf zu wahren, habe er sich angewöhnt, die Kinder morgens um 7 Uhr zu wecken. Sie sollen den Tag nicht verschlafen, meint er. So macht er das, seitdem sie im Februar in der Neu-Isenburger Erstaufnahme ankamen. Ende Juli wurden sie der Stadt Frankfurt zugewiesen, hier warten sie den Ausgang ihres Asylverfahrens ab. Jeden Morgen fragen die Jungen, was sie heute machen könnten.
Rund 1.000 Kinder im schulpflichtigen Alter in Erstaufnahmen
Das Schicksal des monatelangen Nichtstuns teilen die drei mit hunderten Kindern in Erstaufnahme-Einrichtungen in Hessen. Nach Angaben des Sozialministeriums sind unter den etwa 5.800 Bewohnern, die derzeit in den hessischen Erstaufnahme-Einrichtungen leben, rund 1.000 Kinder im Alter zwischen 6 und 16 Jahren, also eigentlich schulpflichtige Kinder.
Tatsächlich gehen nur wenige von ihnen zur Schule. Die Schulpflicht beginnt in Hessen mit der Zuweisung in eine Kommune, erklären das Kultus- und das Sozialministerium in Wiesbaden. Salih Al Soltan, der Vater von Mustafa, Khald und Raed, hat selbst nach ihrer Zuweisung nach Frankfurt wochenlang nichts in Sachen Einschulung seiner Söhne gehört.
Theoretisch bestehe zwar schon früher, also noch in den Erstaufnahmen, ein Schulbesuchsrecht. Dieses werde aber in der Praxis nicht nachgefragt, ergänzt ein Sprecher von Kultusminister Alexander Lorz (CDU). Die Menschen müssten nach der Flucht erst einmal ankommen, und auch pädagogisch sei es nicht sinnvoll, die Kinder in Erstaufnahmen schon einzuschulen. Mit der Zuweisung in eine Kommune sei oft der nächste Umzug in einen anderen Ort vorprogrammiert.
"Bildung ist ein Menschenrecht"
Bildungsexperten sehen das anders. Einen Skandal nennt Birgit Koch, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), diese Regelung. Bildung sei ein Menschenrecht, und zwar vom ersten Tag an, an dem Flüchtlinge in Deutschland lebten, "egal, ob die Menschen hier bleiben oder nicht".
Den Kindern fehle eine Tagesstruktur, es entstünden Wissenslücken und beim Deutschlernen gehe wertvolle Zeit verloren. Andere Bundesländer würden vormachen, "dass es geht".
"Während der Sommerferien etwas länger hingezogen"
Das Beispiel von Salih Al
Soltan zeigt aber auch, dass manche Kinder auch dann noch nicht in die
Schule gehen, obwohl sie längst einer Gemeinde zugewiesen sind.
Inzwischen hat die Familie immerhin Post vom zuständigen Frankfurter
Sozialdezernat erhalten. Zufall oder nicht, unmittelbar nachdem hessenschau.de das erste Mal über seinen Fall berichtete, bekommt der Familienvater einen Termin im September beim zuständigen Schulamt.
Wann
die Kinder tatsächlich eingeschult werden, ist aber weiter offen - es
fehlt schließlich auch noch der Termin für die ärztliche
Einschulungsuntersuchung. Es habe sich "schlicht aufgrund der
Sommerferien etwas länger hingezogen", teilt die Stadt mit.
Die
Aussicht aber, dass seine Kinder bald wieder in die Schule gehen können,
beruhigt den Vater - auch seine Frau, wie Al Soltan sagt. Die Ehefrau
ist selbst Lehrerin. Sie ist in Syrien bei der Großmutter geblieben, die
Jungen telefonieren jeden Tag mit ihr.
Zurück in Neu-Isenburg: Mobins Klassenlehrerin ist zuversichtlich, dass der Sechsjährige schnell Deutsch lernen wird. "Er ist aufgeweckt und lernbegierig", sagt sie. Sie hat ihn bewusst zu sich in eine Regelklasse geholt, statt ihn in eine Intensivklasse zu schicken. Dort wäre er die meiste Zeit von deutschen Schülern getrennt. "Kinder lernen von anderen Kindern doch am schnellsten", sagt sie.