„Die Araber waren als Söldner oder als Hilfstruppen die unerläßliche Stütze der großen Reiche. Man kaufte ihre Mitwirkung, man fürchtete ihre Erhebungen, man spielte ihre Stämme gegeneinander aus. Warum sollten sie ihren Wert nicht zu ihrem eigenen Vorteil nutzen? Um dies zu erreichen, bedurfte es eines mächtigen Staates, der Arabien zu einen vermochte. Ein solcher Staat konnte die erworbenen Reichtümer und den Handel in Schutz nehmen und die Habgier der besonders mittellosen Beduinen nach außen ablenken, anstatt sie die Handelstätigkeit der Araber selber hindern zu lassen. Die südarabischen Staaten, die den Nomaden gegenüber zu kolonialistisch waren und sich trotz ihrer fernen Verwandtschaft zu wenig um die Beduinen kümmerten, hatten in dieser Mission versagt.
Das große Bedürfnis der Epoche bestand in einem arabischen Staate, der von einer arabischen Ideologie geleitet und den neuen Verhältnissen angepaßt war, der jedoch dem Milieu der Beduinen, denen er ihren Platz einräumen mußte, noch nahe genug stand, einem Staate, der eine mit den großen Reichen gleichrangige und gleichermaßen geachtete Macht bildete. Die Wege waren für den genialen Mann geebnet, der es besser als irgendein anderer verstand, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Bald sollte dieser Mann zur Welt kommen.“
Maxime Rodinson, Mohammed, 1975 (1961), S. 44-45.
Anmerkung: Dieser Artikel war daran, geschrieben zu werden, als es zu den Angriffen am 13. November 2015 in Paris kam. Er ist also kein Positionsbezug von DDT21 zu diesen Ereignissen. Doch er könnte es sein.
Die Geburt eines Staates ist weder gängig, noch rührend. Und der
Frühgeborene, der Proto-Staat ist, obwohl sehr zerbrechlich, schon
schädlich.
Mit der gegenwärtigen Restrukturierung des Nahen Ostens erleben wir die
Konstitution von neuen Einheiten, die bekanntesten davon sind der
Islamische Staat (IS) und Rojava (Westkurdistan). Letztere sei als
Musterbeispiel der Demokratie und des Feminismus ein Schutzwall gegen
die Barbarei ersterer. Denn der Islamische Staat ist ein Monster, die
Bilder beweisen es. Alles beweist es. Man müsste ihn übrigens Daesch [1]
nennen, denn er habe die „noble“ Bezeichnung Staat nicht verdient und
habe „nichts“ mit dem Islam „zu tun“. Die Erklärung sollte reichen. Sie
genügt jedoch nicht, um zu verstehen, wieso und wie 8 bis 10 Millionen
Leute seit Monaten in einem Territorium leben, das mit dem Rest des
Planeten im Krieg steht. Die Tage des Kalifats sind wahrscheinlich
gezählt, doch die Frage bleibt: Wieso funktioniert es?
Alle Blicke sind auf den IS gerichtet, doch sein Bild ist vernebelt. Der Abglanz, welcher uns via Medien erreicht, ist jener eines Jahrmarkts der Grausamkeiten, die sorgfältig in Szene gesetzt werden, oder Episoden des Krieges, die von obskuren politisch-militärischen Interessen abhängen, z.B. die Schlacht von Kobanê. Aber unter den „Rebellengruppen“, die während dem irakisch-syrischen Konflikt entstanden sind, ist der IS die einzige, welche versucht, eine Art staatliche Struktur aufzubauen und sich auf ein strukturiertes und ambitiöses politisches Projekt stützt [2]: den Wiederaufbau des 1258 verschwunden Kalifats, der eine Kritik der Welt, ihrer Funktionsweise, des Westens, der Demokratie, des Nationalismus usw. impliziert. Bedeutet das, dass es eine Kritik des Kapitalismus ist? Sicher nicht, eher jene einiger seiner Übel und Exzesse, jene, welche das freie und harmonische Funktionieren einer erträumten Kalifatsgesellschaft beeinträchtigen – und v.a. ihrer Wirtschaft.
Erster Teil: Vom Staat
„Das beste wär so’n autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich.“
Lilo Pempeit zu ihrem Sohn Rainer Werner, 1977.
Wir werden nicht auf die jahrhundertealten Ursprünge und die Künstlichkeit der Staaten und Grenzen der Region zurückkommen und auch nicht auf die Aufstände 2011, die in Syrien und Irak einem Bürgerkrieg und dann, ziemlich schnell, einer militärischen Konfrontation Platz gemacht haben, die mehrere Lager hat und eine Unzahl an lokalen und internationalen Akteuren mit allerseits wechselnden Strategien und Bündnissen zusammenbringt.
Die Genealogie des IS, der anfangs die irakische Sektion der Al Qaida war und nun autonom geworden ist, ist ebenfalls höchst komplex [3], doch bevor seine Truppen eine Reihe an überraschenden Siegen während dem Sommer 2014 feiern konnten, interessierte sie kaum jemanden.
Die militärische Frage
Der IS war am Anfang nur eine der Widerstandsgruppen gegen die amerikanische Besatzung im Irak (und somit eine terroristische Gruppe); doch ab 2009 profitiert er vom Anschluss von Tausenden sunnitischer Kämpfer von Milizen und von Hunderten ehemaligen Offizieren der irakischen Armee [4].
Der militärisch sehr effiziente IS ist von einem beträchtlichen Teil der sunnitischen Bevölkerung des Iraks als „Befreiungsarmee“ wahrgenommen und als solche gefeiert worden [5] und viele Stammesführer haben sich entschieden, ihm Treue zu schwören. Das erklärt, weshalb etliche Orte so leicht in seine Hände gefallen sind (z.B. Mosul) und weshalb die (schiitischen) Truppen Bagdads in diesen Regionen nur wenig Widerstand geleistet haben.
Der IS hat sich auch ein bedeutendes Arsenal angeeignet, das ihm ab 2013 dazu dient, sich in Syrien auszubreiten; in diesem Land werden die Orte dank heftigen Kämpfen gegen andere islamistische Gruppen oder dank dem Anschluss derselben erobert. Im allgemeinen Chaos bringen ihm seine logistischen und Herrschaftskompetenzen eine gewisse Popularität in der Bevölkerung. Erst in einer zweiten Phase lanciert er Offensiven gegen Rojava und das Regime von Damaskus.
