Lager in Calais - Keine Legalität, keine Hilfe. Ganz einfach.

Erstveröffentlicht: 
22.02.2016

Thomas Kielinger, Calais

Feisal aus Afghanistan hat sich einen Schal ums Gesicht geschlungen, nicht nur der Kälte wegen, er will auch nicht erkannt werden, schon gar nicht vor einer Kamera. Ein Bild von ihm, so fürchtet der 17-Jährige, könnte seinen Traum, in England zu landen, zerstören. Man würde ihm vorwerfen, er habe sich nicht in Frankreich als Asylsuchender gemeldet und damit seinen ersten Schritt auf der langen Leiter bürokratischer Anerkennung als Flüchtling unterlassen. Doch davor drückt er sich wie die 5000 weiteren im Lager von Calais Gestrandeten, denn nicht hier, im morastigen Boden Nordfrankreichs, wollen sie durchs Nadelöhr der Asylsuche, sondern einzig auf der britischen Insel, ihrer Hoffnung, ihrem Traum.

 

Die Bewohner des "Dschungel" genannten Flüchtlingslagers in Calais leben außerhalb der Legalität, und entsprechend verweigern die französischen Behörden ihnen jede Anerkennung, sogar das Etikett "humanitäre Krise". Es geht Frankreich um Abschreckung: Niemand soll sich auf irgendeine Tolerierung berufen dürfen, der menschliche Ausstoß aus 20 Ländern, der es bis hierher geschafft hat – den darf es in französischen Augen nicht geben, damit keine Permanenz entsteht, keine Adresse internationaler Anerkennung. Dann nämlich müssten die Vereinten Nationen einschreiten, zum Beispiel das UNHCR, die Flüchtlingsorganisation, und andere karitative "big player" wie das Rote Kreuz, die man alle hier vermisst. Ohne staatliche Anerkennung, ohne offizielle Einladung französischer Stellen, zu kommen und zu helfen, keine Intervention.

 

So sind es einzig freiwillige Helfer aus Großbritannien, einige aus Frankreich, dazu karitative Organisationen wie "Save the Children", "Help Refugees" oder die katholische Caritas, die sich mit Spenden und persönlichem Einsatz um das Überleben der Verzweifelten kümmern. Eine Heerschar von Samaritern, Amateure im Dienst der Menschlichkeit. Aber sie operieren unter einem Damoklesschwert: Am Wochenende haben die französischen Stellen angekündigt, am Dienstag dieser Woche mit der nächsten Etappe der Räumung des Dschungels Ernst zu machen. Schon Ende Januar hatten 1600 Bewohner mit ihren dürftigen Zelten und Bretterbehausungen den Bulldozern weichen müssen, auch eine Kirche und eine Moschee, notdürftig errichtet. Hastig sorgten damals die zahllosen Helfer für neue Behausungen, der Zwischenraum im Lager wird immer enger, man rückt zusammen, wie geduckt. In dieser Woche wird sich der Raum weiter verengen. Ein schleichendes Aus. Und was dann?

 

Flucht nach England, via den Shuttle-Tunnel oder mithilfe der Tausenden von Lastwagen, die in Calais Nacht für Nacht abgefertigt werden zur Weiterfahrt auf die Insel, ist inzwischen so gut wie ausgeschlossen. Warum, kann jeder, der sich vom Shuttle-Stopp Calais aus mit dem Auto zum Dschungelcamp begibt, leicht erkennen. Undurchdringliche Metallgitter, manche dreifach gestaffelt, säumen Schiene und Straße, Hunderte von Überwachungskameras beschatten die Strecken, pausenlose Patrouillen tun ein Übriges zur Absicherung. London und Paris haben mit Millionen an Investitionen für die Schließung der letzten Schlupflöcher gesorgt. In der Landschaft ringsum zog Kahlschlag ein, für ungestörte Sicht; kein Feldhase kann den wachsamen Augen entgehen, wie viel weniger ein Migrant.

 

5000 Migranten wohnen auf einer Mülldeponie

 

Als das Unternehmen Eurotunnel vor 20 Jahren den Verkehr zwischen dem Kontinent und der Insel aufnahm, hatte man vorsorglich 250.000 Bäume gepflanzt zur Aufforstung der Gegend auf dem Weg zu den Tunneln, eine gezielte Tat zum Wohlbefinden der Reisenden. Diese Anpflanzung ist längst verschwunden, kahl und braun wölben sich heute die Hügel von Calais zum Meer und zum Lager hin. 5000 Migranten, auf dem Boden einer früheren Mülldeponie niedergelassen, reichen aus, die Natur ihrer Schönheit zu entkleiden und den Ort der Verdammnis, den Dschungel, einzuhegen bis zu seiner endgültigen Beseitigung. Während alle Welt sich auf die millionenfach aus Syrien Flüchtenden konzentriert, spielt sich am französischen Nordkap Europas ein Drama um 5000 Migranten ab, bei denen die offizielle Politik wegschaut. Keine Legalität – keine Hilfe. Eine einfache Formel.


