Für viele Menschen, vor allem in westeuropäischen Städten, ist es schwer sich praktischen Anarchismus vorzustellen. Selbst Anarchist*Innen können selten, fernab der Theorie und dem kleineren Bezugskreis, gelebten Anarchismus praktisch greifen. Am Beispiel der „Critical Mass“-Bewegung möchten wir an der Stelle ein konkretes, in vielen Städten stattfindendes, Beispiel aufzeigen.
… Critical Mass is not an organisation, it’s an unorganised coincidence. It’s a movement … of bicycles, in the streets.
Direkte Aktion
Das Prinzip der „Critical Mass“ ist einfach: Ein oder mehrere „Urheber*Innen“
verbreiten Treffpunkt und Zeit, wenn genügend Fahrer*Innen auftauchen
setzt sich der Fahrverband[1] in Bewegung und benutzt dabei die von
Autos dominierte Straße. Die „spontanen“ Treffen werden dabei nicht
behördlich angemeldet, da es keine*n Veranstalter*In
im herkömmlichen Sinne gibt. Das gemeinsame Fahren hat, außer bei
speziellen Anlässen wie Reclaim-the-Streets-Aktionen, keinen erweiterten
politischen Hintergrund. Vielmehr steht im Vordergrund zu
signalisieren, dass die Straße auch den Radfahrer*Innen gehört.
Ergänzend kann auch die Forderung nach mehr Rechten und besserer
Infrastruktur für Radfahrer*Innen angenommen werden. Die „Critical
Mass“ ist KEINE Demonstration, sondern eine gemeinsame Ausfahrt
kollektiver Radfahrer*Innen. Seit dem ersten „critical mass“-Event 1992
in San Francisco[2] hat sich die Form der direkten Aktion weltweit
verbreitet (ab 1997 in Deutschland) und findet regelmäßig, meist am letzten Freitag des Monats, statt. Auch wenn viele Teilnehmer*Innen das Prinzip nicht als anarchistisch kennzeichnen würden, kann mensch es durchaus so benennen.
Hierarchielos und Autonom
Jede*r kann zu einer „Critical Mass“ aufrufen. Ob dem Aufruf auch Menschen folgen, liegt
in der Hand des Kollektivs. Bei den Fahrten gibt es keine Führung.
Jede*r kann an die Spitze des Verbandes fahren und anzeigen in welche
Richtung gefahren wird – es kann sich natürlich auch dagegen entschieden
werden. Der Startzeitpunkt wird zudem durch alle Teilnehmer*Innen mit
kreisförmigem Umherfahren und Klingeln signialisiert – fahren und
klingeln alle, wird irgendjemand ausbrechen und einen Anfang machen.
Gemeinschaftliche Aufgaben wie das „Corken“[3] kann auch jede*r
Teilnehmer*In selbstständig übernehmen. Der Schutz des gesamten
Fahrverbandes und seine generelle Dynamik obliegt allen Teilnehmer*Innen.
Kein Dialog mit der Staatsgewalt
Immer wieder kommt es vor, dass die Cops versuchen den/die Verantwortliche/n dieser Ausfahrten festzustellen, bzw. versucht wird diese/n zu kriminalisieren. Die Teilnehmer*Innen wissen, dass sie nichts, im behördlichen Sinne, „Illegales„ angestellt haben und lassen die Ordnungskräfte meistens
machtlos stehen und fahren weiter. In einigen seltenen Fällen[4][5][6]
oder in autoritären Staaten[7] kam es in der Vergangenheit zu Problemen
mit den Cops.
Solidarisch
Weltweit
sterben täglich Fahrradfahrer*Innen im Straßenverkehr. Egal ob mit Helm
und Licht gefahren – Autofahrer*Innen überleben Zusammenstöße meist unverletzt. Um auf diese Problematik, größtenteils mit ungenügender Verkehrsführung zusammenhängend, hinzuweisen,
gibt es noch einige spezielle Aktionsformen der „Critical Mass“. Der
„Ride of Silence“[8] steht im Zeichen der Trauer um getötete
Radfahrer*Innen und fährt schweigend (meist komplett in weiß gekleidet) an den Unfallorten vorbei durch die Stadt. Dabei werden an den tödlichen Stellen fast immer
sogenannte „Ghostbikes“[9] aufgestellt, um auf den tödlichen Unfall
hinzuweisen. Parallel dazu werden auch manchmal „Die-ins“[10]
veranstaltet, dabei blockieren die Teilnehmer*Innen eine Kreuzung, indem
sie sich wie umgefahren hinlegen und eine Zeit lang so ausharren.
Emanzipatorisch
In manchen
Ländern fühlen sich vor allem Frauen im Straßenverkehr nicht sicher oder
werden aufgrund ihres Geschlechts im Straßenverkehr diskriminiert. Am
Beispiel der „Ovarian Psycos“[11] einer feministischen Fahrradgang, die
in Los Angeles gemeinsame Ausfahrten für Frauen organisiert, zeigt sich
auch ein emanzipatorischer Ansatz. Ebenfalls finden weltweit für und mit
Geflüchteten, die oft keine eigenen Fahrräder besitzen und dadurch in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, gemeinsame Fahrten statt.
Whose streets? Our streets!
Die bisher größte „Critical Mass“ fand 2014 in Budapest mit rund 80.000[sic!] Teilnehmer*Innen statt. In Hamburg war 2014 die größte
in Deutschland, die mit 3000-4000 Fahrer*Innen besucht war. Neben der
„Critcal Mass“ gibt es noch weitere, an das Prinzip angelehnte,
Ausfahrten. So gibt es z.B.
in Dresden und Umgebung die „U-Lock Justice Crew“, welche sich eher
sportlichen Ausfahrten widmet und unregelmäßig zu „Nightrides“[13]
einlädt.
Schließt euch an und (er)lebt ein Stückchen mehr Anarchismus oder „organisiert“ eigene Ausfahrten!
Die „Critical Mass Dresden„ findet jeweils am zweiten Sonntag und letzten Freitag im Monat ab 18:30 ab Lingnerplatz (Halfpipe an der Lignerallee) statt.
[1] Die rechtliche „Grundlage“ ist von Land zu Land unterschiedlich. In der deutschen Straßenverkehrsordnung ist ein Fahrverband ab 16 Radfahrenden definiert. Ab dieser Zahl ist es erlaubt eine eigene Fahrbahn auf der Straße zu benutzen.
[3] „Corken„
ist das Blockieren von Autofahrer*Innen und sonstigem Verkehr,
vorrangig an Kreuzungen, um dem Fahrverband eine sichere Überquerung zu
ermöglichen. Da geschlossene Fahrverbände laut StVO auch rote Ampeln
passieren dürfen, wenn ein Teil bei der Grünphase schon losgefahren ist,
kommt es gerade an Kreuzungen oft zu uneinsichtigem Fahrverhalten seitens der anderen Verkehrsteilnehmer*Innen.