Jineologie bedeutet Frauenwissenschaft und zugleich auch Lebenswissenschaft, Gönül Kaya, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung
Der Beitrag »Warum Jineologie« wurde bereits auf der Jineologie-Konferenz, die vom 28. Februar bis 2. März 2014 in der Uni Köln stattfand, von Gönül Kaya gehalten. Die Konferenz war von dem Frauenbegegnungszentrum Utamara, dem Kurdischen Frauenbüro für Frieden Cenî und der Internationalen Stiftung der Freien Frauen organisiert worden.
Liebe Frauen, sehr geehrte Gäste,
zu Beginn meines Beitrags möchte ich Sie alle herzlich willkommen heißen.
Ich gratuliere allen, die ihren Beitrag zum Gelingen dieser Konferenz, welche ich aus Sicht der Geschichte des Frauenbefreiungskampfs als wichtigen Schritt bewerte, geleistet haben. Außerdem möchte ich allen Frauen, welche über die Zeiten hindurch im Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung Widerstand geleistet und große Opfer gebracht haben, meinen Respekt, meine Liebe und Dankbarkeit aussprechen. Vor allem den am 9. Januar 2013 in Paris ermordeten kurdischen Frauen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez, denen diese Konferenz gewidmet ist.
Der Titel meines Redebeitrags lautet »Warum Jineologie?«. Die Jineologie wird von der Freien Frauenbewegung Kurdistans als eine wichtige Stufe in ihrem seit etwa 30 Jahren andauernden intellektuellen, ideologisch-politischen Selbstverteidigungs- und Organisierungskampf gewertet. Diese von der kurdischen Frauenbewegung, den Frauenbewegungen der Welt, all denen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, also Ihnen allen dargereichte Jineologie möchte ich – wenn auch nur kurz – in ihren Grundrissen vorstellen.
Die Jineologie wird im Freiheitskampf der kurdischen Frauen als die »Bildung eines Frauenparadigmas« bezeichnet. Dies stellt aus Sicht der kurdischen Frauenbewegung eine neue Phase dar. Die kurdische Frauenbewegung entstand und entwickelte sich innerhalb des kurdischen Volksbefreiungskampfs. Ab 1987 begann sie in Kurdistan mit spezifischer und autonomer Frauenorganisierungsarbeit. Nach dieser Entwicklung geschahen in Kurdistan wichtige Veränderungen und Wandlungen, welche auch den gesellschaftlichen Kampf bestimmt haben. Die kurdische Frauenbewegung hat einerseits ihre spezifische und autonome Organisierung intern vorangetrieben, aber andererseits auch ihre Ergebnisse in alle Bereiche des gesellschaftlichen Kampfs getragen und somit geteilt. Die 1989 gegen die Kolonialisierung Kurdistans begonnenen Volksaufstände – auf Kurdisch Serhildans – wurden von Frauen angeführt. Aus Sicht der Gesellschaft in Kurdistan war dies der Beginn einer nationalen Widerstandsphase mit einem neuen, Frauen ins Zentrum rückendem Charakter. In diesem Sinne hat die Frauenbewegung ihre theoretischen und praktischen Arbeiten auf Feldern wie Intellekt, Politik, Gesellschaft, Kultur und Selbstverteidigung vorangetrieben. Die folgenden wichtigen Etappen sind: 1993 – Gründung der Frauenarmee, 1996 – Theorie und Praxis der Loslösung vom patriarchalen System, nach 1998 – Frauenbefreiungsideologie, 1999 – Parteiwerdung, ab 2000 Aufbau des demokratischen Gesellschaftssystems im Sinne des Paradigmas der demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft. In diesem Rahmen Aufbau von Frauenräten, -akademien und -kooperativen. Zusammen mit dem Leitsatz »Die Befreiung der Frau ist die Befreiung der Gesellschaft« konzentrierte sich die Frauenbewegung auf ideologische, philosophische und intellektuelle Arbeiten. Im Rahmen der Einheit von Theorie und Praxis arbeitete sie auf eine Umwandlung des Denkens von Frau und Gesellschaft sowie eine Steigerung des Bewusstseins hin. Hierbei suchte sie nach Antworten auf Fragen wie »Wer ist die Frau?«, »Wo kommt sie her?«, »Wo geht sie hin?«, »Wie hat sie bis heute gelebt?«, »Wie sollte Frau leben?«, »Was für eine Gesellschaft?« und entwickelte eine Kritik des herrschenden Wissenschaftssystems.
