Wenn wir als Menschen und nicht als Roboter leben wollen, ist dieses Leben nur als Kollektiv und Gesellschaft möglich. Die Teilnahme am revolutionären Kampf ist kein Luxus für Studierende in einer bestimmten Lebensphase, sondern Notwendigkeit für alle, die in einer Welt leben wollen, die auf Demokratie, Sozialismus, Frieden, Geschlechterbefreiung beruht und in Einklang und Harmonie mit der Natur organisiert ist. Es braucht den Mut als Revolutionär_in zu leben und diese Revolution auf die eine oder andere Weise zu unterstützen und mit dem eigenen Kampf zu verbinden.
Hoffnung ist die Quelle des Widerstands oder Was hat die Revolution in Kurdistan mit den Menschen in Europa zu tun – besonders mit denen, die für eine bessere Welt kämpfen?
In Kurdistan läuft ein internationaler Krieg. Es findet eine Revolution statt, gleichzeitig wird hier ein Massaker gegen die kurdische Bevölkerung verübt. Die Revolution, die hier stattfindet, ist eine Revolution für Frieden, Gleichheit und direkte, radikale Demokratie; für demokratischen Konföderalismus, ohne die Machtlogik eines Nationalstaates. In Rojava hat die kurdische Bewegung zusammen mit den demokratischen Kräften der Gesellschaft es geschafft eine auf Prinzipien der direkten Demokratie basierende autonome Selbstverwaltung aufzubauen, die eine Alternative zu Kapitalismus und Staat darstellen. Die Kurdische Gesellschaft hatte den Willen entwickelt ihre lang andauernden Probleme von Assimilation, Unterdrückung und Vernichtung zu lösen indem sie sich selbst autonom verwaltet – basierend auf Gleichheit, der Freiheit von Frauen, Ökologie und direkter Demokratie. Weil die Kurdische Bevölkerung Kapitalismus und Nationalstaaten ablehnt und den dritten Weg suchen (direkte, radikale Demokratie und kooperative Ökonomie), werden sie als Gefahr, als Terrorist_en dargestellt.
In Rojava gab es den Plan, die Kurdische Revolution mit Unterstützung radikaler Islamist_en (IS, al-Nusra, Ahrar-alŞam) zu zerschlagen, aber aufgrund der heroischen Selbstverteidigung der kurdischen Bevölkerung ging dieser Plan nicht auf. Es hat Rojava in einen kontinuierlichen Zustand von Krieg und der Gefahr von Selbstmord-Attentaten und Anschlägen gebracht. Viele Zivilist_innen und Kämpfer_innen sind bei ihrem Versuch diese Revolution zu verteidigen gefallen. Die Angriffe des IS und von al-Nusra dauern an, offen unterstützt von der Türkei und geduldet oder im Geheimen unterstützt von den hegemonialen Mächten. Der Krieg in Kurdistan kann als dritter Weltkrieg wahrgenommen werden: es gibt keine Macht, keinen Staat, die in diesem Krieg keine Rolle spielen. Der Mittlere Osten ist so wichtig, dass alle Mächte und Länder hier Einfluss haben wollen. Alle sind in irgendeiner Art oder Weise involviert, durch materielle Unterstützung von Kräften, Waffenhandel, finanzielle Unterstützung von Staaten, die den IS unterstützen, oder durch direkte Eingriffe wie Embargo oder Entvölkerung durch Flüchtlingspolitik.
Um was geht es? Nur um Wasser und Öl? Öl, Wasser und strategische Interessen sind natürlich wichtige Faktoren, aber es geht um mehr. Im Chaos des Mittleren Ostens stehen sich verschiedene Mächte und Interessen gegenüber, die ihren Einfluss in der Region sichern wollen. Alle diese Mächte sind kapitalistische Mächte, die kapitalistische Interessen vertreten. Auf der anderen Seite gibt es die demokratischen Kräfte der Gesellschaften, die kämpfen und eine Alternative aufbauen, allen voran die kurdische Bewegung. Diese Alternative kann als eine Alternative zu Kapitalismus und Nationalstaat gesehen werden. Das Ziel und die Praxis sind der Aufbau einer radikalen Demokratie und kooperativen Ökonomie, um so eine Gesellschaft zu ermöglichen, die auf Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Ökologie und der Freiheit der Frauen basiert. Es ist eine sozialistische und demokratische Revolution. Eine Alternative zu tausenden Jahren von Unterdrückung, Ausbeutung und Kolonialismus. Natürlich können die hegemonialen Mächte der internationalen Gemeinschaft diese Alternative nicht akzeptieren und bekämpfen sie mit allen Mitteln. Daher ist es klar, dass es zwei Seiten gibt: auf der einen Seite die kapitalistischen internationalen Mächte, die diesen Krieg benutzen, um ihre internen Konflikte zu lösen und Machtinteressen neu auszuhandeln und ihren Einfluss soweit wie möglich auszuweiten. Auf der anderen Seite stehen die kurdische Bewegung und verbündete Kräfte, die für Freiheit, Demokratie und Gleichheit kämpfen. Wenn dieser Krieg ein internationaler Krieg ist und die internationalen Kräfte so gut miteinander vernetzt sind, um diese Region nach ihren Interessen neu zu verteilen – wieso gibt es dann so wenig Interesse, Aufmerksamkeit und Unterstützung von internationalen Menschen, Sozialist_innen, Anarchist_innen, Feminist_innen und Demokrat_innen? Diese Revolution kann als eine Revolution der Frauen wahrgenommen werden, die hier kämpfenden Frauen sind kurdische Frauen, mit arabischen, assyrischen, türkischen und anderen internationalistischen Frauen an ihrer Seite. Nicht nur im Krieg, auch im gesellschaftlichen Aufbauprozess und im Kampf für die Veränderung der Mentalitäten spielen Frauen eine sehr wichtige Rolle, vor allem bei der Veränderung der patriarchal-kapitalistischen Mentalität in ein demokratisches, freiheitliches Bewusstsein.