Es ist bemerkenswert, dass der IS sehr um das Überleben seiner Kämpfer besorgt scheint und nicht zögert, falls notwendig Positionen aufzugeben (die Frage der Selbstmordattentate ist etwas anderes). Diese Armee zähle gemäss Schätzungen zwischen 30’000 und 100’000 Männer: viele ehemalige irakische Kämpfer von Milizen, Araber und Kurden und mindestens 20’000 ausländische Freiwillige. Ihr Sold wird regelmässig ausgezahlt, was Plünderungen, Diebstähle und Erpressungen beschränkt, die andere Rebellengruppen gewohnheitsmässig betreiben.
Der blutrünstige und gnadenlose Ruf seiner Truppen wird bewusst gepflegt; da er die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hat, respektiert der IS überhaupt keine „Regel“ des Krieges, allen voran gegen jene, welche er als ungläubig oder abtrünnig betrachtet. Seine Gegner erlangen, unabhängig von ihren Machenschaften, eine Aura der Achtbarkeit.
Die Verwaltung eines Territoriums
Die Wiederherstellung des Kalifats unter dem Namen Islamischer Staat ist am 29. Juni 2014 in der Nuri-Grossmoschee von Mosul verkündet worden. Die Debatte über den Begriff „Staat“ hat seither nie aufgehört [6].
Wenn das Wort ein begrenztes Territorium beschreibt, innerhalb welchem eine souveräne Autorität ihre Gesetze gegen eine fixe Bevölkerung durchsetzt, über eine Armee und eine Wirtschaft verfügt, so ähnelt der IS eher einem Staat, denn gewisse heute (mehr oder weniger) international anerkannte Einheiten (Liberia, Somalia, Jemen, Vatikan, Luxemburg, Libyen, Südsudan usw.), und nur beschränkt einer terroristischen Gruppe.
Nur die Instabilität seiner Grenzen widerspricht dem westlichen Staatsmodell, doch der Krieg ist nicht der einzige Grund dafür:
„Kann das Wort ’Dawla’, das gewöhnlich auf Arabisch für ’Staat’ benutzt wird und Teil der Abkürzung ’Daesch’ ist, präzis mit ’Staat’ übersetzt werden? In der Geschichte der arabischen und muslimischen Welt beschreibt dieses Wort in der Tat Regierungsformen, die nicht viel mit der westlichen Geschichte des Wortes Staat zu tun haben. Es verweist auf die Ideen von ’Statik’, Territorialität, Grenze, Souveränität, Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen, kurz auf ganz andere Dinge als das, was in der Geschichte der muslimischen Welt geschehen ist.“ (Bernard Badie) [7]
Zur Frage der Form hat der IS schon Stellung bezogen:
„Jene, welche Pässe, Grenzen, Botschaften und Diplomatie wollen, haben nicht verstanden, dass die Anhänger der Religion von Ibrâhîm […] nicht an diese heidnischen Götzen glauben und sie als Feinde betrachten. […] Wir wollen den Staat des Propheten wieder aufbauen und jenen der vier rechtgeleiteten Kalifen; und nicht den Nationalstaat von Robespierre, Napoleon oder Ernest Renan.“ (Dar al-Islam) [8]
Der IS verwaltet ein Territorium von 300’000 km², das von 8 bis 10 Millionen Einwohnern bevölkert ist. Er hat sofort Institutionen im kontrollierten Territorium aufgebaut (oder sie verändert). Sie sind rund um eine reduzierte Zentralverwaltung (sieben Ministerien neben dem Kalifen), einem Kriegsrat und sieben von einer Schura assistierten Provinzgouverneuren strukturiert.
Die beiden grossen Zonen (Syrien und Irak) verfügen über eine konsultative Versammlung, die aus Imamen, Predigern, den Notabeln der Städte und den Anführern der Stämme bestehen, wo nicht alle Stimmen das gleiche Gewicht haben, jedoch der Konsens gesucht wird. Die Demokratie als westliche und „götzendienerische“ Erfindung wird abgelehnt und legislative Gewalt ist nutzlos: Die Scharia reicht.
Raqqa (200’000 Einwohner) ist de facto die Verwaltungshauptstadt, Mosul (2.5 Millionen Einwohner) die religiöse Hauptstadt.
Wenn er ein Territorium erobert, gibt der IS die Macht lokalen Akteuren zurück (oder lässt sie ihm Amt, wenn er ihnen vertraut): Stammesführer, Quartierchefs, unter der Bedingung, dass sie dem IS ausschliessliche Treue schwören, keine anderen Embleme als jenes des IS tolerieren und seine sittlichen Benimmregeln respektieren.
Die Tatsache, dass die Regierung des Kalifats sich brutal durch Gewalt und Willkür durchsetzt, ist gewiss kein Grund, ihr den Namen Staat abzusprechen, ganz im Gegenteil.
Aussergewöhnliche Repression – und gewöhnliche
In einer Region, die in dieser Hinsicht ziemlich gut bedient ist [9], ist der IS eines der repressivsten Regime, doch es ist v.a. das einzige, das eine derartige Schaufensterauslage seiner „Grausamkeiten“ macht. Für westliche Gesellschaften, die eine Entbrutalisierung [10] erlebt haben, kann das nur das Werk von „Barbaren“ sein, d.h. sie sprechen nicht „unsere“ Sprache.
In den Gebieten, die er kontrolliert, baut der IS jedoch eine Art Rechtsstaat wieder auf und „erfüllt“ somit „die Erwartungen der lokalen Akteure“ [11]. Im Irak hat er die schiitischen Truppen verjagt, die von der Bevölkerung als verabscheuenswerte Besatzungsarmee betrachtet wurden, eine check point army, deren Präsenz nur Übergriffe, Gewalt, Vergewaltigungen, Erpressung, verallgemeinerte Korruption und Unsicherheit zur Folge hatte [12]. In einer Stadt wie Mosul, wo das Schmiergeld und der Klientelismus regierten, waren die ersten, höchst symbolischen, wenig aufwändigen und sehr mediatisierten Massnahmen des neuen Regimes die Entlassung und öffentliche Hinrichtung der Korrupten. Die Einwohner stellen fest, dass „die Lage eindeutig besser ist als vorher, als es nicht mehr auszuhalten war“ [13].
Wenn in Mosul die Ordnung herrscht, so ist das auch wegen einer gnadenlosen Repression. Aber sie ist weit davon entfernt, von einem tödlichen, unkontrollierten Wahnsinn diktiert zu sein, sie richtet sich nach kalten Staats- und Verwaltungslogiken und findet in einer wörtlichen Interpretation des Korans und der Hadithe (Handlungen und Worte des Propheten) ihre Legitimität. Diese scheussliche, übermediatisierte Repression lässt sich in drei Kategorien einteilen:
1) Politisch-medial
Es handelt sich um Hinrichtungen von Geiseln, die von den Medien des Kalifats in Szene gesetzt werden, um die Abendländer zu schockieren. Sie nehmen einen prominenten Platz in den westlichen Medien ein [14].
