Baden-Württembergs AfD steht vor dem Einzug in den Landtag. Den Wahlkampf bestreitet sie mit einem soften Professor an der Spitze – und mit Scharfmachern vor Ort.
"Es reicht. Zeit für Veränderung", steht auf einem Plakat. Aus den Boxen
dröhnt "Sirius" von der Band "Alan Parsons Project" – ein Lied, zu dem
normalerweise die Spieler des VfB Stuttgart bei ihren Heimspielen in Bad
Cannstatt aufs Feld laufen.
An diesem Sonntag im Februar aber hat Jörg Meuthen im größten
Stuttgarter Stadtteil ein Heimspiel. Im Cannstatter Kursaal sitzen
mehrere Hundert Neugierige, mehr Männer als Frauen, mehr Alte als Junge,
vom gehobenen Bürgertum bis zum Arbeitslosen ist alles vertreten. Sie
warten auf die Rede des AfD-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl.
Der 54-jährige Professor, der an der Verwaltungshochschule in Kehl
Volkswirtschaftslehre unterrichtet, trägt Anzug und Krawatte. Die AfD
stehe in Umfragen bei 10 bis 11,5 Prozent, beginnt er seine Rede. Das
liege nicht an der "Völkerwanderung" allein. "Wir bieten Lösungsansätze
zu allem an!"
Die AfD ist die Partei der Stunde, und Meuthen ihr
wirtschaftsliberal-freundliches Gesicht. Der Einzug in den Landtag
scheint sicher, ein zweistelliges Ergebnis wahrscheinlich. Die AfD
profitiert vom verbreiteten Unbehagen wegen der Flüchtlingspolitik der
Kanzlerin. Damit verbundene Ängste befeuert sie nach Kräften. Angela
Merkel locke "Hunderte Millionen Armutsflüchtlinge nach Deutschland",
behauptet ihr Landtagswahlprogramm. Die "Altparteien" und eine
"weitgehend gleichgeschaltete Medienlandschaft" zögen "alle Register der
Massenpsychologie und Massensuggestion", um die Leute "zu täuschen".
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Derartige Parolen ziehen ausweislich der Europa- und Kommunalwahlen von
2014 in Gegenden wie Pforzheim am besten, wo schon in den 1960er-Jahren
die NPD und in den 1990ern die "Republikaner" ihre größten Erfolge
feierten. Um sich breiter aufzustellen, zieht die AfD im Wahlkampf
vehement gegen "Gender Mainstreaming" zu Felde. Diese Politik "mit all
ihren Folgeerscheinungen wie Frauenquoten, Gleichstellungsbeauftragten
und staatlicher Propaganda für sexuelle Minderheiten lehnt die AfD
rigoros ab", heißt es im Wahlprogramm.
Es ist das zweite Politikfeld, bei dem sich die Partei zum Sprachrohr
einer relevanten Minderheit macht. Sie will damit speziell in
pietistisch geprägten Gegenden und bei Russlanddeutschen punkten. So
gibt es enge Verbindungen zur "Demo für alle", die am Sonntag in
Stuttgart wieder gegen eine "Verschwulung" der Kinder durch den
grün-roten Bildungsplan auf die Straße geht.
Im Cannstatter Kursaal referiert Meuthen im Duktus eines Dozenten. Mit
unaufgeregter Stimme spricht er vom Asylpaket II als "Globuli-Politik" –
alles richtig, aber zu wenig und zu spät. "Wir müssen die Grenzen
tatsächlich für kurze Zeit zumachen. Das ist kein freundlicher Akt, aber
ein notwendiger." Ein bisschen lauter wird er nur, als er sich gegen
"die Verrohung der Auseinandersetzung" wehrt, die "übelsten
Diffamierungskampagnen" der "Kartellparteien", die die AfD wahlweise als
"Pack", "Dumpfbacken" oder "Rassisten" bezeichneten. Dabei sei ihm doch
der "gepflegte Diskurs wichtig". Als Rechtsradikalen könne man ihn gar
nicht stellen, "weil, das bin ich nicht".
Ein paar Tage zuvor. Im Geislinger Kappellmühlsaal kündigt der
AfD-Kandidat für den Wahlkreis Göppingen, Heinrich Fiechtner, den seit
einer halben Stunde überfälligen Gastredner mit Begeisterung in der
Stimme an: "Er nennt die Dinge beim Namen, was ihn wohl zur
umstrittensten Person der AfD macht. Aber machen Sie sich selbst ein
Bild." Kunstpause. Dann ruft Fiechtner im Stile eines
Boxkampfmoderators, die Vokale bewusst in die Länge ziehend: "Bjööörn
Hööckee".
Der Saal erhebt sich, mit frenetischem Applaus begrüßen die 130 Zuhörer,
die auf ihren Stühlen Deutschlandfähnchen und den Text der
Nationalhymne vorgefunden haben, den Thüringer AfD-Fraktionschef.