Wie Sie alle wissen, haben in der Geschichte Herrschende und Machtträger ihre Systeme zunächst im Denken errichtet. Als Verlängerung des patriarchalen Systems ist ein Feld von Sozialwissenschaften geschaffen worden, welches vom Charakter her männlich, klassenspezifisch und sexistisch ist. Dieses Feld ist wiederum in verschiedene, voneinander losgerissene Teile zerstückelt. Die Umsetzung der Deutungen dieser Wissenschaften hat für die Natur, die Gesellschaft und den Menschen zerstörerische Resultate mit sich geführt: die Normalisierung von Militarismus und Gewalt, die Vertiefung von Sexismus und Nationalismus, die haltlose Weiterentwicklung von Technologie, vor allem der Waffentechnologie, für die Kontrolle von Gesellschaft und Individuen, die Zerstörung der Natur, Nuklearenergie, krebsartige Urbanisierung, demographische Probleme, unökologischer Industrialismus, gordische Knoten für soziale Fragen, extreme Individualisierung, die Zunahme sexistischer Politik und Praxis gegenüber Frauen, nur auf dem Papier existierende Rechte und Freiheiten ...
An diesem Punkt kommen wir zum Jineologie-Vorschlag. Es wurde die Feststellung gemacht, dass die Überwindung des Systems eines herrschaftlichen Wissenschaftsfelds und die Errichtung eines alternativen Systems von Wissenschaften notwendig sind. Außerdem gelangte mensch zu der Perspektive, dass das bestehende Feld der Sozialwissenschaften von gesellschaftlichem Sexismus befreit werden muss.
Der Begriff der Jineologie ist zum ersten Mal vom kurdischen Repräsentanten, Herrn Abdullah Öcalan, in seinen Schriften ab 2003, konkret in seinem Werk »Die Soziologie der Freiheit«, benutzt worden. Öcalan brachte zum Ausdruck, dass die Notwendigkeit besteht, dass Frauen und alle Individuen, Gesellschaften und Völker, die nicht Träger von Macht und Staat sind, ihre eigenen und freien Sozialwissenschaften entwickeln, dass diese Wissenschaften Soziologie der Freiheit genannt werden können, dass diese wiederum auf Grundlage von Jineologie entwickelt werden kann, dass auch Bewegungen, die mit dem Ziel einer freien, gleichen und demokratischen kommunalen Gesellschaft kämpfen, ein großes Bedürfnis nach Jineologie haben.
Der Begriff Jineologie bedeutet »Frauenwissenschaft«. »Jin« ist kurdisch und bedeutet »Frau«. Logie stammt vom griechischen Begriff für Wissen ab. »Jin« wiederum stammt vom kurdischen Begriff »Jiyan« ab, welcher »Leben« bedeutet. Im indoeuropäischen Sprachgebrauch und im Mittleren Osten sind Jin, Zin oder auch Zen, die alle »Frau« bedeuten, gleichbedeutend mit Leben und Vitalität.
In der Menschheitsgeschichte wird das Geschlecht der Frau als erste Existenz, die Erkenntnis über das eigene Selbst gewonnen hat, bewertet. Das Leben und die Sozialität wurden auf Grundlage von moralischen und politischen Prinzipien mit der Frau im Zentrum gestrickt. Die natürliche Gesellschaft mit ihren moralischen und politischen Werten wurde von der Frau errichtet. Zwischen der Frau und dem Leben besteht ein nicht zu lösendes Band. Gegenüber der Wirklichkeit des Lebens ist die Frau umfassender. Die Frau stellt sowohl als Körper als auch als Bedeutung den umfassendsten Teil der sozialen Natur dar. Dies ist der Grund für eine derartige Gleichsetzung der Frau mit dem Leben. Die Frau steht für das Leben, das Leben symbolisiert die Frau. Aus diesem Grund wird die Jineologie als Frauenwissenschaft zugleich auch als Lebenswissenschaft bezeichnet.