2) „Kriegsverbrechen“
Es handelt sich um ebenfalls sehr mediatisierte Massaker, die vom IS in den Stunden und Tagen nach der Eroberung einer Stadt oder eines neuen Territoriums begangen werden. Neben den Hinrichtungen von Anhängern oder Schergen von anderen Regimen, oder sogar von demokratischen Aktivisten, die allen vorhergehenden Gruppen entkommen sind, kann die neue Kalifatsverwaltung die noch präsenten religiösen Minderheiten nicht übersehen [15]:
Die Leute des Buches (die Christen) haben drei Möglichkeiten: Bekehrung, Status als dhimmi (Bürger zweiter Klasse, aber geschützt) oder Exil. Viele haben schon vor dem Ankommen des IS letzteres gewählt [16].
Die „Heiden“ (die Jesiden z.B.) werden nicht einmal als Menschen betrachtet und haben somit überhaupt kein Recht. Sie müssen getötet oder versklavt werden.
Die Apostaten (Atheisten oder Bekehrte) verdienen schlicht und einfach den Tod. Der IS benutzt häufig den takfir, ein Verfahren, das es erlaubt, einem Gegner abzusprechen, Muslim zu sein, und aus ihm einen Apostaten zu machen (das gilt für die Schiiten, aber auch für praktisch alle Sunniten, die Gegner des IS sind).
Obwohl sich der IS zum Ziel gemacht hat, strikt anzuwenden, was gemäss ihm Teil der koranischen Vorschriften ist, handelt es sich hier nur um Theorie. In der Praxis, während den Kämpfen, sind die Betreuung und die Disziplin noch nicht auf höchstem Niveau, „Fehlverhalten“ und „Übergriffe“ sind gang und gäbe.
Die Wiedereinführung der Sklaverei ist eine Folge der militärischen Erfolge. Die gefangengenommenen Frauen und Kinder („Ungläubige“) werden als Teil der Beute betrachtet, die gerecht verteilt werden muss (oder zumindest der Ertrag ihres Verkaufs). Die Opfer werde somit in Bedienstete und/oder „Kebsen“ [17] verwandelt (einige sollen von türkischen Zuhältern gekauft worden sein). Auch hier ist der IS überzeugt, die Angaben im Koran hinsichtlich dieser Praxis buchstabengetreu anzuwenden [18].
3) Gewöhnliche Justiz
Für viele Kommentatoren ist die alltägliche Justiz und das Strafrecht jener Dienst, welcher im Kalifat am effizientesten funktioniert. Religiöse Richter, die qadis, sind über das ganze Territorium nominiert worden und haben sich im Justizpalast eingerichtet.
Es gibt verschiedene Strafen: Busse, Beschlagnahmung, öffentliche
oder nicht-öffentliche Auspeitschung (z.B. weil man eine Zigarette
geraucht hat [19]),
Gefängnis, Amputation (für einen Dieb), verschiedene
Hinrichtungstechniken (wegen Ehebruch, Homosexualität, Vergewaltigung,
Korruption usw.). Es geht um Abschreckung und die Statuierung eines
Exempels, die Hinrichtungen sind öffentlich und die Leichen werden
vorgeführt. Der Rückgang der Kriminalität sei beträchtlich.
Man findet Aspekte dieser Praktiken in anderen muslimischen Ländern, allen voran in Saudi-Arabien.
Die Justiz geniesse bei der Bevölkerung einen „Ruf der Unbefangenheit“ [20]. Die Medien des IS heben natürlich Beispiele hervor, die zeigen, dass die Jihadisten nicht über dem Recht stehen: Hie und da wird ein Verantwortlicher wegen Korruption gekreuzigt oder ein Kämpfer wegen einer Vergewaltigung hingerichtet.
Die qadis verfügen über eine Polizei, die beauftragt ist, ihre Entscheide durchzusetzen. Eine andere Einheit, die muhtasibîn, setzt die hisbah (was sich gemäss dem Koran gehört oder nicht) durch. Diese Sittenpolizei, welche durch die angestellten europäischen Jihadistinnen bekannt geworden ist, überwacht auch die Märkte.
Schliesslich gibt es auch eine politische Geheimpolizei, die Anni, und Demonstrationen sind verboten. Die Kontrolle und die Überwachung der Bevölkerung scheinen besonders furchtbar und Experten sehen darin die „Handschrift“ irakischer Offiziere, die in den Techniken des Ostblocks ausgebildet worden waren [21]. Die aufgestöberten Oppositionellen werden als abschreckendes Beispiel hingerichtet und, man ahnt es, „wenn man ihre Regeln ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert, wird einem niemand etwas zuleide tun“ [22]. Eine repressive Politik, so effizient sie auch sein mag, reicht jedoch nicht, um den Fortbestand eines Regimes zu garantieren.
Das alltägliche Leben
Die verfügbaren Informationen sind bruchstückhaft, häufig anekdotenhaft und betreffen in den meisten Fällen Raqqa oder Mosul. Die Realität ist vermutlich auf dem Land oder von einer Stadt zur anderen ziemlich unterschiedlich, je nach dem, wie lange der IS schon dort ist, wie viel Unterstützung oder Widerstand es seitens der Bevölkerung gibt, wie weit die Front entfernt ist. Die Reglementierungen können z.B. schrittweise angewendet werden [23].
Was in den Strassen auffällt, sind gewiss die Frauen in Schwarz. Die neuen Sitten- und Religionsgesetze (Tabak-, Alkohol- und Drogenverbot [24]), v.a. jene, welche die Lage der Frauen betreffen, sind allseits bekannt.
In Tat und Wahrheit hat sich die Lage der Frauen im Irak seit dem ersten Embargo 1990 und v.a. nach 2003 schrittweise verschlechtert. Das gleiche gilt wahrscheinlich für Syrien, wo die meisten von Assad „befreiten“ Gebiete in den Händen von bewaffneten islamistischen Gruppen sind.
Neben einer sehr strikten Kleiderordnung, die schon im zartesten Alter gilt (Schleierpflicht für die Mädchen ab dem dritten Schuljahr), können sich die Frauen in den Städten des Kalifats nur in Anwesenheit eines männlichen Vormundes bewegen. Die einzigen Arbeitsstellen für Frauen, die es erlauben, nicht zu Hause zu bleiben, scheinen jene des Medizin- oder Bildungssektors zu sein. Man kann anmerken, dass die Frauen im Gegensatz zu Saudi-Arabien das Recht haben, Fahrzeuge zu lenken.
