"Die Arbeitslosenzahlen werden wieder steigen“

Erstveröffentlicht: 
21.11.2015
Die Geschäftsführerin des Leipziger Jobcenters Simone Simon und ihr Stellvertreter Michael Lange präsentieren hervorragende Zahlen – doch die Herausforderungen durch den Flüchtlingszustrom sind enorm. Im Interview erklären sie Probleme und Chancen. VON ANDREAS TAPPERT

 

Leipzig. Die Geschäftsführerin des Leipziger Jobcenters Simone Simon und ihr Stellvertreter Michael Lange präsentieren hervorragende Zahlen – doch die Herausforderungen durch den Flüchtlingszustrom sind enorm.

 

Im Oktober ist die Arbeitslosenquote in Leipzig auf 8,9 Prozent gesunken – der niedrigste Wert seit den 90er Jahren. Auch in Ihrem Jobcenter hat sich die Zahl der betreuten hilfsbedürftigen Haushalte von 51.200 im Jahr 2006 auf aktuell 41.117 deutlich reduziert. Ist das ein Verdienst Ihres Jobcenters – oder einfach nur der boomenden Wirtschaft?


Simone Simon: Auch die Zahl der Empfänger von Grundsicherungsleistungen insgesamt ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. 2007 waren das über 85.000 und aktuell sind es mit 69.400 über 15.000 weniger. Über 16.000 Menschen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen waren, haben eine Beschäftigung gefunden und auch Langzeitarbeitslose haben von der wirtschaftlichen Entwicklung Leipzigs in den letzten zehn Jahren profitiert. Hier gibt es einen Rückgang von über 50 Prozent im Vergleich zu 2007. Außerdem betreuen wir erwerbstätige Leistungsempfänger, also arbeitende Menschen, deren Einkünfte nicht zum Leben ausreichen. Auch hier ging die Zahl um etwa 5.000 seit 2010, auf aktuell etwa 15.900 Personen zurück. Diese Erfolge haben auch mit der Organisation unserer Verwaltung zu tun – aber das geht natürlich nur einher mit der Entwicklung der Wirtschaft. Das Jobcenter und die Arbeitsagentur gehen, gemeinsam mit den arbeitslosen Menschen, Schritt für Schritt den Weg in Richtung Beschäftigung, oft in Zusammenarbeit mit Bildungsträgern, Vereinen und Verbänden und den Arbeitgebern.

 

Michael Lange: Wir müssen ganz nah am Markt sein. Zum Beispiel kommen Menschen zu uns und sagen, ein Arbeitgeber würde sie einstellen, wenn sie einen Staplerschein hätten. Wir organisieren die Qualifizierung bei einem Bildungsträger und finanzieren diese und zwar alles möglichst schnell, damit die Stelle nicht an einen anderen Bewerber geht.

 

Und wie viele Arbeitslose sind im Jobcenter gemeldet?


Simone Simon: Im Moment 20.136. Im Jahr 2005 waren es noch 34.000. In der Arbeitsagentur sind weitere 5368 Arbeitslose gemeldet – insgesamt gibt es also 25.504 Arbeitslose in der gesamten Stadt.

 

Da hat Leipzig wohl bei der Wirtschaftsansiedlung alles richtig gemacht?


Simone Simon: Die Unternehmen vertrauen unserer Region und haben in den letzten zehn Jahren über 57.000 zusätzliche, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Leipzig hat mehrere Leuchttürme, zum Beispiel in der Automobilindustrie. Die Fachkräfte, die dort gesucht werden, können wir nur noch zum Teil aus unseren Bewerbern generieren. Unser Personenkreis findet vor allem in Branchen wie Handel, Lager und Logistik, Call-Center, Gastronomie sowie Gesundheits- und Sozialwesen eine Beschäftigung.

 

Michael Lange: Wer macht immer alles richtig? Wichtig ist, dass man reagiert, wenn man Änderungsbedarf erkennt. Und das hat die Stadt Leipzig getan.

Experten schätzen, dass sich rund 70 Prozent der Jobsuchenden selber ihren Job suchen – ohne die Arbeitsagentur und das Jobcenter.


Simone Simon: Das hört sich unheimlich viel und negativ an, aber das ist es gar nicht, ganz im Gegenteil. Wir machen nicht nur Vermittlungsvorschläge, sondern bieten auch Hilfe zur Selbsthilfe an. Menschen werden durch unseren Anstoß und unsere Beratung motiviert, stärker selber auf Arbeitssuche zu gehen.

Eigeninitiative lohnt sich also...


