Pflastersteine gegen zwei Uhr früh

Sächsische Zeitung: »Pflastersteine gegen zwei Uhr früh«
Erstveröffentlicht: 
25.11.2015

Nach dem Anschlag auf die Wohnung von Justizminister Gemkow gibt es keine konkreten Hinweise auf die Täter.

 

Großbürgerliche Wohnhäuser, ausladende Erker, ein breiter, baumbestandener Mittelstreifen. Die heile Welt der August-Bebel-Straße in der Leipziger Südvorstadt störte am Dienstagmorgen nur ein Polizeiwagen mit laufendem Motor, der an der Ecke einer Seitenstraße steht: gleich unter den großen zersplitterten Scheiben eines Bogenfensters, durch das der Blick auf eine imposante Bücherwand fällt. Hier wohnt Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU). In der Nacht zu Dienstag, gegen 2 Uhr, wurde die Familie aus dem Schlaf gerissen. Mehrere Pflastersteine fliegen gegen Fenster, übel riechende Buttersäure wird geworfen, verfehlt aber das Wohnzimmer. Die Chemikalie läuft die Fassade und die Fensterscheiben hinunter. Gemkow und andere Anwohner alarmierten gegen 2.12 Uhr die Polizei.

Der Minister und seine Familie sind unverletzt. „Es geht ihm und seiner Familie gut“, sagte Leipzigs Polizeipräsident Bernd Merbitz der SZ. „Wir werden nun aber natürlich alles unternehmen, um für seinen Schutz und für seine Sicherheit zu sorgen.“ Welche Maßnahmen konkret getroffen werden, ließ er offen. An der gemeinsamen Sitzung der beiden Landesregierungen von Sachsen und Sachsen-Anhalt in Merseburg nahm Gemkow gestern nicht teil, sagte sein Sprecher. Seine Wohnung ist zurzeit unbewohnbar. Der Minister musste gestern kurzfristig eine neue Bleibe für sich und seine Familie organisieren. Nachmittags haben Handwerker begonnen, neue Fensterscheiben in der Wohnung einzusetzen. Gemkow hat zwei Kinder, das jüngste ist im August geboren worden.

Es ist der erste Anschlag auf ein privates Domizil eines hochrangigen sächsischen Politikers, nachdem schon eine Reihe von Büros attackiert worden waren – aus dem linken wie auch dem rechten Umfeld. Die Polizei spricht von mehreren unbekannten Tätern, ohne auf Details einzugehen. Das Operative Abwehrzentrum in Leipzig hat die Ermittlungen übernommen, es ist auf extremistisch motivierte Straftaten spezialisiert. Parallel wird eifrig spekuliert. CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer machte sofort „Linksextremisten“ für den Anschlag verantwortlich. Bei früheren Anschlägen militanter Linker in Leipzig gab es meist Bekennerschreiben im einschlägig bekannten Internetportal „indymedia“. Wie Anfang August bei einer ähnlichen Attacke auf die Firma von AfD-Chefin Frauke Petry, oder bei den Angriffen von mutmaßlich Autonomen auf Leipziger Gerichtsgebäude.

Am Vorabend des nächtlichen Anschlags auf die Wohnung der Familie Gemkow war – begleitet von Protesten – einmal mehr Legida durch Leipzigs Innenstadt gezogen. Gemkow hatte erst im Oktober einen „neuen Höhepunkt in der Verrohung der Demonstrationskultur“ kritisiert, als ein Demonstrant auf einer Pegida-Demo in Dresden einen Galgen mitführte. „Die politische Debatte darf sich nicht weiter radikalisieren und muss auf dem Boden von Recht und Gesetz bleiben“, hatte Gemkow gewarnt. Sein Statement klang wie ein Kassandra-Ruf: „Die weitere Eskalation von Sprache und Gestus auf den Demonstrationen halte ich für brandgefährlich. Wo am Anfang Worte stehen, kommt es am Ende schnell zu Entmenschlichung und Gewalt gegen Andersdenkende.“

Gemkow ist kein politischer Hardliner, der schnell zu markigen Worten greift. Einerseits setzt sich der junge Minister für eine schnellere juristische Erledigung von strittigen Asylverfahren durch die Gerichte ein.

Andererseits sammelte der CDU-Landtagsabgeordnete in seinem Büro im Leipziger Kunstareal „Spinnerei“ Hilfsgüter für Flüchtlinge, die erst vor wenigen Tagen auf die griechische Insel Lesbos gebracht wurden. Kürzlich las er in einem Gymnasium aus dem Buch „Der Tod ist mein Beruf“ über den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz vor. Im Sommer jobbte er einen Tag in der Kita „Auenzwerge“ und stellte sich dort mit den Worten vor: „Ich bin der Sebastian.“

Der erst 37 Jahre alte Rechtsanwalt Gemkow ist ein Neuling im Kabinett. Seit 2009 Landtagsabgeordneter, machte ihn Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) erst vor einem Jahr überraschend zum Justizminister. Die Politik kennt er allerdings von Kindheitsbeinen an – seine Familie gehört seit Generationen zu deren Repräsentanten. Sein Vater nahm den elfjährigen Sohn mit auf die Leipziger Montagsdemos und wurde 1990 für die CDU Ordnungsdezernent in Leipzig. Im Frühjahr 1994 starb der Vater an Krebs. Gemkows Großonkel Rudolf Krause war 1990 bis 1991 sächsischer Innenminister, ein Urgroßonkel gehörte zum militärischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland.

Leipzig Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), der nur einen Kilometer von Gemkow entfernt wohnt und wegen Bedrohungen von Legida schon mehrfach unter Polizeischutz stand, solidarisierte sich gestern mit dem CDU-Minister: „Diese Tat ist widerlich und auf das Schärfste zu verurteilen, sie ist nicht nur ein Angriff auf den Rechtsstaat, sondern auch eine Attacke auf die Privatsphäre des Ministers, auf seine Familie.“ Der Angriff, so Jung, sei auch das „Ergebnis einer vergifteten, verrohten politischen Kultur und öffentlichen Auseinandersetzung.“