Auch von den Männern wird gute Kleidung erwartet, allen voran, dass sie als zu westlich beurteilte Kleidung oder gewisse Markenkleider meiden.
Die Strassen der grossen Städte, in welchen die Polizei die Kleider prüft, scheinen allerdings verstopft und lärmig, die Stände und Läden gut ausgestattet, die Geschäftstätigkeit ist in vollem Gange [25]. Der IS will nicht das business erschüttern, nur den Schein und die Oberfläche, damit sie dem göttlichen Willen entsprechen. Der Rhythmus der Tage wird durch die fünf täglichen Gebete bestimmt (oder durcheinandergebracht, gemäss einigen Geschäftsmännern), es hat endlich Beamte, welche den Verkehr an den Kreuzungen regeln, neue Nummernschilder, einen Mondkalender usw.
Der IS schenkt auch der Sicherung und Verbesserung der Versorgung eine besondere Beachtung, sowie der Senkung der Lebensmittelpreise; daher kommt die Kontrolle über die Mühlen und Bäckereien, die früher in Syrien öffentliches Eigentum waren. Während eine noch junge „Konsumentenschutzbehörde“ die Hygiene und Qualität der Produkte überwacht, ist die Aufmerksamkeit der muhtasibîn auf die Preise in den Strassen und den Märkten gerichtet: Man sollte nicht vergessen, dass man wegen „Spekulation und Hortung“ hingerichtet werden kann [26].
Wenn eine Stadt erobert wird, ist eine der Prioritäten des IS, genau wie von jeder konsequenten Besatzungsarmee, die Funktion der öffentlichen Dienste wiederherzustellen. Die Angestellten der öffentlichen Unternehmer und die Funktionäre werden angeregt, zu bleiben, und die Bezahlung der Löhne ist garantiert, falls nötig (und sie ist regelmässiger als unter der Herrschaft von Nouri al-Maliki) [27]. Das Standesamt funktioniert wieder, es passt sich einfach den gesetzlichen Modifikationen an (wie die Heiratsberechtigung für Mädchen ab neun Jahren).
Der IS bemüht sich, die vom Krieg beschädigte Infrastruktur wieder aufzubauen, doch lanciert auch neue Projekte, die in seiner Presse gepriesen werden: Reparatur von Brücken und Stromkreisen, Eröffnung von verbilligten Linien des öffentlichen Verkehrs, Wiederherstellung eines Postdienstes usw. Während der Eroberung von Palmyra, als die Hinrichtungen noch kaum vorbei waren, hat der IS eiligst Techniker vor Ort geschickt, damit es wieder Elektrizität und Internetverbindungen gibt. Die Funktionäre der Stadt haben eine Lohnvorauszahlung bekommen und neues medizinisches Gerät ist im Spital installiert worden [28]. In Raqqa ist sinnbildhaft der Palast des Gouverneurs in ein Spital verwandelt worden [29]. In den peripheren Gebieten, die manchmal vom vorherigen Regime vernachlässigt worden waren, hat der IS „von bedeutenden Kontrasteffekten in seinem Verhältnis zur Bevölkerung profitieren“ [30] können, indem er Impfkampagnen, den Bau von Krankenstationen, Brunnen und Schulen finanziert hat.
Die Bildung ist eine weitere der angezeigten Prioritäten. Das Regime
besteht auf der Notwendigkeit, die Schulen und Universitäten wieder zu
öffnen, allen voran die wissenschaftlichen und technischen Studiengänge.
Es hat eine Medizinfakultät in Raqqa eröffnet, wo eine
wissenschaftliche Universität für die Frauen reserviert ist. Die
Schulprogramme haben eine brutale Reform hinnehmen müssen, die vom
saudischen Modell inspiriert ist.
Es zirkulieren Bilder von Kindern und jungen Teenagern, die eine
militärische Ausbildung erhalten, ohne dass man näheres zum Kontext
sagen könnte: kompletter Schulabbruch oder (wahrscheinlicher) einwöchige
Weiterbildung?
Doch die Propaganda des Regimes zeigt auch Jihadisten, die ihre lächelnden Kinder ins öffentliche Bad begleiten, mit ihnen spielen, andere Kinder am Steuer von Putschiautos oder auf gigantischen aufblasbaren Spielzeugen in Parks. Man weiss auch, dass in Mosul ein „Unterhaltungstag“ mit Verteilung von Ballons (sic!) und ein Koranrezitierwettbewerb in Raqqa organisiert worden ist... [31]
Ein soziales Programm
Die Hinrichtungsvideos sind nur ein Teil der Propaganda des IS auf dem Internet: Es kommt ein sozialer und karitativer Teil hinzu.
Es gehört zum klassischen Repertoire islamistischer (Oppositions-)Bewegungen, Hilfsprogramme für die Ärmsten auf die Beine zu stellen. Jenes des IS ist von einem grossen Ausmass und die angekündigten Massnahmen variieren: Zuschüsse für die ärmsten Familien (in Raqqa, eine von Damaskus vernachlässigte Stadt, 10 $ pro Kind, dann 250 $ am Winteranfang) [32], Eröffnung von Kantinen, Verteilung von Lebensmitteln, Kontrolle oder Senkung der Preise der lebensnotwendigen Produkte, Begrenzung der Mieten, Familienzuschüsse, Prämien bei Heirat und für jede Geburt [33], Zuschüsse für die Familien von im Kampf gefallenen Soldaten usw.
So kauft der IS den sozialen Frieden und die Unterstützung der Bevölkerung, doch es ist auch Teil seines politischen Projekts. Obwohl die Jihadisten, welche ein Territorium verwalten müssen, die Gegner kreuzigen, müssen sie auch zur immensen Mehrheit Sorge tragen, die ihre Interpretation der Scharia respektiert und die bis zu einem gewissen Grad auch von den militärischen Eroberungen profitieren kann [34].
Es gibt zwingend einen Unterschied zwischen einem Programm und seiner Realität [35]. Umso mehr, weil der IS aufgrund seiner religiösen Legitimation die (von Gott) erschaffene Ordnung durch Interventionen bezüglich der Einkommensunterschiede, der Klassen, der Hierarchien (manchmal Stammeshierarchien), Treuepflichten usw. nicht durcheinanderbringen darf. Er kann sich nur die Begrenzung der deutlichsten Exzesse und Missbräuche zum Ziel machen, ohne jedoch selbst der Korruption zu erliegen, was nicht einfach ist [36].