Bei genauer Betrachtung der patriarchalen Systemetappen, beginnend mit der sumerischen Zivilisation, wird deutlich, dass die Herrschenden bis zum heutigen Tag ihre Machtpositionen zunächst im Denken errichtet haben. Beispielsweise die Unterscheidung von Subjekt und Objekt in den modernen Wissenschaften ist in gesellschaftlichen Strukturen zunächst im Geiste errichtet worden. Mit dieser Fiktion wurde der Gesellschaft eingetrichtert, dass Mann Subjekt, Frau Objekt, Herr Subjekt, Knecht Objekt, Staat Subjekt, Gesellschaft Objekt sei. Diese Machtlogik hat sowohl Frau als auch Gesellschaft an diese Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten glaubend gemacht. Mythologie, Philosophie und Wissenschaft hat sie sich hierfür zunutze gemacht. Das Paradigma des gesellschaftlichen Sexismus ist in diesem Sinne aufgebaut worden.
Wissensgefüge bedürfen, ihrer Natur entsprechend, freie Diskussion. Aber wenn wir uns die Beziehung zwischen Wissen und Macht anschauen, ist dies nur schwer zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist die Hinterfragung von patriarchalen, machtzentrierten Strukturen notwendig. Ebenso beginnend mit einer Epistemologie zugunsten von Mensch, Frau, Natur und Gesellschaft besteht die Notwendigkeit für eine neue Untersuchung, Deutung, Erneuerung und Bewusstwerdung. Die Prinzipien, Hypothesen und Ergebnisse der bestehenden Sozialwissenschaften müssen erneut und kritisch erörtert werden. Richtige und falsche Informationen müssen voneinander getrennt werden. Es ist von großer Bedeutung, dass wir eine wahrheitsgemäße Deutung der geschichtlichen Gesellschaft erreichen.
Die Frau stellt auch heute eine Realität dar, auf der die meisten Politiken betrieben werden. Diese Politiken werden nicht entwickelt, um die Frau zu befreien oder ihren Willen zu stärken. Aufgrund dieser Politiken wird die Frau stärker unterdrückt, auf feine oder harte Weise getötet, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart verdunkelt. Heute stehen Wissen und Wissenschaft an vorderster Stelle der grundlegenden Machträume. Bei der ständigen Reproduktion von frauen- und gesellschaftsfeindlichen Ideologien und Politiken in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Religion, Technologie, Philosophie etc. spielen die Wissenschaften eine große Rolle. Die Verknüpfung zwischen Wissen und Macht zusammen mit der Ausgrenzung von Ethik ist vor allem in diesem Zeitalter unbegrenzt vorangetrieben worden. Der sexistische Charakter der Wissenschaft hat am meisten in diesem Zeitalter Probleme als unlösbar erklärt und vertieft.
Die Sozialwissenschaften im generellen Sinn überdecken den Fakt, dass es sich bei der Frau um eine soziale Wirklichkeit handelt. Das herrschende Verständnis von Wissenschaft legt das, was der Frau gehört, angefangen in der Geschichte, nicht frei. Bei der Beschreibung der Frau und ihrer gesellschaftlichen Rolle definiert das herrschende Wissenschaftsverständnis Statuten über die biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann. Beispielsweise ausgehend von ihrer Gebärfähigkeit soll weisgemacht werden, dass sie allein »auf Emotionalität gestützt« handele. Oder aufgrund der körperlichen Unterschiede des Mannes wird behauptet, Gewalt sei Teil seiner Natur. Gleiches soll mit wissenschaftlichen Begriffen und Experimenten bewiesen werden. Auf diese Weise werden der Frau eine passive, dem Mann wiederum eine aktive Rolle zugeschrieben. Unterwerfung und Gewalt werden als zur Natur des Menschen gehörende, unüberwindbare Tatsachen dargestellt. Die Wissenschaft wird hierfür instrumentalisiert und die Standbeine des Systems werden somit gefestigt.
