Der Kampf gegen den IS ist für die Russen sekundär. Zuerst gilt es, Asad an der Macht zu halten
Die Vorgänge in Syrien spielen sich auf drei politischen Ebenen ab: der lokalen, der regionalen und zwischen Russland und den USA.
1. DIE LOKALE EBENE
Auf der lokalen Ebene stehen sich die Kräfte Asads und jene des Widerstandes gegenüber. Doch der Widerstand gegen Asad ist gespalten, und zwar vor allem zwischen „islamistischen“ und „säkularen“ Gruppen. Die Islamisten kämpfen für einen „islamischen Staat“, die Säkularen wollen einen Staat, der nicht auf religiöser, sondern auf nationaler Solidarität aufgebaut ist. Im Laufe der Jahre haben die säkularen Kräfte an Einfluss verloren.
Doch auch die "Islamisten" sind gespalten. Es gibt drei islamistische Hauptströmungen, die sich feindlich gegenüberstehen.
- Die erste Gruppe hofft zwar auf die Bildung eines islamischen Staats, will ihn jedoch mit friedlichen Mitteln durch Verbreitung ihrer Ideologie erreichen. Bevor sie dieses Ziel erreicht, ist sie bereit, mit einer Regierung, die sich nominell als islamisch ausgibt, zusammenzuarbeiten. Diese Strömung nennt man „salafistisch“. Saudi-Arabien gilt als Vorbild.
- Die zweite Strömung kämpft für einen "Islamischen Staat Syrien", in dem mit Gewalt die Shari’a eingeführt werden soll. Wie diese Shari'a zu interpretieren und anzuwenden wäre, würden ihre eigenen Ideologen und die von ihnen ernannten Richter bestimmen. Dies ist die Haltung der Nusra-Front, der syrischen Filiale von al-Kaida.
- Die dritte islamistische Strömung ist die des „Islamischen Staats“ (IS). Sie strebt ebenfalls mit Gewalt ein Kalifat an, das im Idealfall die ganze muslimische Welt umfasst. Sie kämpft mit Methoden, die sie von den Geheimdienstoffizieren des irakischen Regimes unter Saddam Hussein übernommen hat. Diese und Armeeoffiziere von Saddam Hussein bekleiden in der Hierarchie des IS wichtige Positionen. Sie sind zuständig für das organisatorische und taktische Vorgehen des IS. Dazu gehören vor allem die IS-Propaganda und die systematische Verbreitung von Einschüchterung.
Der IS steht für sich alleine; wer nicht mit ihm ist, gilt ihm als Feind. Die Nusra-Front dagegen arbeitet mit den "salafistischen" Gruppen und Koalitionen ztusammen (wie Ahrar al-Scham und Dschaisch al-Islam).
Die syrischen Kurden - ein Sonderfall
Auf der gleichen lokalen Ebne gibt es auch noch die syrischen Kurden. Sie hoffen, ein autonomes kurdisches Territorium entlang der türkisch-syrischen Grenze aufbauen zu können. In diesem Gebiet haben die Kurden zum Teil eine klare Mehrheit, teils vermischen sie sich mit arabischen oder turkmenischen Volksgruppen. Bei ihrem Kampf um ein eigenes Territorium in Syrien sind die Kurden zunächst im Osten des langen Grenzabschnitts auf heftigen Widerstand des IS gestossen. Dank dem Einsatz amerikanischer Kampfflugzeuge gelang es, die IS-Kämpfer zurückzudrängen. So in der vom September 2014 bis Januar 2015 umkämpften kurdischen Stadt Kobane, die an der syrisch-türkischen Grenze liegt.
Für die Amerikaner sind die Kurden in Syrien wichtige Partner. Vor allem deshalb, weil es wenige syrische Armee-Einheiten gibt, die gegen den IS energisch vorgehen, und weil die USA keine eigenen Bodentruppen einsetzen wollen.
2. DIE REGIONALEN MÄCHTE
Die zweite Ebene, jene der regionalen Mächte, umfasst die Türken, die Iraner, die Saudis und die schiitischen Teile des Iraks.
