Wurzen. Es ist noch nicht alles wieder wie immer. Nach den Aufregungen der vergangenen Woche an der Pestalozzi-Oberschule in Wurzen kehrt der Alltag aber langsam zurück. Seit Montag nehmen auch die beiden verletzten Mädchen wieder am Unterricht teil, und die Schüler sprechen offen über das, was ihre Schule bundesweit in die Schlagzeilen brachte.
Sebastian Strehle lässt sich den Schlüssel vom Hauswirtschaftszimmer geben, schiebt die auf dem Fensterstock gestapelten Bücher beiseite und lehnt sich weit nach draußen. Mit ein paar geschickten Handgriffen ordnet er das an der Fassade gespannte, im Sturm der vergangenen Tage in Mitleidenschaft gezogene Transparent: „Jeder ist Mensch“.
Er mache es auch für seinen Schulleiter, sagt Sebastian: „Herr Rößler ist ein klasse Typ. Ich dagegen bin ein ziemlich fauler Hund. Im Unterricht nimmt er mich deshalb sehr oft dran. Er weiß, wenn ich mitmache, bin ich extrem gut.“ Der Junge begrüßt, dass sein Direx die Attacken auf ausländische Mädchen nicht durchgehen lässt. „Politische Meinung hin oder her, als Junge vergreife ich mich prinzipiell nicht an Mädchen.“ Er halte aber nichts davon, Siebtklässler deshalb gleich in die rechte Ecke zu stellen, sagt der 16-jährige Schülersprecher: „Die haben sich dickköpfig und absolut kindisch verhalten. Dafür müssen sie bestraft werden.“
Die beiden in der Vorwoche verletzten elf- sowie 14-jährigen mazedonischen Mädchen werden von einer Lehrerin am Wurzener Bahnhof abgeholt und zur Schule begleitet. Direktor Steffen Rößler begrüßt sie persönlich: „Ich freue mich sehr, dass ihr wieder da seid.“
Medien in ganz Deutschland berichten seit Tagen über fremdenfeindliche Vorfälle an der Pestalozzischule: Unter anderem trat ein Junge gegen die Tür, hinter der zwei Flüchtlingsmädchen standen. Eines der Kinder zog sich einen Splitterbruch am Arm zu, das andere kam mit Quetschungen davon.
In der 9b wendet sich Schulleiter Rößler direkt an seine Schützlinge: „Ihr hattet sofort reagiert, Transparente geschrieben und damit gezeigt, dass bei uns Armbrüche nicht an der Tagesordnung sind und die übergroße Mehrheit normal tickt. Ich bin stolz auf euch, und ich danke euch dafür.“ Er bittet seine Schüler, auch weiter solidarisch zu bleiben: „Die beiden Mädchen brauchen unseren Beistand jetzt besonders.“
Danach erkundigt sich Rößler, wie die Schüler die bundesweite Berichterstattung aufgenommen hätten: „Meine Mutter war erschrocken, ich fand das alles peinlich“, sagt ein Mädchen. Ihre Mitschülerin merkt an: „Als vor Wochen vier Jugendliche vom Balkan immer wieder Mist gebaut hatten und der Schule verwiesen wurden, gab es nicht annähernd einen solchen Aufriss.“ Ein Junge verweist auf Bruno, einen Klassenkameraden aus Uruguay, der ein guter Schüler und prima Kumpel sei. Überhaupt habe man noch drei Mitschülerinnen aus Kasachstan und Kirgistan, bei denen niemanden mehr interessiert, dass sie von woanders stammten. „Wie geht es eigentlich Ihnen, Herr Rößler? Wenn alles vorbei ist, gehen wir Eis essen“, bemerkt ein Schlitzohr und hat die Lacher auf seiner Seite.
Der Schulleiter kommt gerade von der Anhörung eines der an den Übergriffen mutmaßlich beteiligten Jungen. In dem Gespräch, auch mit den Eltern, habe sich der Schüler einsichtig gezeigt und sein Verhalten bedauert, so die Schulleitung. Indes muss eine weitere, ebenfalls für gestern angesetzte Aussprache verschoben werden, heißt es.
Sebastian Strehle findet „scheiße“, was passiert ist: „Es lief gerade so gut. Wir hatten Schnuppertage für Viertklässler und einen Tag der offenen Tür – und nun das. Womöglich schicken Eltern ihre Kinder jetzt nicht mehr zu uns. Das wär’ echt blöd und die völlig falsche Reaktion. Wie gesagt, es sind nur fünf Schüler, bei denen es ab und zu aushakt.“ Der Schülersprecher will nicht missverstanden werden: „Alle haben die Spielregeln einzuhalten, Einheimische und Nicht-Einheimische. Die Jugendlichen vom Balkan, die inzwischen von der Schule geflogen sind, brauchtest du nur angucken, da wurden die aggressiv. Sie fragten, warum man sie anglotzt und ob man Stress will. Ehrlich gesagt, da kriege ich so ’nen Hals. Aber das ist ja nun vorbei.“ Er gehe gern in die Wurzener Pesta, sagt der Schülersprecher. Dabei wohnt er gar nicht direkt in Wurzen: „Ich bin ein paar Dörfer weiter zu Hause. Dort lebt auch Ali. Er kommt direkt aus dem Kriegsgebiet, ist total nett und extrem fleißig. An der Schule bin ich sein Pate. Wir sehen uns oft und quatschen gelegentlich. Erst letztens konnte ich ihm helfen, als er sein Unterrichtszimmer nicht gefunden hatte.“