Bis zum heutigen Tag haben viele feministische Forscherinnen wichtige Arbeiten geleistet, in denen die Verknüpfung zwischen Wissen und gesellschaftlichem Sexismus aus verschiedenen Perspektiven dargestellt worden ist. Mit diesen Arbeiten haben sie dargestellt, dass die ab dem 17. Jahrhundert entstandene moderne Wissenschaft eine männliche Sprache und Struktur besitzt. Sie haben gezeigt, dass das Problem in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, welches die Grundlage des wissenschaftlichen Wissens darstellt, von Beginn an mit sexistischen Metaphern gedacht worden ist. Beispielsweise haben sie uns gezeigt, wie sehr die moderne Wissenschaft im Denken von Francis Bacon, welcher als Gründer der modernen Wissenschaft gilt, eine sexistische Haltung und Sprache aufweist. Bacon schuf das Wissensverhältnis zwischen Natur und Menschengeist als wahres Herrschaftsverhältnis. Dabei nutzte er nur zu gern die patriarchale Familie und die Ehe als Metaphern und ebenso betrieb er Hexenjagd. Aus Sicht von Bacon, dem das Zitat »Wissen ist Macht« gehört, ist Vernunft männlich, Natur weiblich. Das Verhältnis zwischen der vom Körper abstrahierten Vernunft und der als seelenloses Material abgestempelten Natur kann Bacon zufolge nur ein Verhältnis von Bemächtigung, Eroberung, Verleitung sein. Und so stellt seine Utopie von Neu-Atlantis eine Insel von Männern, welche Wissen und Wissenschaft zur Grundlage ihrer Macht machen, dar.
Im modernen Wissensverständnis besteht eine Konstituierung des Selbst als herrschendes Subjekt, indem eine Absonderung vom »Anderen«, d. h. der Natur und dem Weiblichen, sowie eine Objektivierung dieses stattfinden. Aus diesem Grund wird das »Andere« kontrolliert und unter Gewaltherrschaft gesetzt. Beispielsweise bei Descartes werden intuitive, empathische Elemente aus Wissenschaft und Philosophie ausgegrenzt. Dies drückt ein vermännlichtes Verständnis von Wissenschaft aus. Auch der Positivismus stellt die Grundlage dieses Wissensverständnisses dar. Realitäten werden so voneinander losgelöst, Probleme werden jeglicher Definition beraubt, die Gründe von Problemen werden innerhalb aktueller Grenzen gesucht, historische Wurzeln werden außer Acht gelassen. Dieser Sichtweise nach ist Geschichte leblos. Sie wurde durchlebt und hat ihr Ende erreicht. Darüber hinaus stellt aus Sicht des Positivismus, welcher universelle Gesetze auf die Gesellschaft anwendet, das Faktum die einzige, unveränderbare Wahrheit dar.
Diese sexistische und parteiische Wissenschaft erklärt Geschichte, Politik, den gesellschaftlichen Bereich, Ökonomie, Kultur, Kunst, Ästhetik und andere Themenbereiche der Sozialwissenschaften entsprechend ihrem Machtverständnis. Die Haltung der bestehenden Wissenschaften gegenüber der Frau, der Natur und allen Unterdrückten ist parteiisch.
Wissenschaftlerinnen, feministische Bewegungen und Akademikerinnen haben mit ihren Forschungen und kritischen Analysen einen wichtigen Beitrag geleistet, welcher unsere Arbeiten zur Jineologie stärkt. Wertvolle Werke haben die männliche Analyse von Geschichte ans Tageslicht gerückt. Darüber hinaus gibt es weltweit Frauenuniversitäten, Frauenforschungslehrstühle, Frauenforschungszentren. Es gehört zu den wichtigsten Zielen der Jineologie, eine Brücke zu diesen wichtigen Errungenschaften zu schlagen. Außerdem ist es aus Sicht von Frauen notwendig, gemeinsam ein alternatives Feld von Sozialwissenschaften zu schaffen, das System der Frauenwissenschaften zu errichten, die momentane Verstreutheit zu überwinden, den wissenschaftlichen Fluss und Verknüpfungen zu stärken.