Wenn dieser Krieg ein Krieg für die Menschheit und menschliche Werte ist, wieso gibt es dann so viel Gleichgültigkeit auch von Menschen, die selbst auf der Suche nach einer Alternative zu Kapitalismus und Nationalstaat sind? Wieso wird dieser Krieg von Menschen in Europa als unabhängig von ihrer eigenen Situation wahrgenommen, wo es doch um so viel geht? Diesen Krieg als unabhängig von der eigenen Situation wahrzunehmen bedeutet ihn denen zu überlassen, die bereits in Machtpositionen sind, den Cliquen um Erdoğan, Merkel und anderen. Aber diese Themen sind zu wichtig, um die Augen zu schließen. Die Entscheidung wiederholt sich: Schritt für Schritt zur Freiheit für alle oder einen weiteren Genozid. Diese Revolution ist eine Revolution der Bevölkerung. Es sind die Bevölkerungen in Rojava und Bakur, die kämpfen. Die Frauen und die Jugend nehmen führende Rollen ein. Diese Revolution ist nicht nur für die Kurd_innen; sie kann Freiheit und Demokratie für alle bedeuten. Rojava, mit allen Schwierigkeiten und Fehlern, die es gibt, zeigt, dass eine sozialistische, demokratische Alternative möglich ist, obwohl Rojava von Feinden umgeben und mit einem Embargo belegt ist.
Die Menschen in Rojava, die lange in Unterdrückung gelebt haben, zuletzt durch das Baath-Regime, erschaffen diese Alternative. Revolutionen können sich wie ein Virus verbreiten, alle, die in Unterdrückung leben, können durch diese Energie angesteckt werden. Das ist, was passiert, wenn Unruhen oder Aufstände stattfinden. Eine lange Zeit wollte der Kapitalismus uns glauben machen, dass es keine Alternative gibt, außer vielleicht durch ein System, das noch schlimmer ist als der Kapitalismus. Aber das Beispiel Rojava zeigt, dass Demokratie, Vielfalt und der Kampf für die Freiheit der Frauen miteinander verbunden sind und in der Praxis eine Einheit bilden können. Für die kapitalistischen Hegemonialmächte ist der Mittlere Osten essentiell; selbst eine kleine Region, die nicht nach ihren Interessen agiert, kann für sie zu einer Gefahr werden.
Viele Menschen in Europa sind mit dem System, in dem sie leben unzufrieden. Vielleicht suchen sie nach einer Alternative, vielleicht träumen sie davon. Es gibt in Europa eine lange Geschichte des Widerstands. Auf der anderen Seite hat der neoliberale Kapitalismus und die Zunahme von rechten Ideologien und Aktivitäten dafür gesorgt, dass Menschen weniger für revolutionäre Ideen kämpfen, sondern stattdessen vor allem Abwehrkämpfe führen, damit es zumindest nicht noch schlimmer wird. Vielleicht sind viele Kämpfe, die gerade in Europa geführt werden, gespalten und uneinheitlich und deshalb nicht so effektiv, wie sie sein müssten und es auch sein könnten. Dennoch kann nicht abgestritten werden, dass zurzeit auch dort wichtige Kämpfe ausgetragen werden. Die Kämpfe in Europa haben große Wichtigkeit, doch es gibt eine Stagnation und alte Ideen werden lediglich wiederholt. Es ist möglich diese mit der Energie und Inspiration, die die Revolution in Kurdistan bringen kann, zu überwinden. Heute kann von der Revolution in Kurdistan, ihren Zielen, ihrer Organisierung und Errungenschaften gelernt werden.
