Vor 71 Jahren – am 24. April 1945 ist Wurzen kampflos an die Amerikaner übergeben worden. Vor zehn Jahren wurde einem der Köpfe dieser Rettungsaktion gedacht. Heute nehmen neue Pläne Kontur an, Wurzener Straßen nach Armin Graebert, Otto Schunke und Kurt Krause zu benennen.
Wurzen. Am 24. April 2006, vor genau zehn Jahren, enthüllte der damalige Oberbürgermeister (OB) Jürgen Schmidt im Plenarsaal des Stadthauses ein Bildnis. In der Porträtgalerie früherer Stadtoberhäupter zeigt es den Amtsinhaber zwischen 1938 und 1945, Armin Graebert. In die Annalen der Domstadt ist er, gemeinsam mit Otto Schunke und Kurt Krause, als Retter Wurzens eingegangen. Vornehmlich diese drei mutigen Männer hatten am 24. April 1945 unter Einsatz ihres Lebens die Stadt vor dem Schicksal Eilenburgs bewahrt, das zwei Tage zuvor von amerikanischem Militär in Schutt und Asche gebombt worden war.
Graebert (NSDAP), Schunke (SPD) und Krause (KPD) wendeten das grausame Los der Nachbarstadt ab, das auch Wurzen unter der totalen Befehlsherrschaft des hitlertreuen Stadtkommandanten Adolf Gestefeld drohte, indem sie illegal mit dem amerikanischen Kommandeur die kampflose Übergabe organisierten und vollzogen. In vielen Publikationen, auch in dieser Zeitung, sind die dramatischen Ereignisse des April 1945 und die selbstaufopfernden Unternehmen der Akteure um Armin Graebert, Leben und Werte der alten Bischofsstadt zu erhalten, detailgetreu aufgezeichnet worden. Altpädagoge Heinz Gey hat sich dabei in seinem Buch „Wurzens Schicksalstage. Die letzten Kriegstage in Wurzen“ besonders verdient gemacht. Anhand originaler Dokumente, authentischer Zeugenberichte und eigener Erinnerungen an selbsterlebte Schrecknisse hält er die menschliche Größe von Humanisten unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Standorte lebendig.
Im Juli 2005 startete er mit weiteren Berufskollegen und der LVZ eine Initiative, Armin Graebert, Otto Schunke und Kurt Krause für ihre „Verdienste um die Stadt“ mit ihnen gewidmeten Straßennamen zu ehren. In Leserzuschriften an die Zeitung (bei Gey dokumentiert) sprach sich die Mehrheit, insbesondere aus der Generation derer, die ihr Überleben der Rettungstat jener Männer und ihrer Helfer verdankten, für eine solche Würdigung aus. Deren selbstloser humanistischer Einsatz mache jede parteipolitische Zugehörigkeit zur Nebensache. Im damaligen Stadtrat erhielt diese Auffassung jedoch keine Mehrheit.
Graeberts Operation sei „unbestreitbar“ verdienstvoll, doch seine Mitgliedschaft in der verbrecherischen NSDAP erlaube eine solche Ehrbezeigung nicht, hieß es bei der SPD. Daher laute ihre Position: „Ja zur Würdigung der Verdienste Graeberts, nein zu einer Ehrung und Straßenbenennung.“ OB Schmidts „kleine Lösung“, mit einem Porträt den 1945er Rathauschef nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, begrüßten die Antragsteller mit Dank, betrachteten ihre Mission aber nicht für beendet, zumal Schunke und Krause unberücksichtigt geblieben waren. Was völlig zu Recht gewürdigt wurde mit Straßenwidmungen für die Geistlichen Carl Magirius und Franz Wörner, die OB Graebert seelsorgerisch zur Seite standen, sowie für den amerikanischen Kommandeur Victor George Conley, der die Kapitulation der Stadt annahm, müsse, schon der Gerechtigkeit wegen, auch für die Männer an der vordersten Front gelten. Keiner außer ihnen hatte sein eigenes Leben für das ihrer Wurzener Mitbürger sehenden Auges in die Schanze geworfen.