Die Kalifatswirtschaft
Die Informationen in diesem Bereich sind im allgemeinen fragmentarisch und unkontrollierbar (man erfährt z.B., dass die Zementindustrie 10% der Einnahmen des IS repräsentiere, ohne nähere Präzisierung [37]); es werden viele Zahlen zitiert, doch man erfährt sehr wenig Details über die konkrete Funktionsweise der Unternehmen.
Der IS verfüge über ein Vermögen von 2’260 Milliarden Dollar, seine berühmte „Kriegskasse“, doch in Tat und Wahrheit umfasst diese Zahl auch den Wert der Öl- und Gasinstallationen, der Phosphatminen, der Anbauflächen und der auf seinem Territorium gelegenen kulturellen Sehenswürdigkeiten (davon Hunderte von Millionen Dollar, die er sich aus den Safes der Zentralbank von Mosul verschafft hat) [38]. Das Vermögen ist im Vergleich zu 2014 steigend. Das Staatsbudget 2015, ungefähr 2.5 Millionen Euros, sei kleiner geworden, besonders aufgrund der Öleinkommen (geringerer Ölpreis und vermehrte Bombenangriffe), obwohl die Einnahmen aus Steuern und Beschlagnahmungen steigen.
Wir haben es allen voran mit einer Kriegswirtschaft zu tun, in Gebieten, die manchmal wegen den Kämpfen verwüstet sind und einen grossen Teil ihrer Bevölkerung verloren haben. Das gilt v.a. für Syrien, wo von 22 Millionen Einwohnern 4 Millionen ins Ausland geflüchtet sind und 8 bis 10 Millionen ihr Zuhause verlassen haben müssen; einige Städte sind unbeschädigt in die Hände des IS „gefallen“, doch andere sind von langen Kämpfen verwüstet worden. Etliche Fabriken sind in andere Regionen oder in die Türkei umgezogen [39].
Die Situation ist anders im irakischen Teil des Kalifats, wo sich die Wirtschaft und die Bevölkerung seit langem einer solchen Situation angepasst haben.
Die Wirtschaft des IS ist durch die Türkei (und in geringerem Ausmass durch Jordanien) mit dem Rest der Welt verbunden, doch der türkische Kriegseintritt im Sommer 2015, sowie die kurdischen Offensiven bedrohen diesen Zugang.
Im Rahmen einer Kriegswirtschaft scheint der IS pragmatisch zu sein, um jene Produktionseinheiten so schnell wie möglich wieder zu beleben, welche für seine militärischen Anstrengungen und für die Versorgung der von ihm verwalteten Bevölkerungen (und für die Eintreibung der Steuern) notwendig sind, je nach Dringlichkeit, Art des Eigentums (die zahlreichen Staatsunternehmen oder private), Art des Unternehmens, lokalen Besonderheiten. Diese Anpassungsfähigkeit wird durch die grosse Autonomie der lokalen Behörden erleichtert.
Es ist dieser Realismus, und nicht ein Streben nach wirtschaftlichem Liberalismus, der die Privatisierung gewisser Staatsunternehmen (ohne dass ein finanzieller Profit ausgeschlossen werden kann) oder die Lancierung eines Unterstützungsprogramms für kleine Unternehmen und die lokale Wirtschaft [40] erklärt. Die von den Eigentümern verlassenen Fabriken sind wahrscheinlich vom IS wieder zum Funktionieren gebracht worden. Die Verwaltung gewisser Ölbetriebe wurde z.B. eine gewisse Zeit den schon vorhandenen Unternehmen oder in anderen Fällen lokalen Stämmen überlassen.
Auf jeden Fall scheint der IS mehr Programme, Broschüren, Dekrete, Fatwas usw. zu Sittenfragen denn zu Wirtschaftsfragen zu erlassen.
Abgaben und Steuerwesen
Ein neues Steuersystem, das auf regelmässigen Abgaben und formalisierten Prozeduren und Tabellen basiert, ist eingeführt worden, um einen funktionierenden Staat zu garantieren. Diese Steuern, die von den westlichen Medien als „Erpressung“ und „Schutzgeld“ bezeichnet werden, repräsentieren weniger als einen Drittel der Einnahmen des IS. Die Zakât ist Teil davon, es handelt sich um gesetzliche Almosen und die dritte Säule des Islams, aber auch diverse andere Formen, für die Bauern manchmal als Naturalsteuer; die Sadaqa, eine freiwillige Spende an die Bedürftigen, und die Djizya, die Steuer der dhimmis, sie ist hoch, doch progressiv je nach Einkommen (man spricht von 60 bis 250 Dollar pro Monat in Mosul).
Sehr viele Abgaben existieren (einige als Formen der Zakât), z.B. auf: Unternehmen, Einkommen neu gegründeter Unternehmen, Telekommunikation, Schutz der Geschäfte, Bargeldbezug, Löhne (5% für den „sozialen Schutz“), die von Damaskus und Bagdad bezahlten Löhne (50%), Produkte an den Grenzen, Kamele, Mautstellen usw. Dieses Steuerwesen ersetzt jenes der vorhergehenden Regime, doch auch die damals obligatorischen Schmiergelder.
Die „Erpressungen“ bestehen aus zahlreichen Fällen von Beschlagnahmungen: von Geld im Falle von Regelverletzungen (Alkohol oder Zigaretten), von Häusern, Land, Fahrzeugen oder Vieh, nachdem diese von ihrem Eigentümer zurückgelassen worden sind.
Die Vermehrung der Einnahmen 2015 hat zwei Ursachen: die Schwierigkeiten des Regimes, das gezwungen ist, die bestehenden Abgaben zu erhöhen, und eine Verbesserung der Verwaltung und der Steuereintreibung.
Aussergewöhnliche und „kriminelle“ Ressourcen
Es handelt sich um Beträge, die von privaten Spendern aus dem Golf (die Verbindungen zwischen Stämmen spielen hier eine wichtige Rolle) überwiesen werden, Lösegeld von Geiseln, Verkauf/Rückkauf von Sklaven und den Handel mit Antiquitäten (oder eher dessen Einbettung). Da sie häufig mit militärischen Eroberungen verbunden sind, tendieren diese Einkünfte dazu, zu versiegen.
Es zirkulieren zahlreiche Gerüchte über diverse Schwarzmärkte (Zigaretten, Drogen, Organe) und mafiöse Aktivitäten, die der vom Regime verteidigten Ideologie widersprechen. Was gewisser scheint, ist die Besteuerung einiger vorher schon existierender Sektoren (z.B. jener des Captagons).
