Ist die Gewalt-Statistik geschönt?

Erstveröffentlicht: 
19.11.2015
Ein LKA-Beamter erzählt, wie die Polizei Flüchtlingskriminalität herunterspielt – für den „zivilen Frieden“ Von DIeter Wonka

 

Die Wahrheit hat viele Facetten. Manchmal kann sie schrecklich sein. Vor seinen Augen hat ein Flüchtling einem anderen durch einen brutalen Kopfstoß den Schädel blutig geschlagen. Es fehlte nicht viel, und seine Kollegen hätten von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen. Markus Schwarz ist Beamter eines Landeskriminalamtes. Er hat die Gewalt nicht kommen sehen. Nur wenige Tage vorher hatte der Beamte entspannt mit dem Flüchtling gesprochen, über den Islam, über deutsche Sitten und über Propheten im Christentum und im Islam. Es hatte eine überaus freundliche Atmosphäre geherrscht, der Polizist und der hochschulgebildete Syrer waren neugierig auf die jeweils fremde neue Welt gewesen. Der Konflikt sei „quasi aus dem Nichts heraus“ entstanden, sagt Schwarz. Im Polizeibericht stand später im nüchternen Protokolldeutsch, es habe einen Streit im einer Erstaufnahmestelle „mit minderschwerer Verletzung“ gegeben.

 

„Es gibt Anweisungen, unseren Interpretationsspielraum so zu nutzen, damit der zivile Frieden gewahrt bleibt“, sagt Schwarz. Der Beamte beklagt, dass er Fälle wie die blutige Schlägerei herunterspielen und verharmlosen soll. Bei zu viel schlechten Nachrichten aus den Flüchtlingslagern könnte die Stimmung kippen. Die Befürchtung: Rechte Schreihälse warteten nur auf bestätigte Vorurteile und Futter für ihre ideologische Kurzatmigkeit. Lange hat Schwarz geschwiegen. Jetzt hält er es für seine Pflicht zu sprechen.

 

„Es wird nicht gelogen, nichts vertuscht, aber es werden ganz bewusst Dinge weggelassen. Das ist das Problem“, sagt Schwarz. „Ich musste das mal loswerden.“ Der Kriminalbeamte sitzt in einem Kneipensessel. Schwarz ist nicht sein richtiger Name. Zu seinem Schutz bleibt seine Identität geheim. Er ist halb so alt wie sein Minister. Er sieht graugesichtig, überarbeitet und entschlossen aus, wie de Maizière. Knapp zwei Stunden hat der Beamte seine Sicht der aufwühlenden Lage erzählt. Schwarz ist kein Ausländerfeind. Hinter ihm liegt ein arbeitsreiches Wochenende als freiwilliger Helfer in einer Spendensammelstelle gleich hinterm Bahnhof. Er hat Kinderwagen und gebrauchte Kleider sortiert, einen jungen Vater mit seiner zweijährigen Tochter wegen einer akuten Bindehautreizung zu einer Augenärztin begleitet und lange um Verständnis dafür geworben, dass hierzulande auch eine Frau qualifizierte Hilfe leisten kann.

 

Am Ende hat er es geschafft. Dem Mädchen tränten nicht mehr die Augen. Die beiden gingen zurück ins Erstaufnahmelager. Und der Polizist kehrte nach kurzer Nacht zurück an seinen Schreibtisch. Schichtbeginn, Vor-Ort-Einsatz, Akten abarbeiten und Kollegen motivieren. Schwarz tut, was er kann. Er klagt nicht über zu viel Arbeit. Er klagt darüber, dass er die Wahrheit verdrehen oder verschweigen soll.

 

Vor Kurzem hat Schwarz seinem Innenminister gegenübergesessen, sagt er. Es ging um die Vorarbeiten zur polizeilichen Kriminalitätsstatistik, um die Frage von auffälliger Straffälligkeit in und um Flüchtlingszentren. Man könne der Bevölkerung nicht zumuten, dass ein Ergebnis herauskomme, mit dem bestätigt werde, dass es eine Häufung von sexueller Gewalt, von schwerster Körperverletzung gebe. „Das wäre ein schlechtes Ergebnis“, so hat Schwarz den obersten Dienstherrn verstanden. Das hat er so auch an seine Leute weitergegeben. Dann würden Statistikfilter ein wenig anders gesetzt, manche Zahlen würden verspätet geliefert, es würde kaschiert, weggedrückt und umbenannt. Das Wort „Ehrenmord“ kommt in den Protokollen nicht vor. Im Polizeideutsch lässt sich manches verpacken, nicht falsch, aber eben auch ohne Ecken und Kanten. „Wir nutzen den Interpretationsspielraum so, dass der zivile Frieden gewahrt bleibt“. Schwarz stürzt das häufig in enorme Gewissensbisse. „Man muss seinen Ermessensspielraum so ausnutzen, dass man nicht lügt, aber die Sensationsgeier kein Trittbrett erhalten.“ Aber die kalte Wahrheit der Statistik werde geschönt.

 

Schwarz kennt aus seiner Praxis und aus den Schilderungen seiner Kollegen aus Sachsen, Bayern oder aus Nordrhein-Westfalen viele ungefilterte Fakten. Sex gegen Weiterreise sei für die kriegsbrutalisierten Schleuserbanden vom Balkan eine fast routinemäßige Zwangswährung. Pädophile erlebten gerade pralle Zeiten, weil der Markt mit Kinderpornografie mit Flüchtlingskindern überschwemmt werde, das Alter der Opfer sei vom Teenageralter auf zwei bis sechs Jahre gesunken. Die einzig beruhigende Nachricht: Alle Vermutungen, dass sich in Erstaufnahmelagern auch Terrorkriminelle vom IS befänden, haben sich als Fehlhinweise erwiesen.


 

 

BKA rechnet mit Gewalt gegen Flüchtlinge

Das Bundeskriminalamt (BKA) geht von mehr Angriffen auf Flüchtlinge aus. Die Zuwanderung führe zu einer Mobilisierung in der rechtsextremen Szene, sagte BKA-Präsident Holger Münch am Mittwoch. Man müsse damit rechnen, dass sich gewalttätige Aktionen von Rechtsextremen zunehmend gegen Asylbewerber richten.

 

Bereits jetzt hat die Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte das Niveau des Vorjahres überstiegen.

 

Die Mitarbeiter des BKA beobachteten die Szene, um Strukturen und Muster möglichst frühzeitig zu erkennen.

 

Straftaten von Einzeltätern könne aber kaum präventiv begegnet werden. „Wir wollen in Deutschland nicht noch einmal von einer Gruppe wie dem NSU überrascht werden“, betonte er. Der BKA-Präsident beklagte „gezielte Desinformationskampagnen“ zur Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, bei denen behauptet werde, Flüchtlinge würden Sexualverbrechen begehen oder seien islamistische Kämpfer.