Zehn Jahre nach der halbherzigen Würdigung wenigstens eines der Hauptakteure und 71 Jahre nach dem geschichtsträchtigen 24. April 1945, an dem Wurzen ein zweites Leben geschenkt wurde, hat der Autor dieses Beitrages einen neuen Anlauf genommen, das Vermächtnis der inzwischen verstorbenen Pädagogen um Heinz Gey zu erfüllen. Bei Oberbürgermeister Jörg Röglin (parteilos) stieß er sofort auf offene Ohren. Eine solche Ehrung der drei historischen Persönlichkeiten sei längst überfällig, erklärte er. Der Rathauschef und Vorsitzende des Stadtrats schlug vor, die Fraktionen von CDU, Linken, SPD und der Bürger für Wurzen (UVW) für eine derartige Beschlussvorlage zu gewinnen. „Wir haben die Phase der Straßenumwidmungen nach reiflicher Prüfung inzwischen abgeschlossen. Aber für Graebert, Schunke und Krause gibt es die Chance von Neubenennungen. Wie bekannt, sind weitere Wohngebiete in Wurzen geplant. Mit einem zeitnahen Grundsatzbeschluss könnte der Stadtrat schon jetzt Straßen mit ihren Namen festlegen. Gegenwärtig diskutieren die Abgeordneten eine solche Option.“
Es scheint, der 71. Jahrestag der Befreiung Wurzens vor beinahe unausweichlichem Inferno steht unter dem guten Stern eines bisher unabgegoltenen Schlussakkords – der Bewahrung von Namen und Taten im öffentlichen Gedächtnis auf Straßenschildern.
Ermutigende Signale haben die Fraktionsvorsitzenden der im Stadtparlament vertretenen vier Parteien gegeben. Matthias Rieder (CDU), Klaus Meißner (Die Linke), Heinz Richerdt (SPD) und Thomas Zittier (UVW) erklärten, sie würden sich, wie ihre Kollegen, mit den Ereignissen und Akteuren von damals intensiv vertraut machen und sich besonders auch in der einschlägigen Literatur informieren, warum Graebert, Schunke und Krause weder in der DDR noch im wiedervereinten Deutschland Würdigungen zuteil wurden. Sie selbst, so die Fraktionsspitzen, würden einer Ungerechtigkeit heilenden Beschlussvorlage zustimmen.
Jürgen Schmidt, Vorsitzender des Wurzener Geschichts- und Altstadtvereins, persönlich schon 2006 als Amtsvorgänger Jörg Röglins an der Seite der Pädagogen, unterstützt den neuen Versuch um die Straßenwidmungen ohne Vorbehalt. Er hoffe, dass das Anliegen die Abstimmungshürden im heutigen Stadtrat nehme. Auch Wolfgang Ebert, Wurzens anerkannter Ortschronist und Ehrenbürger der Stadt, steht zu seinem bereits im September 2006 in der LVZ veröffentlichten und in Heinz Geys Buch fixierten Bekenntnis für eine ehrenhafte Würdigung der Retter Wurzens. Da die junge Generation von den schicksalhaften Vorgängen und den handelnden Personen in den 1945er Kriegs- und Nachkriegstagen nur wenig wisse, sei kollektive Erinnerung geboten. Die Straßenwidmungen in neuen Wohngebieten mit jungen Menschen könnten dazu beitragen.
Für die Zeitgenossen der drei ehrenwürdigen Männer bedeuten die ins Auge gefassten öffentlichen Namensgebungen eine späte Genugtuung. Sie, die nach 1945 ein friedliches Leben leben durften, unterstützten bereits 2005/2006 Heinz Geys Initiative. Heinz Hättig, Marianne Pannek, Marianne Rößler, Lothar Kühn, Elsa Wolf, alle inzwischen hochbetagt, priesen Armin Graeberts Rettungstat. An ihrem 90. Geburtstag verkündete Marianne Pannek ihrem Gratulanten, OB Jörg Röglin, ihren Wunsch, er möge seinen Plan gemeinsam mit den Stadträten durchsetzen.
Hans-Adolf Graebert erinnert immer wieder an die auch weniger bekannten Helfer seines Vaters bei der Vorbereitung und Vollendung der unblutigen „letzten Schlacht“ um die Zukunft Wurzens. Insbesondere machte er die Öffentlichkeit mit Leben und Wirken des unbeugsamen SPD-Politikers Otto Schunke bekannt. Brigitte Krause, Schwiegertochter des Altkommunisten Kurt Krause, hat Dokumente eines „aufrechten Menschen“ aufbewahrt, der nicht nur 1945, sondern auch später „stets an vorderster Front gestanden hat“. Einer, der wie Graebert und Schunke, „das eigene Leben für das Wohl anderer“ eingesetzt habe. Wer, wenn nicht sie, hätten ein dankbares Gedenken verdient?
Von Wulf Skaun