Buch-Rezension: Der Friedort der Revolutionäre

Buch Cover Front

Seit einigen Wochen ist ein bemerkenswertes kleines Büchlein in linken Zusammenhängen, Info- und Buchläden im Umlauf. „Der Friedort der Revolutionäre – Metaphern aus dem laufenden Krieg“ des Autor*innenkollektives die Kinder des Krieges“ befasst sich anhand der literarischen Figur des „Friedortes“ mit der Frage nach dem Umgang der Bewegung mit ihren Toten. Ein Umgang, der in Deutschland und Europa, im Unterschied zu Bewegungen wie in Mexiko oder Kurdistan, in weiten Teilen bis heute inexistent ist:

 

Jeder tote Freund bringt mit sich alles in Frage zu stellen.

Alles in Frage zu stellen bedeutet, dass der Freund umsonst gestorben ist.“

- DIE KINDER DES KRIEGES

 

Es gibt Bücher, die sind eine Besprechung oder einer Bemerkung nicht wert. Aber dieses Buch ist anders: Beseelt durch sprachliche Schönheit, die man böse als Kitsch, anerkennend aber auch einfach als dem Thema angemessen - oder schlicht: als literarisches Können - deklarieren könnte, wirft es die Frage nach dem Umgang der anarchistischen Bewegung mit den Gefallenen und den anderweitig verstorbenen anarchistischen Gefährt*innen auf. Dementsprechend traurig, wütend, milde, liebevoll, herzlich und mystisch ist es zugleicht. Und es wirft implizit eine radikale Hypothese in den politischen Raum: Das, was der Staat am meisten fürchten müsste, wäre, wenn die anarchistische Bewegung eine wirkliche Gemeinschaft werden würde. Dies schließt auch den Umgang mit dem Tod und den Toten ein. Und es beinhaltet die zum Nachdenken anregende Forderung unsere Toten in Schutz zu nehmen vor der nicht enden wollenden Niedertracht des Feindes. Alles andere als morbide oder nekrophil heißt es radikal-existenzialistisch:

 

„Anarchistische Politik geht vom Leben aus. Alle Politik, die vom Leben ausgeht,

durchdringt etwas Existenzialistisches – das Glück und die Freude Anarchist zu sein. “

- DIE KINDER DES KRIEGES

 

Sprachlich teilweise im lettristischen Stil französischer Autor*innen der Postmoderne (Deleuze, Debord, Lyotard, das UK, et al.) ist es aber nicht ungeduldig-situationistisch vom Aufstand schwätzend, sondern ganz im Gegenteil eher von einer selbsverständlichen historisch-revolutionären und analytischen Zielgerichtetheit geprägt. Stilistisch ist es eine Collage aus Prosa, Poesie und Epik - das Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, aus der Psychologie, der Pädagogik, der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, aus der politischen Theorie und Philosophie gelungen vereint. Explizit existenzialistisch, eher dialektisch (im besten Sinne: widersprüchlich) ist es erstaunlich materialistisch geerdet, weil es konsequent vom Gesellschaftlichen als Konstitutionsbedingung der menschlichen Existenz ausgeht. Es scheint ein insgesamt gelungener Versuch die sprachliche Schönheit der postmodernen Literatur aufzunehmen und gleichzeitig die Postmoderne als große Verwirrung, Entradikalisierung und poststrukturalistische Verschleierung von Herrschaft zu entlarven. Und diese hinter sich zu lassen, den antagonistischen Kampfes gegen die drückende Wirklichkeit, auf radikale Weise, in der Form einer unversöhnlichen Position, wieder zu beleben:


„Krieg, weil es heute nur noch darum geht die Herrschaft zu vernichten

oder von ihr als Mensch vernichtet zu werden.“

- DIE KINDER DES KRIEGES

Das wirklich sympathische an diesem Büchlein ist, dass es die Leser*innen von ihrem jeweiligen Stand abzuholen scheint. In vielen - ja fast allen - Gedanken und Absätzen stecken Theorien, Anleihen und Gedanken bekannter und weniger bekannter linker, anarchistischer und sozialrevolutionärer Theorien, ohne dass das AutorInnenkollektiv den universitären Duktus der Fußnotendrescherei, des Zitateschlagens oder des Quellen- und/oder Namenprotzens („wir haben ja ach so viel gelesen“) mitmacht. Die Leichtigkeit des Geschriebenen reißt ebenso mit, wie der mit Selbstverständlichkeit verfasste brutalharte Konsequenzialismus – als die Bereitschaft des Revolutionärs für die Revolution im Zweifelsfall auch zu sterben – die Leser*in traurig und bisweilen fassungslos hinterlässt.

 

Man verzeihe den Autor*innen den Mangel an Genderpunktuation (der vielleicht literarisch zu erklären ist) und den Anflug von jüdischer Befreiungstheologie durch Begrifflichkeiten und Metaphern wie Zion, Tikun Olam, Golem oder Diaspora; man verzeihe die Prise Heidegger und auch die apokalyptische Kriegsrhetorik – all dies in der Hoffnung, dass das Autor*innenkollektiv seine „Drohung“ am Ende des Büchleins („Wir werden wiederkommen“) wahr macht – und dies nicht das letzte Werk aus ihren Federn war.

 

Fazit: Unbedingt lesenswert

 

 

Herausgeber: AlphaPi Verlegerkollektiv in Kooperation mit der Assoziation autonomer Autor*innen, Drucker*innen & Buchbinder*innen

1. Auflage / Broschiert / 76 Seiten / September 2015 / Idar Oberstein / Creative Commons Licence

 

In Berlin gibt es das Büchlein: beim Buchladen Schwarze Risse im mehringhof und im Tempest in der Reichenberger Str.

 

Online als Printversion erhältlich bei: Fire & Flames

 

und als kostenloses PDF zum Download: auf der Seite des Autor*innenkollektives kinderdeskrieges.noblogs.org