Banken [41]
Der IS hat sich mit einer Staatsbank und einer offiziellen Währung ausgestattet: Dinare, Dirhams und Fulus des Kalifats in Form von Geldstücken aus Gold, Silber und Kupfer (der Wert des Geldstücks entspreche dem eigentlichen Wert des Metalls, aus dem es gemacht ist). Abgesehen davon, dass er wenig wahrscheinlich ist, weiss man wenig über ihren wirklichen Gebrauch.
Der IS kontrolliert auf seinem Territorium mehrere Dutzend Finanzinstitute, einige davon machen nach wie vor Geschäfte und auch internationale Überweisungen. Die Banken von Mosul, die Filialen von Finanzinstituten, deren Hauptquartier im Golf oder Bagdad liegt, haben weiterhin normal funktioniert (und tun das vielleicht immer noch).
Dennoch ist das Regime mit Schwierigkeiten in Bezug auf die Wechselkurse konfrontiert: Obwohl die Einnahmen in Form von Dollars, Euros, türkischen oder syrischen Liren einkassiert werden, regelt es seine Rechnungen in Dollar.
Landwirtschaft
Sie repräsentiere zwischen 7 und 20% der Einnahmen des Kalifats, das die fruchtbaren Tigris- und Euphrattäler kontrolliert, wo 50% des syrischen Getreides, ein Drittel des irakischen Getreides (achtgrösste Getreideproduktion weltweit) und ungefähr 40% der irakischen Gerste produziert worden waren.
Auch hier ist der Krieg ein wichtiger Faktor in Regionen, die stark von der Landwirtschaft geprägt sind (im Bezirk Raqqa arbeitet 50% der aktiven Bevölkerung in diesem Sektor). Viele Bauern sind geflohen (besonders die Christen und die Kurden) und haben ihre Höfe und ihr Land zurückgelassen. Der IS hat sie sich angeeignet, doch es liegen Felder brach [42]. Die Kontrolle über diese Produktion ist vital, denn sie erlaubt dem Regime, den Preis des Mehls und somit des Brotes als Grundlage der Ernährung festzulegen.
Der IS kontrolliert auch einen grossen Teil der syrischen Baumwollfelder, deren Erträge 1% seiner Einnahmen repräsentiere. Der Export dieser Faser ist weniger leicht als jener des Öls, doch die Hauptdestination ist die gleiche: 6% der türkischen Importe sollen aus den Feldern des Kalifats kommen. Das reicht, um einen Fünftel der T-Shirts made in Turkey zu produzieren (was 1.2% der in Frankreich verkauften T-Shirts repräsentiert) [43].
Sonstiges
Obwohl sich der IS die Mehrheit der syrischen Phosphatminen (die zur Düngerproduktion nötig sind) angeeignet hat, hat er nicht die Mittel, um die Gesamtheit der Produktion neu zu lancieren und er hat Schwierigkeiten, sie zu verkaufen. Sie repräsentiere trotzdem 10% seiner Einkünfte [44]. Er kontrolliert auch Schwefelminen in Syrien und Irak, sowie zahlreiche Zementfabriken.
Mineralöle
Obwohl die amerikanischen Firmen 2003 alle irakischen Verträge an sich gerafft haben, sind sie seither mit der Konkurrenz von BP, Lukoil und v.a. China konfrontiert worden, China hat seit 2008 Dutzende Milliarden ins irakische Öl investiert und ist zum ersten Kunden und Investor im Land geworden. Heutzutage werden 50% der Produktion nach China exportiert (und 2035 vermutlich bis zu 80%) und es gibt Pläne, die beiden Länder mit zwei Pipelines miteinander zu verbinden. Mehr als 10’000 chinesische Arbeiter waren vor der Entstehung des IS im Land.
Während die USA versuchten, sich militärisch aus der Region zurückzuziehen, störte die Vergrösserung des irakischen Chaos allen voran die chinesischen Investoren (die durch den Krieg schon aus Syrien vertrieben worden sind). Erst im August 2014, als der IS jene Ölfelder, die einen Vertrag mit amerikanischen Firmen haben (Kurdistan und Südirak), und Bagdad (dessen Fall für die ganze Region katastrophal gewesen wäre) bedrohte, musste die amerikanische Luftwaffe intervenieren.
Der IS kontrolliert 60% des syrischen und 10 bis 15% des irakischen Öls (letztere Zahl ist seit dem Rückzug der Truppen des IS im Herbst 2015 gewiss geringer). Die Produktion wird 2015 auf zwischen 20’000 und 50’000 Ölfässer täglich geschätzt, gegen mindestens 70’000 das Jahr zuvor: Das ist nichts verglichen mit der regionalen Produktion (Syrien produzierte 2010 385’000 Fässer täglich) [45]. Das Öl, das 50 bis 60% unter dem Marktpreis verkauft wird, trägt 1 bis 1.5 Millionen Dollar pro Tag ein, d.h. zwischen 350 und 600 Millionen Dollar jährlich. Es ist die Haupteinnahmequelle des IS (je nach Quellen zwischen 25 und 40%), doch die Erträge gehen aufgrund des tieferen Marktpreises und der westlichen Bombenangriffe zurück.
Daesch rekrutiert übrigens kompetentes Personal mit guten Löhnen (Techniker, Ingenieure, Trader...) in Syrien und im Irak, doch auch im Ausland, um die Produktivität seiner alternden Installationen zu verbessern [46]. Der Islamische Staat hat sich zum Ziel gesetzt, den Ertrag der Ölfelder, im Vergleich zu jenem bevor er sie sich angeeignet hat, zu verdoppeln[47].
Der IS begnügt sich fast ausschliesslich damit, Rohöl zu extrahieren, das gleich neben den Ölfeldern an unabhängige Händler, Schmuggler oder einfache Eigentümer von Lastwagen verkauft wird, die das Öl zur Raffinerie, zum lokalen Konsum (60 bis 70%) oder in den Export bringen. Im Oktober und November 2015 sollen amerikanische Bombenangriffe Hunderte von Lastwagen zerstört haben. Auch grosse Raffinerien, sowie viele selbst gemachte (mobile) Raffinerien sind von der Koalition zerstört worden, deshalb wendet sich der IS an private Raffinerien, deren Produktion er darauf mit Abgaben belastet. In Syrien konnten private Ölfirmen weiterhin in den vom IS eroberten Gebieten arbeiten, falls sie eine Steuer bezahlen [48]. Der Export funktioniert über Schmuggelwege in Richtung Jordanien, Türkei oder von verfeindeten Gruppen gehaltene Gebiete mithilfe einer Unzahl von Lastwagen, manchmal auf dem Rücken von Eseln oder Pferden oder durch selbst gemachte Mini-Pipelines. Im Irak ist der Schwarzmarkt für Öl eine Praxis die auf die Zeiten des Embargos oder gar noch weiter zurückgeht.
