Der bewaffnete Konflikt im Baskenland ist nicht zu Ende, denn bisher hat sich nur eine Seite zum Verzicht auf Waffengewalt verpflichtet: die Untergrund-Organisation ETA. Die andere Konfliktpartei übt weiter Repression aus, auf allen Ebenen, täglich mehr. Das neue Strafgesetz (Baskinfo berichtete) eröffnet Möglichkeiten ohne Ende.
Gleichzeitig ist ein Streit in vollem Gang, welche Version des Konflikts nun in die Geschichte eingehen soll. Geschichtsschreibung ist das aktuelle Thema. Jede Partei, jede Regierung, die abertzale Linke, Historiker/innen verschiedener Couleur – alle haben sie eine Version der letzten 50 Jahre (oder darüber hinaus). In vielen Fällen ergänzen sich diese Versionen nicht, sondern stehen sich diametral gegenüber. Manipulationen sind an der Tagesordnung. Beispiele:
Eine alte Lüge der spanischen Regierung ist die vom angeblich ersten Attentat von ETA. Tatsache ist, dass 1960 in Donostia-Amara am Bahnhof eine Bombe gezündet wurde, bei der ein Kleinkind ums Leben kam, Begoña Urroz. Ein Bekennerschreiben gab es nie, irgendwann wurde das Attentat ETA zugeschrieben, obwohl sich ETA in ihrer Geschichte zu allen von ihr durchgeführten Aktionen und Attentaten bekannte. Viel später wurde bekannt, dass das Attentat einer linksradikalen Gruppe namens DRIL zugeschrieben werden muss. Dahinter verbarg sich das „Directorio Revolucionario Ibérico de Liberación“ (Revolutionäres Iberisches Befreiungs Direktorium), eine bewaffnete Gruppe, die ab 1959 gegen die faschistischen Regimes in Portugal und Spanien kämpfte und 1960 eine Welle von Attentaten in mehreren Orten des Staates verübte.
Einer der Führer der Organisation bekannte sich zu der Aktion und bedauerte den Tod der 18 Monate alten Begoña. 12 Mitglieder des DRIL flohen nach Belgien, wurden verhaftet, 9 von ihnen wurden u.a. wegen des Todes von Begoña Urroz verurteilt. Im Mai 2013 hatte der katalanische Journalist Xavier Montanyà Zugang zu kurz vorher geöffneten Polizeiarchiven, sein Resümée bezüglich des Todes von Begoña Urroz: die Täterschaft von ETA sei nicht haltbar. Er machte deutlich, dass die Organisation DRIL von der franquistischen Polizei unterwandert war. Doch davon will der spanische Repressions- und Ideologie-Apparat bis heute nichts wissen. Im Klartext heißt das, staatliche Stellen waren für das tödliche Attentat zumindest mitverantwortlich, das bis heute ETA in die Schuhe geschoben wird. Staatsterrorismus ist das Wort dafür. Vergleiche mit NSU liegen auf der Hand.
Stellt sich die Frage: offiziell wurden bei ETA-Anschlägen 829 Tote verursacht – weshalb ist da ein Todesfall mehr oder weniger so wichtig? Die Antwort ist einfach und liegt auf der Hand für alle, die einen Blick auf die Geschichte werfen.
ETA wurde 1959 gegründet, im tiefsten Franquismus, als eine antifaschistische Organisation. Die ersten Aktionen bestanden in der Verteilung von Flugblättern, dem Aufhängen der verbotenen baskischen Flagge und Sabotagen. Das erste gezielte Attentat von ETA richtete sich gegen den berüchtigten Folterer Meliton Manzanas aus Donostia (San Sebastian), der im 2.Weltkrieg mit der GESTAPO kollaboriert hatte. Er wurde am 2.August 1968 von ETA umgebracht. Zwischen Begoña Urroz und Meliton Manzanas liegen acht der neun Anfangsjahre von ETA. Solange das Kind als ETA-Opfer gilt, dazu bei einem völlig willkürlichen Attentat, kann der Staat argumentieren, ETA sei von Beginn an eine „terroristische Organisation“.
