Deutschland greift zur Waffe

Erstveröffentlicht: 
19.12.2015
Schreckschusspistolen, Pfefferspray, Gasrevolver finden reißenden Absatz – wovor haben die Menschen Angst?

Von Jan Sternberg

 

Nauen. Normalerweise freut sich ein Händler, wenn die Kunden ihm die Bude einrennen. Unter Deutschlands Waffenhändlern aber gibt es zurzeit viele, die nur noch den Kopf schütteln. Seit einigen Wochen gibt es einen beispiellosen Run auf alles, was dem Selbstschutz dienen kann: CS-Gas und Pfefferspray, Schreckschusspistolen, Schlagstöcke und Blendtaschenlampen. Zu normalen Zeiten machen die meisten Fachgeschäfte den Großteil ihres Umsatzes mit Jägern und Sportschützen, so ziemlich die einzigen Privatpersonen, die scharfe Waffen besitzen dürfen. Nun aber kommt der ganz normale Bürger und kauft das, was frei erhältlich ist und ihn vermeintlich beschützen kann vor all dem Bösen da draußen.

 

Was nützt ihm das? Und muss man jetzt Angst haben vor dem Angstbürger?

 

Arne Pagel ist Stadtjägermeister von Nauen im brandenburgischen Havelland und verkauft seit zehn Jahren Waffen. Nach Schreckschusspistolen hat bis vor Kurzem kaum jemand gefragt, nun hat er jede Woche mehrere Anfragen. „Die Leute haben ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis“, sagt Pagel sachlich. Aber warum? Drei Gründe werden immer wieder genannt:

 

n Angst vor Einbruch: Die ständig steigenden Einbruchsdiebstähle vor allem in den Vororten verunsichern die Menschen. Die Polizei gibt zu, dass sie aus Personalmangel in den Wohngebieten kaum mehr Streife fahren oder auf Jagd nach organisierten Einbrecherbanden gehen kann. Da setzen viele auf die vermeintliche Sicherheit einer Waffe im Haus. Polizisten und sogar Waffenhändler raten aber, statt 130 Euro in eine Schreckschusspistole lieber etwas mehr in einbruchsichere Fenster und eine Alarmanlage zu investieren.

 

n Angst vor Terror: Diffuse Ängste verbreiten sich nach den Terroranschlägen von Paris und dem abgesagten Fußballspiel in Hannover. Doch gegen Bombengürtel und Kalaschnikows hilft kein Reizgas.

 

n Angst vor Flüchtlingen: Der dritte Punkt ist der bedenklichste. Er deutet darauf hin, dass Deutschland ein ungemütliches Land werden könnte. Arne Pagels Kunden sprechen jedenfalls oft von den Flüchtlingen, wenn sie zu erklären versuchen, warum sie jetzt eine Waffe brauchen. „Dabei sind das wahrscheinlich die Letzten, vor denen man Angst haben müsste“, stellt der drahtige Mann in Jägerkluft fest.

 

Pagels Kunden fragen nach den Marken, die sie aus Krimis kennen: Walther, Smith & Wesson, Heckler & Koch. Täuschend echte Nachbauten von Pistolen, die genauso schwer in der Hand liegen, mit denen aber nur Platz-, Gas- oder Signalpatronen abgefeuert werden können. Pagel verkauft sie nicht gerne. „Humbug“, sagt er, „Spielzeug, lächerlich. Damit können Sie zu Silvester Feuerwerk machen, ansonsten bringen sie nicht Sicherheit, sondern das Gegenteil.“ Wenn ein Angreifer so einer Waffe in den Lauf sieht, glaubt er womöglich, um sein Leben kämpfen zu müssen.

 

Pagel versucht seine Kunden in eine andere Richtung zu lenken. „Ich guck mir schon genau an, wer da was kaufen will. Und oft sage ich: Nimm lieber ein Spray, davon hast du mehr.“ CS-Gas und Pfefferspray, Gas- und Signalwaffen sind bundesweit inzwischen so beliebt, dass viele Händler mit dem Nachbestellen gar nicht mehr hinterherkommen. So berichtet es etwa Manuel Hagedorn aus Grimmen in Vorpommern. Auch Abwehrstöcke gehen sehr gut. Und warum das alles? „Was soll ich dazu sagen? Die eingebildete Unsicherheit der Leute“, sagt Hagedorn vage, und es wird überdeutlich, dass es nicht nur um Einbrecherbanden aus Osteuropa geht, sondern eben auch um Flüchtlinge. Auch Hagedorn versteht seine Kunden nicht immer: „Nutzt doch alles nichts“, sagt er zum Abschied.

 

Wer deutlicher wird als Hagedorn, bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen. Ein erfahrener Händler aus Schleswig-Holstein zum Beispiel redet nur anonym Klartext über den Kaufrausch: „Ich finde es gruselig, einfach gruselig. Ich hätte nie gedacht, dass die Stimmung so schnell kippen könnte. Zu mir kommen diejenigen, die glauben, dass die Flüchtlinge ihnen morgen den Gartenzwerg klauen. Die haben Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten.“ Pro Tag verkauft er sieben bis acht Dosen Pfefferspray. Früher war es eine pro Monat. „Viele, die jetzt kommen, sind sicher nicht die hellsten Kerzen auf der Torte. Aber bei ihnen zeigt sich die unberechtigte Angst vor dem Neuen, das auf uns zukommt.“ Um 600 Prozent ist der Absatz von Pfefferspray beim Frankfurter Hersteller DEF-TEC gestiegen.

