Auf den Straßen Frankreichs macht sich eine radikale Strömung bemerkbar, die auf Insurrektion aus ist.
von Jakob Hayne
Das Tränengas hing schwer über der Place de la Nation am Donnerstag voriger Woche. Eine Demonstration gegen das geplante Arbeitsgesetz der Regierung endete dort – in einer Falle der Polizei, die durch Sperrung aller Ausgänge des Platzes einen Kessel errichtet hatte, in dem im Anschluss mit Gas und Knüppeln Demonstranten gejagt wurden. Vor dem Block des Gewerkschaftsverbands Confédération générale de travail (CGT) sammelten sich mehrere Tausend Menschen in einem »wilden« Block. Es ist eine Entwicklung der vergangenen Monate, dass dieser Block die großen landesweiten Demonstrationen anführt. Transparente wie »Soyons ingouvernables« (Seien wir unregierbar) werden gezeigt, Leute aus dem Umfeld des »Unsichtbaren Komitees« sind da, viele junge Menschen und auch ältere. Ihnen geht es keineswegs allein um das Arbeitsgesetz, sondern um den Aufstand: »Insurrection! Insurrection!« – »Paris debout, soulève-toi« (Aufrechtes Paris, begehre auf). Es handelt sich um sogenannte Insurrektionalisten. Ihre Parolen sind in allen Metrostationen der Stadt auf Wände und Plakate geschrieben. Werbung und Werbetafeln werden zerstört oder verändert – praktische Kritik der Warenästhetik. Die Bewegung Nuit debout mit ihrennächtlichen Treffen auf der Place de la Republique hat in letzter Zeit an Bedeutung verloren, vor allem weil der insurrektionalistische Teil der Bewegung nach der gescheiterten Besetzung des Platzes am 28. April sich anderweitig orientierte; zurück blieben Würstchenbuden und Trommler.
Im Gegensatz zu dem von Präsident François Hollande verhängten Notstand streben die Insurrektionalisten den »wirklichen Ausnahmezustand« zur Aufhebung des Status quo an, den Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« dem Reaktionär Carl Schmitt entgegenhielt. Die neue insurrektionalistische Bewegung speist sich zum einen aus den Schriften von Tiqqun und dem Unsichtbaren Komitee, zum anderen aus den Erfahrungen zurückliegender Kämpfe wie der Streiks an den Universitäten 2009, der Aktionen gegen die Rentenreform von Nicolas Sarkozy 2010 und der Kämpfe um die ZAD (Zones à défendre) 2012. Gemeinsam mit den Streiks der in der CGT organisierten Arbeiter, die beispielsweise am Donnerstag voriger Woche zahlreiche Zeitungen wie Le Parisien und Le Monde nicht auslieferten, weil diese sich geweigert hatten, eine Erklärung der Gewerkschaft abzudrucken, hat die Bewegung eine gewisse Schlagkraft entwickelt. Es wird der Generalstreik gefordert, um Staat und Ökonomie außer Kraft zu setzen.
Die gegenwärtige politische Eskalation ist auch eine Reaktion auf den Umgang mit den Anschlägen vom 13. November vergangenen Jahres. Regierung und Medien hatten den Zusammenschluss der französischen Nation beschworen, zur Verteidigung des gemeinsamen Lebensstils aufgerufen. Es handelt sich aber bei dem jihadistischen Terror keineswegs um eine Frage des Lebensstils, sondern um eine politische. Die Spannung zwischen einem als allgemein (französisch) proklamierten Lebensstil und der Unmöglichkeit für viele Menschen, überhaupt in die Nähe eines solchen zu kommen, ist auf Dauer nicht ideologisch zu verdecken. Das Ziel der Insurrektionalisten ist es, den Schleier zu zerreißen, der die Politik als Feld des Konflikts um das Gesellschaftliche, das politisch erst noch zu verhandelnde Gemeinsame, zu verbergen sucht.
An den Universitäten haben die Streiks, Besetzungen und Demonstrationen auch zu einer erfreulichen Störung des akademischen Betriebs geführt, wie eine Professorin erzählt. Anfangs noch gepflegte Eigenheiten politischer Korrektheit haben sich im Zuge der Auseinandersetzungen verflüchtigt, was die Vermutung zu bestätigen scheint, dass in konkreten Kämpfen der moralische Diskurszirkus funktionslos wird. Es macht die Wirkung einer solchen politischen Eskalation aus, Identitäten zu erschüttern und Dinge in produktive Unordnung zu versetzen. Was in Paris geschieht, ist vielleicht noch nicht der kommende Aufstand, von dem das Unsichtbare Komitee schrieb, aber zumindest der Vorschein eines Aufstands.