In Syrien ist die Kontrolle über die Extraktion eine wichtige Ursache zahlreicher Konflikte zwischen Rebellengruppen um die Verteilung dieser wichtigen Einkommensquelle. Das gleiche gilt für die Gasfelder, die es erlauben, den Bevölkerungen Gas und Strom zu liefern.
Das führt auch zu verblüffenden Geschäften. Das auf dem Territorium des IS extrahierte Öl kann seinen Feinden verkauft werden: an andere Gruppen, an das Regime von Damaskus oder nach Rojava [49]. Die Eroberung eines Gaskraftwerks in der Nähe von Palmyra hat Raqqa und Damaskus zum Feilschen gezwungen, denn niemand kontrolliert die Gesamtheit der Kette von der Produktion bis zur Verteilung [50]. In der Region Deir ez-Zor hat der IS die Öl- und Gasextraktion lokalen Stämmen anvertraut, die einen Teil des Profits für sich behalten, doch auch einen Teil der Produktion dem Regime von Assad verkaufen, um sich gegen Luftschläge zu schützen [51]. Man achte auf Sabotagen von Pipelines von Stämmen, die nicht mitspielen dürfen!
Lediglich ein Staat?
Einen Staat aufzubauen, während man mit fast allen Mächten des Planeten im Krieg steht, ist alles andere als einfach. Was wir oben beschrieben haben, ist weniger eine sozioökonomische Übersicht zu einem Zeitpunkt Z und eher die Skizzierung eines Prozesses zwischen dem Sommer 2014 und 2015. Während dieser Periode, die vielleicht eines Tages als „Blütezeit“ des Kalifats, als die Periode seiner grössten Expansion betrachtet werden wird, versucht sich der IS im Aufbau eines Staats und seiner Verwaltung, während er versucht, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und seiner Bevölkerung einen erträglichen Lebensstandard zu ermöglichen.
Diese Periode ist wahrscheinlich abgeschlossen und der Prozess geht nun in die andere Richtung. Wenn es zu keiner beträchtlichen Überraschung kommt, dürfte das Problem der territorialen Existenz des IS in Irak und Syrien durch die schrittweise Involvierung der Türkei in den Konflikt, die russische militärische Intervention (Oktober 2015) und die Verstärkung jener des Westens (Sommer und Herbst 2015) in einigen Monaten geregelt sein. Es sind jetzt schon alle Indikatoren rot und die oben zitierten Produktionstabellen und Statistiken werden Ende 2016 sehr geringe Werte angeben.
Wir fragten uns am Anfang, wieso es funktioniert. Und wir haben gesehen, dass das Überleben und die Expansion dieses Regimes nicht nur durch seine militärischen und polizeilichen Fähigkeiten erklärt werden können. Einige sprechen sogar von einem „Wohlfahrtsstaat“.
Doch das Kalifat ist auch mehr als lediglich ein banaler Staat. Er begnügt sich nicht mit Verwaltung, sondern beabsichtigt, die Welt zu verändern, ein neues Zeitalter einzuleiten oder es vorzubereiten... Ein Zeitalter, in welchem es für den IS natürlich nicht darum ginge, die Lohnarbeit oder die Warengesellschaft abzuschaffen, nur darum, sie nach seiner Weise umzubauen. „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert“ […], die Oberfläche, die Sitten, Gebräuche usw. Natürlich, doch heutzutage heisst die Hoffnung für Millionen von Einwohnern des Iraks und Syriens und darüber hinweg Kalifat. Und Zehntausende Jugendliche, besonders viele Proletarier, überqueren den Planeten, um dort zu leben oder zu sterben, und viele andere träumen davon. Diese Hoffnung ist trostlos. Oder nicht?
Einige Literaturverweise:
1) Zum Islamischen Staat (nach Relevanz)
Pierre-Jean Luizard, Le Piège Daech. L’État islamique ou le retour de l’histoire, Paris, La Découverte, 2015.
Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015.
Philippe-Joseph Salazar, Paroles armées. Comprendre et combattre la propagande terroriste, Paris, Lemieux Editeur, 2015.
Myriam Benraad, Irak, la revanche de l’histoire. De l’occupation étrangère à l’État islamique, Paris, Vendémiaire, 2015.
2 / Zur Religion
Troploin, "Le Présent d’une illusion", Lettre de Troploin, n° 7, Juni 2006.
Maxime Rodinson, Mohammed, München, C.J. Bucher, 1975 [1961].
Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Berlin, Suhrkamp, 1986 [1966].
Emmanuel Carrère, Das Reich Gottes, Berlin, Matthes & Seitz, 2016 [2014].
Gilbert Achcar, Marxisme, orientalisme, cosmopolitisme, Arles, Sinbad, Actes Sud, 2015.
Tristan Leoni, November 2015.
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net.
[1] Arabische Abkürzung für den alten Namen des IS, den er von April 2013 bis Juni 2014 benutzt hat, „der Islamische Staat im Irak und der Levante“ (der seinerseits auf „Islamischer Staat im Irak“ folgte).
[2] Das Projekt der PYD beschränkt sich auf den syrischen Teil Kurdistans (Rojava). Der IS will sich hingegen in einer ersten Phase von Indien bis nach Spanien ausbreiten. Über die PYD, siehe unseren im Januar 2015 auf DDT21 erschienenen Artikel „Rojava: Realität und Rhetorik“.
[3] Zu dieser Frage, siehe Myriam Benraad, Irak, la revanche de l’histoire, Paris, Vendémiaire, 2015.
[4] Ab 2006 hatte Bagdad in den al-Sahwa-Komitees (das Erwachen) sunnitische Milizen angestellt, um gegen Al Qaida zu kämpfen. Der Premierminister Nouri al-Maliki beendet die Operation 2009, womit er 85’000 Mitglieder der Milizen entlässt.
[5] Pierre-Jean Luizard, Le Piège Daech, La Découverte, 2015, S. 17.
[6] Siehe die Interviews mit Philippe-Joseph Salazar, die seit November 2015 auf Youtube verfügbar sind.
[7] Interview mit Bernard Badie, Afrique Asie, Oktober 2015, S. 33.
[8] Dar al-Islam, Nr. 3, März-April 2015, S. 14 (Dar al-Islam ist die französischsprachige Zeitschrift des IS).
[9] Rojava stellt die einzige Ausnahme dar. Die Chancen, dort willkürlich eingesperrt, hingerichtet, gefoltert zu werden oder zu „verschwinden“, sind weit geringer als überall sonst in der Region. Sogar Human Rights Watch räumt das ein.