- Iran und die irakischen Schiiten stehen aufseiten Asads und versuchen, ihn an der Macht zu halten.
- Saudi-Arabien, mit seinen Verbündeten des Golfkooperationsrates und die Türkei sind Feinde Asads.
Saudische Gelder und Waffen fliessen zu den Gruppen des "salafitischen" Widerstandes, der dadurch erheblich gestärkt wird. Die Nusra-Front profitiert manchmal auch direkt von dieser Hilfe, weil immer wieder Gelder und Waffen für die Front abgezweigt werden.
Kampf gegen Asad, die Kurden und den IS
Die Türkei verfolgt drei Ziele: Sie möchte Asad zu Fall bringen; sie möchte verhindern, dass die Kurden an ihrer Südgrenze ein eigenes Territorium errichten; und sie hat auch in den letzten Monaten begonnen, den IS als eine Gefahr wahrzunehmen und geht nun gegen ihn vor.
Früher war dies nicht der Fall. Der IS genoss, als Feind Asads, während Jahren das mehr oder weniger heimliche Wohlwollen seines türkischen Nachbarn. So erlaubte die Türkei den freien Grenzübertritt von Jihadisten von der Türkei nach Syren sowie Waffentransporte über die Grenze hinweg Richtung der syrischen IS-Hochburg Raqqa. Ferner exportierte der IS Erdöl von Syrien in die Türkei, was eine der wichtigen Einnahmequellen des „Islamischen Staats“ darstellte.
Dieses verheimlichte „harmonische“ Verhältnis zwischen der Türkei und dem IS ging erst in Brüche, nachdem IS-Terroristen in der Türkei Sprengstoffanschläge mit zahlreichen Toten durchgeführt hatten.
3. RUSSLAND UND DIE USA
Was die oberste Ebene angeht, die der Weltmächte, so ist leider deutlich: die Russen verfügen über eine Strategie, die Amerikaner nicht. Was immer Washington versuchte und improvisierte, ging schief.
Die Russen gehen darauf aus, Asad an der Macht zu halten, und zwar "bis das syrische Volk es anders bestimmt", wie sie sagen. Das syrische Volk allerdings wird sich nicht frei äussern könnnen, solange Asad es kontrolliert. Um ihr Ziel zu erreichen, setzen die Russen ihre Luftwaffe in Syrien ein. Ihre Angriffe richten sich gegen alle Kräfte, die Asad zu Fall bringen könnten.
Gestärkter Asad
Der Einsatz der russischen Luftwaffe hat es der syrischen Regierungsarmee erlaubt, in die Offensive zu gehen. Die Asad-Armee versucht nun, Aleppo wieder und ihre Kontrolle zu bringen. Es gelang auch, die Widerstandkräfte an der syrischen Südfront, die vorübergehend Damaskus bedrohten, entscheidend zurückzuschlagen.
Der IS ist in einer ersten Phase der russischen Strategie sekundär. Das dürfte sich ändern, wenn Asads Truppen den westlichen Teil Syriens wieder dominieren. Dann kann Russland zum Kampf gegen den IS aufrufen. Neben der russischen Luftwaffe und der Asad-Armee würden auch amerikanische Kampfflugzeuge daran teilnehmen. Solche bombardieren IS-Stellungen ja schon seit September 2014. Moskau und Damaskus können dann sogar die Amerikaner auffordern, gemeinsam mit ihnen den IS zu bekämpfen.
Zersplitterter säkularer Widerstand
Die amerikanische Syrien-Strategie – soweit es eine gab – bestand darin, die säkularen Gruppen im Kampf gegen Asad zu ermutigen und zu stärken. Dies erwies sich als illusorisch, weil die säkularen Kampftruppen von Anfang an in der Minderheit waren. Und im Gegensatz zu den „islamistisch“ motivierten Kämpfern waren sie uneinig und verstreut. Sie besassen keine einheitliche Führung. Ihr Widerstand glich einem strukturlosen Sammelbecken. Dies hat historische Gründe.
