Das Eine-Million-Grad-Experiment

Erstveröffentlicht: 
11.12.2015
Saubere Energie für alle? Greifswalder Forscher sollen den Weg zur Kernfusion ebnen – und feiern den ersten gelungenen Versuch

Von Kai Lachmann und Martina Rathke

 

Greifswald. Der Jubel ist euphorisch – ungefähr so, als wäre den Wissenschaftlern im Kontrollraum des Greifswalder Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik gerade die Landung auf einem sehr weit entfernten Planeten geglückt.

 

Gemeinsam hatten sie den Countdown heruntergezählt. Dann, nach einem extrem kurzen, gleißend hellen Leuchten auf dem Bildschirm, klatschen und johlen die Forscher, die aus ganz Europa, Asien und Amerika nach Greifswald gekommen sind, minutenlang. Champagnergläser klirren. „Wir haben lange Zeit auf den Start der Anlage gewartet, das ist ein tolles Ergebnis“, sagt Novimir Pablant aus Princeton in den USA. „Das ist der Endpunkt eines langen Weges“, erklärt voller Stolz der Leiter der Kernfusionsforschungsanlage „Wendelstein 7-X“, Thomas Klinger.

 

Was die Wissenschaftler so in Aufregung versetzt, lässt sich sehr nüchtern beschreiben: Sie haben 10 Milligramm Helium in ein Magnetfeld der Vakuumkammer der 725 Tonnen schweren Anlage eingeleitet, auf eine Million Grad erhitzt und dann in den Plasmazustand, überführt. Für 50 Millisekunden.

 

Man könnte es aber auch deutlich pathetischer beschreiben: Diese 50 Millisekunden könnten eines Tages helfen, die Welt zu verändern.

 

Denn was die Wissenschaftler an diesem Tag so ausgelassen feiern, soll sich eines Tages als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Lösung sämtlicher Energieprobleme der Erde erweisen. Fast zehn Jahre lang wurde an dem Forschungsreaktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaforschung in Greifswald getüftelt. Gestern ist gelungen, was lange Zeit wie eine Utopie klang: Die Forscher haben die Sonne imitiert – jedenfalls für 50 Millisekunden.

 

Die Kraft der Kernfusion zu nutzen, das ist tatsächlich ein alter Traum der Wissenschaft. Die Vorteile liegen auf der Hand. Anders als die Kernspaltung birgt die Verschmelzung nach Ansicht der Wissenschaftler kaum Gefahren. Die Greifswalder Forschungsanlage ist von 1,80 Meter dicken Betonwänden eingeschlossen. „Durchbrennen“ können Fusionskraftwerke nicht, weil sich in den Brennkammern stets nur so viel Brennstoff befindet, wie gerade verbrannt wird – nach Angaben des Max-Planck-Instituts nur ein Gramm auf ein Volumen von rund 1000 Kubikmetern. Einen GAU wie in Atomkraftwerken schließen Wissenschaftler aus. Eine Endlagerung des Mülls ist ebenfalls nicht nötig, da das Material, das übrig bleibt, nach 100 Jahren weitgehend abgeklungen ist.

 

Saubere, sichere Energie, ohne Unfälle wie in Tschernobyl oder Fukushima, ohne Atommüll und klimaschädliche Treibhausgase, dazu noch relativ günstig: Es klingt perfekt – wären da nicht all die praktischen Probleme.

 

Wie mächtig die sind, haben die etwa 200 Wissenschaftler sowie rund 140 Monteure und Ingenieure ausführlich erfahren. Denn die Wasserstoffatome sträuben sich gleichsam gegen ihre Verschmelzung. Erst in unvorstellbar großer Hitze und unter immensem Druck gelingt dies. Diese Bedingungen zu schaffen und möglichst lange aufrechtzuerhalten – das ist Ziel der Greifswalder Anlage. Der Bau jedoch erwies sich als extrem schwierig: Vor allem bei der Produktion der 50 supraleitenden, bizarr gebogenen Magnetspulen, die auf minus 270 Grad heruntergekühlt werden müssen, gab es immer wieder Rückschläge.

 

Vom eigentlichen Ziel, der Energieproduktion, sind die Wissenschaftler noch weit entfernt. Für das Experiment gestern wurde immer noch mehr Energie eingesetzt, als am Ende erzeugt wurde. Die Wissenschaftliche Direktorin Sibylle Günter freut sich trotzdem: „Das ist ein toller Tag“, sagt sie. Aber bis zum ersten Fusionskraftwerk werden nach ihren Schätzungen noch rund 35 Jahre vergehen. Konkrete Planungen für die kommerzielle Nutzung der Kernfusion gebe es derzeit noch nicht: „So weit blickt die Industrie nicht voraus.“

 

Ohnehin markiert „Wendelstein 7-X“ lediglich eine Etappe auf dem Weg zum großen Ziel. Nach Angaben des Instituts ist dies zwar die modernste und neben einer Anlage in Japan weltweit größte Konstruktion dieses Typs – die Fusion von Atomkernen ist hier jedoch gar nicht geplant. Das große Ziel der Greifswalder ist es, das Plasma für eine halbe Stunde konstant zu halten – also aus den 50 Millisekunden 30  Minuten zu machen.

 

Das liegt noch in weiter Ferne, der Aufwand dagegen ist schon jetzt enorm. Kaum erstaunlich also, dass die Kritik an dem Projekt nicht verstummt. Eine Milliarde Euro hat „Wendelstein 7-X“ bislang gekostet – Geld, das man nach Meinung von Grünen und Umweltverbänden besser in erneuerbare Energien gesteckt hätte. „Vorausgesetzt, das gelingt überhaupt, kommt die Technik trotzdem viel zu spät“, moniert etwa die Sprecherin für Atompolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl.

 

Wie groß die Faszination für die Fortschritte in der Kernfusion ist, das zeigen auch die vielen Fernsehteams im Kontrollzentrum: Vom Greifswalder Lokalsender bis zu Al-Jazeera reicht die Medienpräsenz am großen Tag.

 

Die Gästeliste steht aber auch für die lange Forschungsgeschichte. Der 73-jährige Professor Jürgen Nührenberg hat die Greifswalder Anlage mit erdacht. „Das heute ist ein Erfolg für die Ingenieure und Monteure“, sagt er. „Aber wie gut meine physikalische Theorie war, wird sich erst in zehn Jahren herausstellen.“