An diesem Tag Mitte Februar tut sich im Dschungelcamp etwas Außergewöhnliches. Drei der sichtbarsten Organisatoren des Lagers haben zur Registrierung aller unbegleiteten Jugendlichen unter 18 Jahren aufgerufen, deren Zahl auf 450 geschätzt wird. Traumatisiert viele von ihnen und jetzt in einer existenziellen Sackgasse, zählen sie zu den Verwundbarsten überhaupt. Joe Robertson und Joe Murphy, zwei junge Stückeschreiber aus Yorkshire, haben am 15. August letzten Jahres ihr Good Chance Theatre gegründet, beherbergt in einem Kuppelzelt, und Workshops und Gastauftritte befreundeter Theater-Adressen organisiert, um den Menschen Ablenkung zu bieten vom Alltag des Immergleichen, Balsam für zerschundene Seelen.

 

Die beiden Mittzwanziger leben seitdem in einem Wohnwagen am Rande des Areals, gestützt auf Spenden, die auf der Website "just giving" einlaufen. Sie haben sich Vertrauen erworben, wie es nur möglich ist, wenn man das Los der Umsorgten mit diesen teilt. Jeder, der sich an die beiden Joes wendet mit einer Bitte um Hilfe, wird fürsorglich in die Arme genommen, ein Klaps auf den Kopf und – "Bambino, wir werden dir helfen" – geht davon mit einer tröstlichen Botschaft. Häufig in einem kaum verständlichen Kauderwelsch ausgetauscht, denn Dolmetscher für all diese vorderasiatischen oder nahöstlichen Sprachen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien, Libyen, Sudan, Eritrea und so weiter sind nicht immer zur Hand, man begnügt sich mit "Junglish", dem Englisch des Dschungelcamps.

 

"Viele sind verhaltensgestört"

 

Die Seele von allem aber ist Liz Clegg, 50, eine ehemalige Feuerwehrfrau, die sich früher vor allem um die psychologische Betreuung von jugendlichen Brandstiftern gekümmert hatte und Einblick in Abgründe der Vernachlässigung besitzt. Sie hat einen Teil des Lagers als "für Frauen und Kinder" designiert, immerhin leben etwa zehn Prozent Frauen im "Dschungel", aber auch in diesem Bereich kümmert sich Liz vor allem um die unbegleiteten Minderjährigen, einige davon Vollwaisen. "Niemand dürfte unter solchen Bedingungen sein Leben fristen müssen", so ihre temperamentvolle Anklage, "zumal nicht Kinder. Eine Schande, dass man die Fürsorge auf Amateure abwälzt, die für ihren Einsatz oft keine Fachkenntnisse mitbringen."

 

Liz lebt selbst in einem mit Fellen und Laken notdürftig hergerichteten Bretterverschlag, eine zehnjährige Vollwaisin aus Syrien ist bei ihr untergekommen, sie ist besorgt um den geistigen Zustand des Kindes. "Viele haben Horrorerlebnisse hinter sich, sind verhaltensgestört", merkt sie an, "manche entwickeln Raffsucht auf immer mehr Kleider und Nahrung, wo diese ausgeteilt werden, geraten in Zitteranfälle, sind schwer zu beruhigen."

 

Lauernd nähert sich Nurallah, 15-jährig, dem Zelt, in dem die Registrierung stattfinden soll. Er war aus Afghanistan geflohen, nachdem die Taliban seine Schule angezündet und später seinen Vater vor seinen Augen ermordet hatten. Nurallah steht beständig unter Ausbruchsdruck, wie ein Vulkan. Als das Londoner National Theatre vor einigen Wochen eine "Hamlet"-Vorführung anbot, musste diese auf halbem Wege abgebrochen werden, der Kälte wegen, aber auch, weil Nurallah mit einem Messer das provisorische Bühnenbild des Theaters zu attackieren begonnen hatte.