 

Der Trend erfasst das ganze Land. „Der Absatz ist dieses Jahr extrem gut“, weiß Ingo Meinhard vom Verband Deutscher Büchsenmacher und Waffenhändler (VDB). Im Nationalen Waffenregister sind inzwischen 275 500 sogenannte kleine Waffenscheine gespeichert, eine Steigerung von 6Prozent gegenüber 2014. Sie berechtigen zum Führen von Gas- und Schreckschusswaffen. Über die Zahl der gekauften freien Waffen sagt das nichts aus, denn nur ein Bruchteil ihrer Besitzer hat den Waffenschein beantragt. Ihn bekommt jeder, der über 18, nicht vorbestraft und nicht drogenabhängig ist und 50 Euro ans Amt zahlt. Der Besitzer darf seine Waffe dann außerhalb des eigenen Hauses mit sich führen.

 

Der VDB rät aber davon ab, Schreckschusspistolen in der Öffentlichkeit spazieren zu tragen. Das Reizspray in der Handtasche sei völlig ausreichend, die Angst zu nehmen. Meinhard nennt es den „psychologischen Regenschirm: Wer sich wegen des Sprays nicht wie ein Opfer verhält, wird auch seltener eines.“ Wer aber, und sei es nur aus Versehen, sein Schulterholster mit täuschend echter Pistole auf der Straße zeigt, muss mit der Angst der anderen rechnen. „Da ruft garantiert jemand die Polizei, und wenn Sie Pech haben, kommt das SEK.“ Auch Profis erkennen auf 20 Meter nicht, ob sie einer „Anscheinswaffe“ oder einer scharfen gegenüberstehen.

 

„Anscheinswaffen haben in privaten Händen nichts zu suchen“, sagt Irene Mihalic. Die Sprecherin für Innere Sicherheit der Grünen-Bundestagsfraktion war 20 Jahre lang im Polizeidienst, kennt die Gefahren. Seit Jahren fordern die Grünen, Schreckschusswaffen nur gegen Registrierung zu verkaufen – ohne Erfolg. Der angstgetriebene Boom beim Waffenkauf macht Mihalic jetzt besonders große Sorgen. Denn: „Je mehr Waffen in Privathänden sind, desto größer ist die Gefahr für die Öffentlichkeit.“

 


 

Nachgefragt ... bei Jörg Radek aus Uelzen, Vize-Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP).
„Ich will keine amerikanischen Verhältnisse“

Herr Radek, die Deutschen kaufen mehr Waffen zum Selbstschutz. Woher kommen ihre Ängste?


An erster Stelle steht die Angst vor Einbrechern. Wir als Polizei schaffen es aufgrund von Personalmangel nicht, die hohe Zahl der Wohnungseinbrüche aufzuklären. Die Menschen fühlen sich daher unsicher und wollen sich für solche Situationen wappnen. Aber: Wenn sie sich bewaffnen, liegt die Gefahr der Selbstjustiz sehr nahe. Ich sehe das mit großer Sorge. Die andere Gefahr ist die der Selbstgefährdung. Wir Polizisten können mit Waffen umgehen. Wer das nicht trainiert hat, kann sich auch mit einem CS-Gas empfindlich schaden, wenn er etwa die Patrone falsch einsetzt. Das Problem löst man nicht, indem sich alle selbst bewaffnen. Das löst man nur durch eine bessere Personalausstattung der Polizei.


Hat nicht auch die GdP zu dieser Angst beigetragen? Sie haben immer wieder gewarnt, die Polizei sei durch die viele Mehrarbeit bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms und durch die erhöhte Terrorwarnstufe überfordert.


Wir sind nicht überfordert. Wir sind überlastet. Wir haben Mehraufwand, weil wir beispielsweise Flüchtlingsheime bestreifen müssen, aber wir kompensieren das. Wir häufen dann eben Überstundenberge an. Was die Terrorgefahr angeht: Das sind eher diffuse Ängste. Ich glaube, dass sich Menschen eher wegen der steigenden Alltagskriminalität bewaffnen.


Wenn ich Angst vor Einbrechern habe, hilft mir eine Waffe?


Es entspricht nicht meinem Menschenbild, dass jeder eine Waffe trägt. Ich will keine amerikanischen Verhältnisse. Ich würde dazu raten, in passive Sicherheit zu investieren, in einbruchsichere Fenster und Türen oder in Bewegungsmelder auf dem Grundstück. Das ist besser angelegtes Geld, als wenn Sie sich eine Schreckschusspistole kaufen.


Warum sind die sogenannten Anscheinswaffen überhaupt frei erhältlich? Sollte es hier Verschärfungen geben?


Ich appelliere an die Vernunft. Es ist auch für einen Polizisten auf 20 Metern Entfernung schier unmöglich zu erkennen, ob das Gegenüber eine echte Waffe oder nur eine Anscheinswaffe hat. Man könnte fordern, Anscheinswaffen besser zu markieren, aber dann kann man keinen Einbrecher damit abschrecken. Waffen sind keine Lösung, Schutz ist die Lösung.


Interview: Jan Sternberg