Die Freie Frauenbewegung Kurdistans bewertet das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert der Frauen und Völker. Die Frage der Freiheit der Geschlechter und aller Unterdrückten hat sich niemals zuvor so brennend gestellt. Eine dementsprechende Organisierung sowie Entwicklung von alternativen Systemen und Strukturen ist unentrinnbar. Eine umfangreiche Analyse und Überwindung von gesellschaftlichem Sexismus stellt aus unserer Sicht ein wichtiges Ziel dar. Die Freie Frauenbewegung Kurdistans schlägt in diesem Zusammenhang die Jineologie sowohl für die Lösung der größten Widersprüche unseres Zeitalters als auch für den Aufbau der Geisteswelt der Frau als Methode vor.
Die Jineologie stellt einen Vorschlag für radikale Intervention in die patriarchale Geisteshaltung und das patriarchale Paradigma dar. In diesem Sinne handelt es sich bei der Jineologie um einen epistemologischen Prozess. Erzielt wird ein direkter Zugang der Frau und der Gesellschaft zum Bereich des Wissens und der Wissenschaft, welcher momentan von den Herrschenden kontrolliert wird. Ziel ist es, der Frau und der Gesellschaft, welche von ihrer Wahrheit losgelöst worden sind, den Weg zu ihrer Wurzel und ihrer Identität zu öffnen. Die Frau soll ihre eigenen Disziplinen bilden, eigene Deutungen und Bedeutungen erreichen und diese mit der gesamten Gesellschaft teilen.
Die kurdische Frauenbewegung hat 2011 mit dem Aufbau des Felds der Jineologie begonnen. Sie schafft ein Bildungssystem für Frauen und die Gesellschaft sowie Frauenakademien. Es werden Diskussionen zu Themenfeldern wie Frauen und Sozialwissenschaften, Frauen und Ökonomie, Frauen und Geschichte, Frauen und Politik, Frauen und Demographie sowie weiblicher Ethik und Ästhetik geführt.
Es ist notwendig, die Existenz von Frauen in all ihren Dimensionen wissenschaftlich auszudrücken, ebenso wie jegliche Erkenntniskonstruktionen in Zusammenhang mit der Geschichte, Gesellschaft, Natur und dem Universum vergleichend und systematisch zu kritisieren und zu interpretieren. Die Frau ist eine universale, soziale, historische und ganzheitliche Existenz, deren Ursprung in der Natur liegt, daher erfordert die Definition weiblicher Existenz einen radikalen und umfassenden Wandel von Erkenntnis und Geist. Von der Kolonialisierungsgeschichte des weiblichen Geistes über die ökonomische, soziale, politische, emotionale und physische Kolonialisierung wird eine Positionierung der Frauen benötigt. Dies ist notwendig, um die wissenschaftlichen Daten und Interpretationen zu vertiefen und miteinander zu verschmelzen, die bisher im Feld der Erkenntniskonstruktionen, Psychologie, Physiologie, Anthropologie, Ethik, Ästhetik, Ökonomie, Geschichte, Politik, Demographie etc. erlangt wurden, und sie zu einem wissenschaftlichen System zusammenzufügen. Die Lösung des Freiheitsproblems von Frauen wird durch Organisationen und Strukturen, die auf solch einem ausgedehnten, ganzheitlichen Feld von Wissen und Wissenschaft aufbauen, möglich sein.
In der gesamten Geschichte der Menschheit haben Frauen und Unterdrückte als Akteure für Freiheit und Demokratie Widerstand geleistet. Dennoch war es nicht möglich, das bestehende, dominante System zu überwinden. Das Hauptproblem ist, dass die Kräfte für Frieden und Demokratie es nicht geschafft haben, ein System für ihre Werte von Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, zu historisieren und sie von den Parametern der Macht loszulösen. Systematisierung und Historisierung erfordert vor allem den Aufbau alternativer Paradigmen in den Köpfen.