Die Revolution in Kurdistan ist nicht nur wichtig für Kurdistan und den Mittleren Osten, sondern für die ganze Welt, weil in ihr die Chance auf eine Alternative zum Kapitalismus enthalten ist. Das heißt auch, dass es ein harter Schlag für die gesamte Menschheit sein wird, sollte diese Revolution nicht siegen. Wir werden wieder einen Genozid zugelassen haben, gleichzeitig wird es eine Stärkung der globalen Herrschaft bedeuten. Diese Revolution findet momentan vor allem in Kurdistan statt, ihre Bedeutung jedoch ist universell und entscheidend für die ganze Menschheit. Wenn wir in einer Welt leben wollen, die in Frieden mit der Natur besteht, eine neue Balance zwischen den Geschlechtern findet, in Vielfalt und ohne Unterdrückung und Ausbeutung – dann haben wir keine andere Wahl als diese Revolution ernst zu nehmen. Das bedeutet zuerst einmal anzuerkennen, dass diese Revolution stattfindet, es beinhaltet den Versuch zu verstehen, worum es dabei geht. Auf diese Art und Weise ist es für die Menschen in Europa möglich einen Weg zu finden sich zu dieser Revolution zu verhalten. Wie kann diese Chance für Europa bewertet werden? Wie kann sie auf viele Arten und Weisen unterstützt und verstärkt werden? Wie kann die Energie und Inspiration genutzt werden, um die eigenen Kämpfe zu stärken? Wie lassen sie sich miteinander verknüpfen? Es gibt viele Wege, viele Methoden. Allerdings leben wir in einer bedeutenden historischen Zeit, das müssen wir klar erkennen. Das kapitalistische System kann sehr gut Spaltungen und Trennungen erschaffen. Unsere Kämpfe jedoch sind miteinander verbunden. Das Wichtigste ist für uns jetzt, unsere Wahrnehmung wieder auf diese Verbundenheit zu richten. Der Kapitalismus wollte uns glauben lassen, dass es keine Alternative gibt oder dass dieses System so stark ist, dass jeder Kampf zwecklos ist. Aber beides ist unwahr. Weder ist der Kapitalismus ein Schicksal, noch ist er so stark, dass der Kampf aussichtslos wäre. Das einzige, was wir brauchen sind Vorstellungen, starke Überzeugung, Hoffnung, um unsere Energie zu sammeln, um wieder zu träumen und für etwas zu kämpfen, statt nur dagegen. Die Revolution in Kurdistan kann uns vieles lehren. Hier organisieren sich die Menschen selbst, kämpfen gegen eine NATO-Armee, gleichzeitig bauen sie eine Alternative in Form des demokratischen Konföderalismus auf, trotz Krieg, trotz Embargo und vielfältigsten Angriffen.
Die kurdische Gesellschaft hat eine lange Geschichte von Assimilation und Massakern. In diesem Krieg geht es um ihre Existenz, um die Möglichkeit die eigene Identität, Kultur und Vorstellungen zu leben. Es ist ein politischer und ideologischer Kampf. Der militärische Kampf kann in diesem Sinne als Selbstverteidigung verstanden werden. Weil dieser Kampf nicht isoliert ist von der Situation in Europa und die Lage Europas verbunden ist mit der Situation des Mittleren Ostens, ist es möglich die Wahrnehmung auf diese Verbundenheit zu richten. Es ist möglich und sinnvoll die Revolution in Kurdistan zu unterstützen; genauso ist es möglich und sinnvoll die Kämpfe in Europa für einen demokratischen Sozialismus zu stärken. Wir müssen kämpfen, weil der Kapitalismus keine Lösung ist. Die kapitalistische Herrschaft ist die Quelle von Kriegen, Massakern und Genoziden. Die Bevölkerung in Kurdistan hat anerkannt, dass es keinen anderen Weg als den Kampf gibt, auch wenn diese Entscheidung Tod und die Zerstörung ihrer Dörfer und Städte beinhalten kann. Letztendlich, nach vielen Erhebungen und Erfahrungen eigener Kämpfe, ist klar, dass es nicht möglich ist irgendetwas von einem Staat zu erwarten, sondern dass es vielmehr nötig ist aus eigener Kraft ein eigenes autonomes System aufzubauen. Der Nationalstaat ist Teil des Problems und kann nie Teil einer Lösung sein. Ohne diesen Kampf gibt es kein Leben. Gleiches gilt für die Menschen in Europa. Das Leben unter der Herrschaft des kapitalistischen Systems kann nicht als Leben definiert werden. Was dort Freiheit genannt wird, hat mit Freiheit nichts zu tun. Wenn wir als Menschen und nicht als Roboter leben wollen, ist dieses Leben nur als Kollektiv und Gesellschaft möglich. Die Teilnahme am revolutionären Kampf ist kein Luxus für Studierende in einer bestimmten Lebensphase, sondern Notwendigkeit für alle, die in einer Welt leben wollen, die auf Demokratie, Sozialismus, Frieden, Geschlechterbefreiung beruht und in Einklang und Harmonie mit der Natur organisiert ist. Es braucht den Mut als Revolutionär_in zu leben und diese Revolution auf die eine oder andere Weise zu unterstützen und mit dem eigenen Kampf zu verbinden.
In diesem Sinne:
Es lebe die Revolution in Kurdistan!
Es lebe der Kampf für Freiheit und demokratischen Sozialismus!
Es lebe das Gedenken an die Freund_innen Hv. Dilsoz und Hv. Avaşîn, die in Verteidigung der Menschheit im internationalistischen Befreiungskampf ihr Leben gaben.
Lêgerîn
Internationalistisches Komitee
Rojava-Nordsyrien, Freie Gebiete Mesopotamiens, Juli 2016