Michael Lange: Auf jeden Fall und das ist auch unser Ziel. Oft ist es entscheidend, wie lange jemand arbeitslos ist und wie sehr man sich mit der Grundsicherung einrichtet. Wer vorgestern arbeitslos geworden ist, den können wir recht schnell unterstützen, zum Beispiel in unserem Projekt „Arbeit Direkt“. Hier bieten wir eine ganz enge Unterstützung mit mehreren Beratungsgesprächen in der Woche an. Wer zehn Jahre in der Grundsicherung ist, der braucht mehr Hilfe. Der sehr gute Facharbeiter braucht uns eigentlich nicht. Der kommt relativ schnell zu einem neuen Job.

 

Viele, die zur Wende arbeitslos wurden, sind vorzeitig in Rente gegangen und haben so die Statistiken entlastet – oder?


Simone Simon: Selbstverständlich sind auch einige in den Ruhestand gegangen, aber anders als im übrigen Sachsen haben wir hier solche Altersabgänge kaum. Durch die steigende Zahl von sozialversicherungspflichtigen Jobs in Leipzig profitieren auch Menschen, die schon sehr lange arbeitslos sind und auch die lebensälteren ab 50 Jahren, die wir in unserem Projekt Mehrwert 50plus ganz gezielt unterstützen. Ganz besonders erfreulich ist, dass wir das Projekt, trotz Auslaufen der Bundesmittel zum Jahresende, ab 2016 weiterführen und eigenständig schultern werden.

 

Wie stark ist denn die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs in Leipzig in den letzten zehn Jahren gestiegen?


Simone Simon: 2005 hatten wir in Leipzig 158.000 sozialversicherungspflichtige Jobs, momentan liegen wir bei 246.500.

 

Hat der Mindestlohn die Vermittlung von Arbeitslosen schwerer gemacht?


Simone Simon: Ganz im Gegenteil. Unsere Statistiken besagen, dass die Beschäftigungsverhältnisse seit Einführung des Mindestlohnes tatsächlich auch besser bezahlt werden. Wir achten sehr stark auf den Mindestlohn. Wir vermitteln keine Stellen, die nicht dem Mindestlohn entsprechen oder nicht ortsüblich vergütet werden. Der Mindestlohn stellt dabei die untere Grenze dar.

 

Michael Lange: Einige Arbeitsverhältnisse, hauptsächlich im Minijobsektor, bis zu einem Einkommen von 450 Euro, wurden wegen des Mindestlohns auch beendet.

 

Es gibt immer wieder den Vorwurf, Behörden wie Ihre würden Arbeitssuchende verstecken, um die Statistik zu schönen – sie zum Beispiel in Weiterbildung parken. Oder Leute die krank waren, aus der Statistik der Langzeitarbeitslosen herausfallen lassen.


Simone Simon: Jeder, der vom Jobcenter Leistungen bezieht, findet sich auch in der monatlichen Arbeitsmarktstatistik, die jeder im Internet einsehen kann. Wer über sechs Wochen krank ist, ist nicht mehr in der Grundsicherung gemeldet, weil andere Leistungsträger zuständig sind. Eine Qualifizierung bedeutet ja, dass jemand jeden Tag aufsteht, zum Bildungsträger geht und etwas lernt. Insofern ist diese Person zwar nicht beitragspflichtig beschäftigt, aber sehr wohl beschäftigt, nämlich mit ihrer Qualifizierung. Bei den Arbeitsgelegenheiten verhält es sich ähnlich, auch derjenige ist beschäftigt und nicht arbeitslos. Diese Zahlen werden jeden Monat in der sogenannten Unterbeschäftigungsstatistik dargestellt.

 

Und was ist mit den Leuten, die keine Lust zum Arbeiten haben?


Michael Lange: Es gibt Leute, die verwenden ihre ganze Kraft darauf, uns zu sagen, dass sie nicht arbeiten wollen oder können. Wenn ich gesund bin, aber nicht arbeiten will, haben wir auch die Möglichkeit beim Thema Motivation zu unterstützen.

 

Wie?


Michael Lange: Wir haben Aktivierungs- und Orientierungsangebote, die verschiedene Bildungsträger für uns durchführen. Gute Erfahrungen haben wir mit sozialpädagogischer Betreuung und psychosozialem Coaching gemacht. Auch mit der aufsuchenden Sozialarbeit, bei der die Menschen auch direkt zu Hause begleitet oder mal abgeholt werden. Mit dem Fallmanagement können wir zunächst im Netzwerk, gemeinsam mit den Sozialpartnern der Stadt, Hemmnisse in Angriff nehmen, die unbedingt vor der Arbeits- oder Ausbildungsaufnahme ausgeräumt sein müssen. Und manchmal sprechen wir Sanktionen aus, jedoch nur in etwa 5 Prozent unserer Betreuungsfälle.

 

Simone Simon: Etwa 75 Prozent aller Sanktionen hängen damit zusammen, dass jemand seinen Beratungstermin nicht wahrnimmt oder zu Maßnahmen nicht erscheint. Das ist eine recht konstante Zahl. Sanktionen auf Grund der Ablehnung von Stellenangeboten sind eher selten.