Daher ist es für uns, als Frauenfreiheitsbewegung, von besonderer Wichtigkeit, eine Mentalität zu schaffen, z. B. ein Feld innerhalb der Sozialwissenschaften, die Frauen und die Gesellschaft ins Zentrum rückt. Wir müssen in der Lage sein, den Geist unseres alternativen Systems zu schaffen. Was ist, wenn dies nicht geschieht? Im Namen einer Alternative werden dieselben Denkmuster, Methoden und Instrumente des herrschenden Systems – das System selbst – erneut wiederholt und reproduziert, dieses Mal im Namen der Frauen und der Unterdrückten.
Dies ist ein weiteres Argument für die Jineologie. Ihr Ziel ist es, das Paradigma der Macht auf der einen Seite zu entschlüsseln und auf der anderen Seite die Lösung voranzubringen. Es ist nicht ausreichend, das existierende System nur zu kritisieren, seine Unzulänglichkeiten aufzudecken oder zu sagen, wie eine Alternative aussehen sollte. Es ist wichtig, sich selbst von der Krankheit des Liberalismus zu befreien, der besagt: »Übe Kritik. Sag mir, wie es sein sollte. Sag mir, was die Lösung ist, aber setze die Lösung nicht in die Tat um, gib nur vor, dies zu tun.« Für ein gutes, gerechtes und schönes Leben ist Erkenntnis allein nicht länger ausreichend. Es ist notwendig, das existierende System zu überwinden und ein neues aufzubauen, das über die Grenzen des alten hinausgeht.
Als Frauenbewegung und soziale Bewegung, die gegen das kapitalistische und patriarchale System kämpft, müssen wir eine neue Phase des Wandels und der Transformation durchlaufen. Das kritische Hinterfragen des Einflusses des existierenden Systems auf unser Denken und unser Handeln muss weiter vertieft werden. Zweifellos haben die Erfahrung, der Wandel, die Transformation und der Erneuerungsprozess der Frauenbewegungen den Weg für dieses kritische Hinterfragen bereitet. In diesem Sinne ist Jineologie Ergebnis und Fortsetzung bisheriger Erfahrungen und Bemühungen von Frauenbewegungen. Sie zeigt sich als eine Realität, die auch Feminismus beinhaltet. Während sie sich selbst das Ziel setzt, einen Schritt weiter zu gehen, ist es ihr Grundsatz, auf dem Weg der Erfahrungen von Frauenbewegungen zu wandern.
Es besteht die Notwendigkeit, Frauen als soziale Realität zu konzeptualisieren, ihre Existenz entsprechend ihrer eigenen Realität zu definieren, zu erklären, was nicht dazugehört, das »Wie« ihrer Befreiung zu bestimmen und die Spezifikationen des Frauseins zu diesem Zweck zum Ausdruck zu bringen.
Außerdem ist es wichtig, Wissen und Wissenschaft nicht aus dem sozialen Feld herauszulösen, nicht zu elitisieren, sie nicht zur Basis der Macht zu machen und die gesellschaftlichen Beziehungen stets stark zu erhalten. In natürlichen Gesellschaften, vor der patriarchalen Zivilisation, waren Wissen und Wissenschaft Teil der ethischen und politischen Gesellschaft. Solange die wesentlichen Bedürfnisse dies nicht erforderten, war es nicht möglich, Wissen zu einem anderen Zweck zu verwerten. Einhergehend mit der patriarchalen Zivilisation wurden Frauen und die Gesellschaft ihres Wissens und ihrer Wissenschaften beraubt. Machthaber und Regierungskräfte wurden mithilfe von Wissen und Wissenschaft stärker. Dies hat zur radikalen Abtrennung von Wissen von der Gesellschaft geführt, insbesondere von Frauen. Jineologie möchte diese Verbindung wieder herstellen.