[10] Im Sinne von George Mosse, jenem Historiker, der das Konzept der „Brutalisierung“ ausgearbeitet und es auf die Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg angewendet hat, er sieht darin die „Gebärmutter der Totalitarismen“.
[11] Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 15-16.
[12] Die Armee von Bagdad, die von organisierter Abwesenheit und starker Korruption geprägt ist, war von einer seltenen Ineffizienz, die Sicherheit in der Stadt auch nur annähernd zu garantieren.
[13] Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 29.
[14] Diese Bilder kommen nicht über die gleichen Kanäle wie z.B. die zahlreichen und im Internet sehr populären, die Jihadisten zeigen, die mit kleinen Katzen spielen.
[15] Eine Behandlung, die durch ihre Praktiken und ihren religiösen Rahmen an jene der Okzitanen während den Kreuzzügen der Albigenser im 13. Jahrhundert erinnert.
[16] Die dhimmitude, die streng und zwingend ist, beinhaltet allen voran die Zahlung einer Sondersteuer, die Djizya. In Raqqa haben sich einige Dutzend Christen für diesen Status entschieden, während in Mosul die Bischöfe das Exil vorgezogen haben.
[17] Abdel Bari Atwan, Islamic State: The Digital Caliphate, London, Saqi Books, 2015; Claude Moniquet, Djihad : D’Al-Qaida à l’État Islamique, combattre et comprendre, La Boîte à pandore, 2015, S. 182.
[18] Es ist problematisch, diese Machenschaften als „barbarisch“ zu bezeichnen, dafür erinnern sie zu stark an die glorreichsten Stunden der griechischen Antike.
[19] Aufgrund ihrer Gefährlichkeit wird die Zigarette mit dem im Islam verbotenen Selbstmord in Verbindung gebracht.
[20] "Administration, police, communication… Daech, les rouages d’un quasi-État", 18. November 2015.
[21] Alain Rodier, "Irak/Syrie: Daesh, comment ça marche ?", 7. Juni 2015.
[22] Gemäss einem Mitglied der Oppositionsgruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently, zitiert von Layal Abou Rahal, "Raqqa, la ville modèle du califat de l’EI", L’Orient le Jour, 21. Juni 2015.
[23] Hala Kodmani, "A Palmyre, l’État islamique a cherché à gagner la confiance", Libération, 1. Juni 2015.
[24] Das berühmte Captagon, eine Art Amphetamin und weder ein Psychotropikum, noch ein Halluzinogen, wird nicht als haram beurteilt. Die Soldaten des IS benutzen es, denn es stärkt die psychische Lebendigkeit und den Widerstand gegen die Müdigkeit. Französische Jihadisten, die seinem Suchtpotenzial erlegen sind, sind vom IS ins Gefängnis gesteckt worden.
[25] Siehe die Reportagen von Vice News aus Raqqa.
[26] Zuvor organisierten die lokalen klientelistischen Netzwerke die künstliche Knappheit von Grundnahrungsmitteln, um eine Preiserhöhung auszulösen.
[27] Bagdad und Damaskus zahlen manchmal weiterhin Löhne an die Funktionäre in Gebieten, die sie nicht mehr kontrollieren; das gilt auch für Rojava.
[28] Hala Kodmani, "A Palmyre, l’État islamique a cherché à gagner la confiance", Libération, 1. Juni 2015.
[29] www.france24.com, Oktober 2014.
[30] Grégoire Chambaz, "Facteurs tribaux dans les dynamiques du contrôle territorial de l’État islamique", 11. Oktober 2015.
[31] Yochii Dreazen, "Daech, administrateur colonial", Foreign Policy, 20. August 2014 (Courrier international, Sondernummer, Oktober-Dezember 2015).
[32] Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015, S. 98. AdÜ: Eine deutsche Übersetzung der Erstausgabe von 2014 ist auf Deutsch in Berlin 2015 beim Vergangenheitsverlag unter dem Titel Der Islamische Staat. Anatomie des neuen Kalifats erschienen, doch mehrere erwähnte Stellen der zweiten französischen Auflage fehlen, deshalb hier nur der Verweis auf die französische Ausgabe.
[33] 1’000 Dollar gemäss Samuel Laurent, L’État islamique, Seuil, 2014, S. 100.
[34] Wir denken hier an das Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Fischer, Frankfurt a.M., 2005.
[35] Die Informationen über einen Mangel an Nahrungsmitteln und einer katastrophalen sozialen Situation vor dem Sommer 2015 sind selten. Siehe z.B. über Raqqa im November 2014: Marie Le Douaran, "A Raqqa, Daech vit grand train mais fait mourir la ville à petit feu", 27. Februar 2015.
[36] Myriam Benraad, "Défaire Daech : une guerre tant financière que militaire" in Politique étrangère, Bd. 80, Nr. 2, Sommer 2015.
[37] Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 118.
[38] Marine Rabreau, "Pétrole, taxes, trafics d’humains : comment Daech se finance", Le Figaro, 19. November 2015.
[39] Henri Mamarbachi , "Comment fonctionne l’économie de guerre en Syrie", http://orientxxi.info, 8. Oktober 2015.
[40] Yochii Dreazen, "Daech, administrateur colonial", op. cit.
[41] Jean-Charles Brisard and Damien Martinez, "Islamic State : The Economy-Based Terrorist Funding", Thomson Reuters, Oktober 2014.
[42] Aline Joubert, "L’État islamique vit-il au-dessus de ses moyens ?", 7. März 2015.
[43] "Le coton syrien continue d’habiller les Français", Le Monde, 23. September 2015 und Caroline Piquet, "Peut-on retrouver du coton «made in Daech» dans nos vêtements ?", Le Figaro, 3. September 2015.
[44] Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 118.
[45] Im Jahr 2014 produziert Italien 121’000 Fässer täglich und Kuwait 2.8 Millionen.
[46] Marine Rabreau, "Comment Daech organise son lucratif marché pétrolier", Le Figaro, 26. November 2015.
[47] Elisabeth Studer, "Daesh financé par la manne pétrolière", www.leblogfinance.com, 19. Oktobrer 2015.
[48] Financial Times, 16. Oktober 2015.
[49] "Les ennemis de Daesh achètent son pétrole", RMC, 26. September 2014.
[50] Jacques Hubert-Rodier, "Les affaires mafieuses d’Assad avec Daech" in Les Echos, 19. Oktober 2015.
[51] Frantz Glasman, "Deïr ez-Zor, à l’est de la Syrie. Des islamistes, des tribus et du pétrole…", 8. Dezember 2013.