 

Viele klammern sich an einen Aufschub der Räumung

 

Joe Robertson nimmt den Jungen diesmal vorsorglich in die Arme, um ihn auf die ungewöhnliche Registrierung vorzubereiten. In der Zeltblase selber hat sich neben zwei britischen Helfern auch die französische Rechtsanwältin Orsane Broisin niedergelassen, um bei der Registrierung mitzuhelfen. Sie arbeitet für das Zentrum Appel de Calais, um dort mithilfe der dokumentierten Zahl der Minderjährigen gerichtlichen Aufschub der nächsten Räumung des Lagers zu erwirken. Die Jugendlichen, ansonsten misstrauisch gegenüber jeder amtlichen Liste mit ihren Namen, machen diesmal bereitwillig mit, sie haben begriffen, dass ihre unmittelbare Zukunft auf dem Spiel steht.

Und siehe da: Nachdem Flüchtlinge und Hilfsorganisationen eine einstweilige Verfügung gegen die Räumung eingereicht haben, wird ein Richter am Dienstag das Lager besuchen. Er will sich vor Ort ein Bild machen, über das dann in einer gerichtlichen Anhörung in Lille befunden wird. Aufschub der Räumung? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

"Ich lasse nach der Registrierung Kleider und Essen verteilen, in dem kleinen Zelt neben dem Good Chance Theatre, wo die Jungen nach der Registrierung alles Passende für sich vorfinden, aus dem großen Warenlager außerhalb des Camps, dem Zentrum für die Spenden", sagt die nimmermüde Liz. Doch als der Moment kommt, hebt ein wüstes Gerangel an, um Schuhe und Mäntel, Jacken, Hemden und Pullover, vieles fällt auf den aufgeweichten Boden, geht verloren. Der Anblick von Menschen im Kampf um das Notdürftigste, im kalten Februar, in Europas größtem Slum, treibt Joe Murphy die Tränen in die Augen. Er war gegen diese unstrukturierte Austeilung, er mag nicht sehen, wenn seine Schützlinge jedes zivilisierte Verhalten abstreifen.

Später, als das Kuppelzelt sich geleert hat, bemüht sich Tom vom Gate Theatre in London um Entspannungsübungen mit einigen Willigen. Man steht im Kreis und inszeniert Schreikrämpfe, unterbrochen von tänzerischen Einlagen. Schon am Morgen hatte Jazz-Pianist Ian Shore die in der Schlange zur Registrierung Stehenden aufgemuntert auf einem gespendeten Keyboard, an seiner Seite Abdul Raheem, der Alltagsgesänge aus seiner pakistanischen Heimat beisteuert. Inspiration durch Musik und Theater? Alles, was helfen kann, wird ausprobiert.

 

Bronchitis und Krätze


Längst hat sich so etwas wie Gemeinschaftsgefühl entwickelt in dieser nach Ländern unterteilten Kommunität. Ein "Markt" floriert, man stapft durch Dreck und Geröll, abends summen die gespendeten Generatoren für Restaurants und für die "Bücherei". Dunkle Gestalten scharen sich um Feuerstellen, um der durchdringenden Kälte zu entrinnen. Wenigstens sorgt sich im Lager eine kleine Gruppe von Ärzten ohne Grenzen notdürftig um die allgemeine Gesundheit – drei Ärzte, sechs Krankenpfleger, eine Pharmazeutin. Bronchitis und Krätze machen derzeit am meisten zu schaffen. Die schwersten Fälle werden in Hospitälern von Calais versorgt, abgeholt von Krankenwagen, die ein Spalier von Polizisten durchlaufen müssen, ehe sie sich den designierten Stellen vor dem Lager nähern dürfen.

 

Die Uhr tickt. Hinter hohen Zäunen verbirgt sich ein frisch angestrichenes Container-Lager, in dem die Behörden die demnächst zu Vertreibenden unterbringen möchten. Zur Verängstigung der Betroffenen, denn dort wartet keine Gemeinschaftsatmosphäre auf sie wie im Dschungelcamp. Die Uhr tickt auch unter den Bürgern von Calais, wo gewalttätige Übergriffe auf Migranten, die sich in der Stadt zum Zeitvertreib aufhalten, zunehmen. Am 16. Februar ist Mohammed Islam, der einen Laden an der Ecke neben dem Spirit-of-London-Geschäft betrieb, tot in einem Kanal aufgefunden worden, erstochen.

 

Das Lager lebt mit gestundeter Zeit. Doch unter den 450 Minderjährigen ohne Anhang haben mindestens 200 Verwandte auf der britischen Insel, dürften also mit diesen nach den Dubliner Vereinbarungen zusammengeführt werden. Aber nichts bewegt sich, die Regierung Cameron wagt keinen Schritt in diese Richtung, eingeschüchtert wie sie ist durch die unkontrollierte Migration nach England, der sie bisher nicht Herr geworden ist. Das Dschungelcamp von Calais ist Niemandsland, auch niemandes Land, Endstation im Nirgendwo.