 

Werden Leipzigs Arbeitslosenzahlen weiter sinken?


Simone Simon: Eher nicht. Aufgrund des Zustroms von Asylbewerbern haben wir schon Anzeichen für einen Anstieg bei den gemeldeten arbeitslosen Ausländern, aktuell sind es 3000. Die Arbeitslosenzahlen werden wieder steigen.

 

Michael Lange: Die Zahl war lange rückläufig. Von 2014 zu 2015 ist ein Sprung nach oben aufgetreten. Wir müssen damit rechnen, dass wir aufgrund der Zuwanderungen eine steigende Zahl von hilfsbedürftigen Menschen in der Grundsicherung im Jobcenter haben. Dieses Problem wird sich nicht schnell lösen lassen. Denn um die Arbeitsanforderungen zu bewältigen, müssen die meisten Asylberechtigten zunächst Deutsch lernen und qualifiziert werden.

 

Haben Sie die erforderliche Infrastruktur, so viele Menschen auszubilden?


Simone Simon: Aktuell sind es im Jobcenter noch nicht so viele. Im Vergleich zum vergangenen Jahr haben wir bei den gemeldeten arbeitslosen Ausländern einen Anstieg von 14 Prozent. Die Asylbewerber und Flüchtlinge stellen zunächst ihren Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Erst wenn sie daraufhin einen Aufenthaltsstatus, also als asylberechtigt anerkannt sind, können sie vom Jobcenter Unterstützung erhalten. Wir sind vorbereitet und wollen zunächst die ordnungsgemäße und vor allem pünktliche Zahlung der Leistungen sicherstellen. Darüber hinaus arbeiten wir im Regionalnetzwerk „Migration“ mit allen Beteiligten in der Stadt und der Arbeitsagentur intensiv zusammen.

 

Aber es werden mit Sicherheit sehr viel mehr werden. Ist Ihnen nicht Angst und Bange, wenn Sie an Ihr Budget und Ihre Kapazitäten denken?


Michael Lange: Die Situation kann in der Tat in drei Monaten ganz anders sein. Wir rechnen damit, dass die Zahl der von uns zu betreuenden Asylberechtigten in den nächsten Monaten sprunghaft nach oben geht.

 

Simone Simon: Derzeit denkt der Bund darüber nach, das Budget der Jobcenter aufzustocken, um den Anforderungen besser gerecht zu werden.

Was für Ausbildungen bringen die Flüchtlinge denn mit?


Michael Lange: Konkrete Zahlen können noch nicht erhoben werden. Aber es wird davon gesprochen, dass neun Prozent der Flüchtlinge einen akademischen Abschluss mitbringen. Neun Prozent sollen einen beruflichen Abschluss haben, die übrigen keinen anerkannten Abschluss. Wir müssen jeden Mann und jede Frau individuell betrachten. Welcher Abschluss kann anerkannt werden, welcher nicht oder was muss an Ausbildungsmodulen ergänzt werden? Wir arbeiten dazu gut mit der Anerkennungsstelle IBAS zusammen. Wie wir mit 80 Prozent ohne Berufsabschluss umgehen, müssen wir konkret und in jedem Einzelfall sehen. Viel wird davon abhängen, welche Neigungen der Mensch hat und in welchen Berufsfeldern Arbeitskräfte gesucht werden. Es werden sicher nicht alle Alten- oder Krankenpfleger werden können, wo wir einen großen Bedarf in Leipzig haben. Die Ausbildungen werden ein bis drei Jahre dauern. Deshalb werden die wieder steigenden Arbeitslosenzahlen wohl eine ganze Zeit Bestand haben.

 

Es wird also vieles davon abhängen, wie die Flüchtlinge motiviert sind.


Michael Lange: Wer so viel Leid hinter sich gebracht hat wie viele Flüchtlinge, ist vielleicht besonders motiviert, in Deutschland zu bleiben. Wenn nicht, werden wir mit den selben Probleme ringen wie bei allen anderen, deren Arbeitswille nicht ganz so gut ist. Auch das ist unser täglich Brot.

 

Simone Simon: Ja, wie bei jedem anderen auch. Aber auch von dem, was sie an Kenntnissen mitbringen. Die Zusammenarbeit aller den Integrationsprozess unterstützenden Einrichtungen in Leipzig stimmt mich zuversichtlich. Die Experten sitzen regelmäßig gemeinsam an einem Tisch und machen Nägel mit Köpfen. Anfang Januar wird in Leipzig beispielsweise „Mein Ordner“ eingeführt, eine Orientierungs- und Sortierhilfe für Flüchtlinge, um sich im System von Verwaltung, Antragstellung und Qualifizierung gut orientieren zu können.

 

Von Andreas Tappert