Da ETA in ihrer Anfangszeit in linken und antifaschistischen Kreisen eine durchaus populäre Organisation war, weit über das Baskenland hinaus (siehe Reaktionen auf das Attentat gegen Carrero Blanco 1973), besteht staatlicherseits durchaus ein Interesse an der Version „von Beginn an Terror“. Das Schicksal der kleinen Begoña wird dafür vom spanischen Staat und seinen Ideologen missbraucht.
Ein weiteres Beispiel zeigt wie versucht wird, die Geschichte umzuschreiben. Wir schreiben das Jahr 1981, eine der dunkelsten Etappen der bewaffneten Auseinandersetzung, mit vielen Toten auf beiden Seiten. In der Altstadt von Bilbao jagt die spanische Polizei ein mutmaßliches ETA-Kommando. In der Barrenkale Barrena Straße geraten der Zeitungsausträger Ovidio Ferreira Martín (29) und Aurora Múgica (48) in die Verfolgungsjagd. Die Polizei schießt wild, beide werden schwer verletzt, Ovidio stirbt vier Tage später. Der Nachbarschafts-Verein der Altstadt verurteilte die Polizeiaktion, weil das Leben von Bewohner/innen willkürlich in Gefahr gebracht wurde. Augenzeug/innen sagten aus, die Schüsse seien ausschließlich von der Polizei abgefeuert worden. Diese Aussage wurde gestützt von den Einschusslöchern, die danach in der Straße zu sehen waren.
Wie nicht anders zu erwarten, blieb das tödliche Intermezzo für die Schützen ohne Folgen. Doch damit nicht genug. Ovidio Ferreira Martín steht auf der Liste der Opfer von ETA. Dass die Angehörigen Entschädigungs-Zahlungen erhielten, ist mehr als gerechtfertigt. Doch wiederholt sich die Geschichte von Begoña Urroz: ETA wird eines Verbrechens beschuldigt, dessen Urheber in den Kloaken des spanischen Staates zu finden sind.
Ein dritter Fall zeigt, wie wenig der spanische Staat bereit ist, die historische Wahrheit zu dokumentieren, wenn es um Staatsterrorismus und staatliche Verbindungen zu mordenden Neofaschisten geht. Am 14.Juli 2015 befand die Audiencia Nacional, dass die Familien der von Polizisten und Neofaschisten ermordeten Basken Josu Muguruza, sowie Lasa und Zabala keinen Anspruch auf Entschädigung haben, weil sie zu ETA gehörten. Keiner der drei wurde je vor Gericht gestellt, geschweige denn einschlägig verurteilt. Josu Muguruza wurde in einem Madrider Restaurant umgebracht, er war in der Hauptstadt, um als für Herri Batasuna gewählter Parlamentarier im Kongress sein Mandat anzutreten, in der Nacht zuvor wurde er erschossen. Lasa und Zabala waren baskische Flüchtlinge, die sich in Iparralde versteckt hielten. Sie wurden von einer Todesschwadron aus spanischen Polizisten und Neonazis (im Ausland!) entführt, zu Tode gefoltert und 800 km entfernt verscharrt, ihre Leichen wurden 10 Jahre später durch Zufall entdeckt. Die Audiencia räumt ein, dass es keine Verurteilungen gab, meint aber, die polizeilichen Ermittlungen reichen aus für die Ablehungs-Entscheidung. So werden die drei einmal mehr als „Terroristen“ in die Geschichte eingehen. Diese Entscheidung dient auch als Legitimation, dass gegen radikale Basken jedes Mittel recht ist, Folter, Entführung, Ermordung – Mittel eines faschistischen Regimes.
Euskal Herria befindet sich in einem historischen Moment, noch leben viele Zeug/innen, die diese vorherrschende neofranquistische Geschichtsschreibung korrigieren können. Was heute dokumentiert und von offizieller Seite konstatiert wird, steht morgen in Schülbüchern, Annualen, Wikipedien und Enzyklopädien. Deshalb dieser Krieg um die Geschichtsschreibung.