Die Analyse der Geschichte der Kolonialisierung der Frau setzt voraus, die Menschheitsgeschichte neu zu schreiben, und wird somit einen aufschlussreichen und aufklärerischen Charakter haben. Gemeinsam mit der ausgedehnten und grundlegenden Bewertung der tiefgehenden Versklavung von Frauen wird es auch möglich sein, die Chiffriercodes der in sie eingehämmerten Versklavung aufzulösen.
Jineologie wird es uns möglich machen, die Verknüpfung von Wissen und Freiheit wieder herzustellen, die voneinander getrennt wurden. Denn es besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen Wissen und Freiheit. Wissen erfordert Freiheit, Freiheit setzt wiederum Wissen und Weisheit voraus. Die Teilnahme von Frauen am gesellschaftlichen Leben wird anhand des Grades ihrer Freiheit beurteilt werden. Die Sehnsucht von Frauen nach Wissen und Freiheit ist auch ein Streben nach Wahrheit.
Wahrhaftigkeit ist die erste und eigentliche Form gesellschaftlicher Natur. All das, was bedeutungsvoll war, bevor es durch das patriarchale System deformiert wurde. Die Stufen der normalen Entwicklung im System der natürlichen Gesellschaft repräsentieren das, was wir Wahrhaftigkeit nennen. Daher beschreibt Jineologie auch das Streben nach diesen verfälschten Wahrheiten. Dieses Streben wird mit unserer Suche nach Wissen, Weisheit und Freiheit verknüpft werden.
Im 21. Jahrhundert warten wichtige Aufgaben auf uns: der philosophisch-theoretische und wissenschaftliche Rahmen der Frauenbefreiung, die historische Entwicklung des Widerstands und der Befreiung der Frauen, gemeinsamer sich gegenseitig ergänzender Dialog innerhalb des Feminismus, ökologische und demokratische Bewegungen, die erneute Bestimmung aller sozialen Institutionen (z. B. der Familie) gemäß den Prinzipien der Befreiung, die grundlegenden Strukturen eines freien Miteinanders, die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Sozialwissenschaft auf Basis der Frauenbefreiung. Dieses Feld einer neuen Sozialwissenschaft für all die Kreise, die nicht Teil der Macht und des Staates sind, gilt es aufzubauen. Dies ist die Aufgabe für alle antikolonialistischen, antikapitalistischen, machtkritischen Bewegungen, Individuen, Frauen. Wir betrachten diese alternativen Sozialwissenschaften als die Soziologie der Freiheit. Jineologie wird die Grundlage dieser neuen Sozialwissenschaften bilden und sie weiterentwickeln. In dieser Hinsicht ist sie eine Vorreiterin. Sie wird sowohl diese Freiheitssoziologie aufbauen als auch selbst deren Teil sein.
Die kurdische Frauenbewegung, die die Jineologie seit 2011 ausarbeitet und dieses Thema zur Diskussion gebracht hat, misst den bisher weltweit erreichten Ergebnissen großen Wert bei. Sie ist sehr an Diskussionen, dem Teilen von Ergebnissen und Befunden, der Kooperation mit und dem Lernen von all jenen, die für die Freiheit von Frauen kämpfen, interessiert. Auch diese Konferenz ist Teil dieser Bemühungen.
Wir, als kurdische Frauen, sagen: »Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Revolution der Frauen und Völker sein.« Wir glauben, dass die Jineologie für den Aufbau einer Geisteshaltung der Befreiung, ethische und politische Strukturen und eine freie Gesellschaft, die die Frauenbefreiung ins Zentrum rückt, eine historische Rolle spielen wird. Wir glauben fest daran, dass es möglich sein wird, den 5 000 Jahre alten gordischen Knoten zu durchschlagen und die toten Winkel der Geschichte auszuleuchten, die immer noch darauf warten, entdeckt zu werden, indem wir die Jineologie und die Soziologie der Freiheit als eine neue Sozialwissenschaft weiterentwickeln und sie zur Grundlage unseres gesellschaftlichen Kampfes machen.
Ich danke Euch allen.