Vielen ist sein Name bisher nur wegen des öffentlichen Aufschreis ob der
kruden Rassentheorien ein Begriff. Höcke, Anzug, Krawatte, Blume am
Revers, geht schnell in die Vollen und ein Team von Spiegel-TV wegen
einer AfD-Titelgeschichte im Spiegel frontal an. Das Titelbild, das
AfD-Politiker vor der Fassade eines NSDAP-Gebäudes zeigt, sei eine
"unentschuldbare" Grenzverletzung.
Der Tonfall ist aggressiv, dem gelernten Lehrer Höcke gefällt es
erkennbar, den Saal aufzuputschen. "Wir fordern Presse- und
Meinungsfreiheit – für uns!" Höcke will ein Bekenntnis zur klassischen
Familie, "und das sind Vater, Mutter und möglichst viele Kinder", und
den "asylpolitischen Amoklauf der Altparteien" stoppen. Ebenso den
"bildungspolitischen Amoklauf". Schuld am Niedergang der Schulen seien
Alt-68er, auch Grün-Rot. Er könne nicht ausschließen, "dass die
Verblödung unserer Jugend mit Vorsatz geschieht".
Das Publikum, vornehmlich aus dem Arbeitermilieu, johlt. "Die
Altparteien", legt Höcke nach, "müssen den Becher der Verantwortung bis
zur Neige austrinken!"
Hier der sanfte Meuthen, dort Scharfmacher wie Höcke – wie passt das
zusammen? Ist die Mischung, bürgerlicher Kammerton hier, Konfrontation
dort, Strategie? Meuthen sagt, er sei wegen AfD-Gründer Bernd Lucke in
die Partei eingetreten. Als Lucke nach der Niederlage gegen die
Rechtsaußenfraktion die AfD mit vielen Ökonomie-Professoren verließ und
Alfa gründete, blieb Meuthen.
In einem TV-Porträt der Jungen Freiheit, die als Sprachrohr der "Neuen
Rechten" gilt, erklärt der fünffache, zum zweiten Mal verheiratete
Familienvater: "In einer kleinen Volkspartei muss man auch ein gewisses
Spektrum haben. Lucke hat das Spektrum zu klein gezogen." Das Spektrum,
das Meuthen nun als Co-Bundes- und Landeschef der AfD vertritt, ist
dagegen recht breit.
In Pforzheim hat die Staatsanwaltschaft gegen den AfD-Kreissprecher
Alfred Bamberger Strafbefehl wegen des Verdachts der Billigung von
Straftaten gestellt. Der Mann hatte auf Facebook gepostet: "Ist es nicht
so, dass den Anwohnern oder Bewohnern einer Kommune alternativlos eine
Einrichtung vor die Nase gesetzt wird, die sie einfach nicht haben
wollen und deshalb in Form von zivilem Ungehorsam die geplante
Flüchtlingsunterkunft einfach abfackeln?"
Der AfD-Kandidat für Lahr, Thomas Seitz, von Beruf Staatsanwalt, hat auf
seine Facebook-Seite eine Fotomontage mit einem Boot voller nackter
Frauen gestellt, darunter der Satz: "Endlich kommen die richtigen
Flüchtlinge". Christina Baum, AfD-Landesvize und Kandidatin im
Main-Tauber-Kreis sagte bei einer Pegida-Demo in Erfurt, Merkel wolle
"Deutschland in ein multikulturelles Krisengebiet verwandeln". Die Liste
der Provokationen und anschließenden Relativierungen ließe sich
beliebig fortsetzen.
Mittwoch dieser Woche. Beim Wahlforum der Stuttgarter Nachrichten
treffen die Spitzenkandidaten von CDU, Grünen, SPD, FDP, Linken und AfD
erstmals aufeinander. Meuthen steht in der Mitte, um ihn herum die
Vertreter der "Kartellparteien". Für den AfD-Spitzenkandidaten ist schon
der Auftritt vor Hunderten Zuschauern ein Erfolg, hatten
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und SPD-Spitzenkandidat
Nils Schmid gemeinsame Foren doch zunächst abgelehnt. Sie haben
eingelenkt, um, so ihre Ankündigung, die AfD zu stellen. Kretschmann
hält Meuthen das AfD-Programm und Demagogie vor, Schmid Aussagen von
AfD-Politikern und Rassismus.
Der Professor deutet an, dass die Aussage, die Kanzlerin locke "Hunderte
Millionen Flüchtlinge" an, zu zugespitzt sein könnte. Aber sie habe
"den Magneten angestellt". Wo nötig, distanziert sich der AfD-Chef von
Aufregerparolen, wo möglich, relativiert er sie nur. Die AfD-Mitglieder
seien "hochvernünftige, ehrbare, bürgerlich geprägte Leute", sagt
Meuthen. Die Debatte dreht sich die ersten 40 Minuten um die AfD, dann
20 Minuten um Flüchtlinge. Am Ende bleiben 45 Minuten für die
eigentliche Landespolitik. Meuthen ist den ganzen Abend freundlich. Der
von ihm kritisierte Lenhardt verzichtet anderntags auf Parteiämter.
Seine Landtagskandidatur läuft weiter.