Freihandel: "Wenn das Ding so kommt, leben wir in einer anderen Welt"

Erstveröffentlicht: 
02.05.2016

Greenpeace präsentiert den bislang umfangreichsten Einblick in die TTIP-Verhandlungen. Viele Vermutungen und Befürchtungen werden belegt - der Widerstand gegen den Handelspakt dürfte deutlich wachsen.

 

Von Annett Meiritz

 

Die Aufmerksamkeit ist Deutschlands größter Umweltorganisation an diesem Montag gewiss. "TTIP ist intransparent. Das hat sich heute Nacht geändert, durch Greenpeace", sagt Volker Gassner in einem düsteren Saal der Netzkonferenz re:publica in Berlin.

 

Gassner ist Kommunikationschef von Greenpeace, neben ihm stehen Jürgen Knirsch, Handelsexperte der Organisation, und Stefan Krug, Leiter der Politischen Vertretung. Zu dritt berichten sie über ihre TTIP-Enthüllung.

 

Mehrere Zuhörer müssen aus Platzgründen draußen bleiben, es gibt genervtes Geraune vor der Tür. Jeder will sehen, was Greenpeace zu erzählen hat: über das bislang umfangreichste Leak von Dokumenten, die direkt aus den Verhandlungen zum umstrittenen Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA stammen sollen.

 

In der Nacht zum Montag berichtete der Rechercheverbund von "Süddeutscher Zeitung", WDR und NDR über die Dokumente. Es handelt sich um 13 von bislang 17 der sogenannten konsolidierten Verhandlungspapiere. Sie listen den Stand der Dinge im Detail auf und stellen die Positionen von EU und USA gegenüber.

 

Es geht um den Agrarmarkt, um Gentechnik, um Vorschriften für Autoteile. "Wenn das Ding so kommt, leben wir in einer anderen Welt als zuvor", sagt Krug. Er sieht "gravierende Konsequenzen in allen Lebensbereichen".

 

Beide Seiten liegen weit auseinander

 

Greenpeace hat die Papiere nach eigenen Angaben von einem mit den Verhandlungen vertrauten Informanten bekommen. Um ihn zu schützen, wurden nicht die Originale veröffentlicht, sondern Abschriften, in denen Rückschlüsse auf die Quelle verfremdet wurden.

 

Vieles an der Veröffentlichung wirkt wie ein Scoop. Noch vor einer Woche beschworen Kanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama, an TTIP festhalten zu wollen. Eigentlich sollte der Rahmen für den Handelspakt in diesem Jahr stehen. Jetzt wird die Vermutung belegt: Beide Seiten liegen in zentralen Punkten noch immer weit, zum Teil diametral auseinander. "Das Ausmaß der Uneinigkeit ist erstaunlich", sagt Knirsch.

 

TTIP-Kritiker bündeln gerade ihre Kräfte, um das Bündnis in letzter Minute zu stoppen. Die geleakten Papiere wirken deshalb wie ein Zündholz auf Stroh. Greenpeace nutzt die Stimmung für spektakuläres Marketing: In einem Glascontainer vor dem Brandenburger Tor kann sich jeder Bürger die Abschriften ansehen. Vergangene Nacht wurde das Reichstagsgebäude mit Auszügen aus den Dokumenten angestrahlt.

 

Wie spektakulär aber sind die Enthüllungen in der Sache?

 

Die Öffentlichkeit erfährt viel über Verhandlungstaktik. Das gab es in dieser Form noch bei keinem Handelsabkommen. So verlangen die USA, dass die Europäer Zölle auf Agrarprodukte senken und mehr Lebensmittel kaufen, die in den USA produziert werden. Im Gegenzug stellen sie Europas Autoherstellern in Aussicht, US-Zölle für ihre Fahrzeuge komplett zu streichen. Themenübergreifende Deals, wie man sie zum Beispiel bei Koalitionsverträgen kennt, sind auch bei TTIP Realität.

 

Nicht jedes Detail ist eine Überraschung. Bei einigen Aspekten, die in den Papieren auftauchen, war von Anfang an klar, dass bis zuletzt darum gerungen werden würde. Das betrifft zum Beispiel das sogenannte Vorsorgeprinzip in der EU, das die USA offenbar aushebeln wollen. Dadurch dürften in Europa beispielsweise genmanipulierte Pflanzen und Lebensmittel so lange angebaut und konsumiert werden, bis ihre Schädlichkeit nachgewiesen sei. Über diesen Konflikt wurde früh berichtet. Für diese Annahme gibt es nun einen öffentlichen Beleg - darin liegt die Stärke der Papiere. "Zum ersten Mal kennen wir zentrale Positionen der USA. Befürchtungen bestätigen sich", kommentiert Greenpeace.

 

Die Dokumente geben einen spannenden Einblick - haben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. "Das Abkommen ist nicht mehr zu retten", sagt Greenpeace-Mann Knirsch. Tatsächlich scheinen die Papiere zu zeigen, dass die beiden Riesenmärkte eigentlich nicht zusammenpassen. Trotzdem muss man einschränken: Die Dokumente spiegeln den Verhandlungsstand von April wider. In der vergangenen Woche gab es eine weitere TTIP-Gesprächsrunde in New York. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es inzwischen Annäherungen gab.

 

 

Über einen Knackpunkt wissen wir noch immer nichts. "Uns liegt ein Kapitel zur Streitschlichtung zwischen den Verhandlungspartnern vor", erklärt Greenpeace auf der re:publica. Darin geht es aber nicht um die umstrittenen privaten Schiedsgerichte, vor denen Konzerne Staaten verklagen können. In dieser Frage gibt es also keinen neuen Stand - zumindest keinen, der der Öffentlichkeit bekannt wäre. Die EU fordert einen zentralen Handelsgerichtshof, die USA waren zuletzt dagegen.

 

Alles in allem dürfte der Widerstand gegen TTIP jetzt stärker werden. Und für die Bundesregierung wird es nun komplizierter, TTIP öffentlich zu verteidigen. Gegner können sich auf relativ aktuelle Paragrafen stützen - und darüber triumphieren, dass sensible Dokumente gegen den Willen der Verhandler publik wurden. "Ich glaube, die Debatte wird sich nach unserem Leak ändern", sagt Knirsch auf der re:publica. Die Politik werde gezwungen, viel sensibler auf Einwände von TTIP-Gegnern einzugehen.

 

Doch theoretisch sind Kompromisse natürlich noch immer möglich. Das Projekt nach drei Jahren als gescheitert zu bezeichnen, wäre zu diesem Zeitpunkt falsch. Am Montag verteidigte Merkel das Abkommen demonstrativ: Es solle schnell abgeschlossen werden, sagte sie.