Der Widerstand bestand zunächst aus kleinen, lokal agierenden Gruppen. Jede hatte ihren eigenen Anführer. Noch immer soll es 1'500 solcher Einheiten geben. Demgegenüber hatten die islamistischen Gruppen den Vorteil, eine Ideologie zu besitzen, die über Lokalinteressen und lokale Machtbereiche einzelner Chefs hinausreicht. Diese raumübergreifenden islamistischen Interessen waren es denn auch, weshalb viele Golfstaaten finanzielle Hilfe leisteten.
Die Kurden, der Hauptfeind
Unter den regionalen Staaten ist die Position der Türkei eine besondere - wegen der Kurden. Für Ankara sind die syrischen Kurden die Hauptfeinde und die Hauptgefahr, genau so wie die „eigenen“ türkischen Kurden der PKK. Der Kampf gegen die Kurden ist für die Türkei ebenso wichtig wie der Kampf gegen den IS. Für die USA und Europa sind die Kurden jedoch Partner und wichtige Helfer im Kampf gegen den IS, weshalb sie vom Westen verteidigt und geschützt werden.
Ankara gibt sich eisern entschlossen zu verhindern, dass die syrischen Kurden die Lücke an der türkischen Grenze schliessen, welche gegenwärtig noch zwischen den kurdisch beherrschten Grenzgebieten östlich des Euphrats und westlich des Städtchens Azaz besteht.
Die USA, hin- und hergerissen
Westlich von Azaz liegt die kurdische Enklave von Afrin. Die in Syrien operierende kurdische Miliz YPG versucht, Afrin an das syrisch-kurdische Territorium „Rojava“ anzuschliessen. Ankara hat gelobt, alles zu tun, um dies zu verhindern. In der Tat meldet die türkische Nachrichtenagentur - und die Kurden bestätigen es -, die türkische Artillerie habe am 13. Februar "Menagh und andere kurdische Ziele" beschossen. Menagh ist eine Luftwaffenbasis der syrischen Armee, südlich von Azaz, an der Grenze der Enklave von Afrin. Am 10. Februar hatten kurdische Truppen, die wohl aus Afrin kamen, die Widerstandsgruppen aus Menagh vertrieben. Dies war ohne Zweifel ein erster Schritt auf dem Weg, die noch bestehende Lücke zu schliessen und Afrin mit Rojava zu vereinigen.
Der türkische Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, hat gedroht, die Türkei könne, wenn nötig, gegen die kurdische YPG gleich vorgehen, wie sie sie gegen die kurdische PKK im irakischen Grenzgebiet vorgeht. Dort bombardieren türkische Kampfflugzeuge regelmässig kurdische Stellungen.
Die Amerikaner sind hin- und hergerissen zwischen ihrem türkischen Nato-Verbündeten und ihren kurdischen Helfern gegen den IS. Die USA forderten Ankara und die Kurden auf, sich auf den Kampf gegen den IS zu konzentrieren und ihre partikularen Gegensätze nicht auf die Spitze zu treiben.
Iran, Hauptfeind der Saudis
So wie den Türken die Kurden, gelten den Saudis die Iraner als ihr wichtigster und gefährlichster Feind. Die Saudis kämpfen in Jemen gegen die Huthis, weil sie diese als Speerspitze der Iraner betrachten, die sie an der jemenitischen Grenze bedrohen.
Die Amerikaner hätten, nach dem Atomabkommen mit Iran, alles Interesse daran, mit Iran bessere Beziehungen einzurichten. Iran ist ein Feind des IS und bereit, das "Kalifat" zu bekämpfen. Doch Washington ist auch ein Verbündeter und Hauptwaffenlieferant Saudi-Arabiens. Die USA stehen also gegenüber Riad, ähnlich wie gegenüber Ankara, als ein Freund da, der gleichzeitig ein Interesse daran hat, mit dem Hauptfeind dieses Freundes, Iran, zusammenzuarbeiten.