Else Kling wohnt hier nicht mehr

fast die Hälfte der Einwohner
Erstveröffentlicht: 
20.09.2915

Migrationsstadt MannheimElse Kling wohnt hier nicht mehr In Deutschlands Städten sind die Milieus verschiedener Einwanderergruppen oft zersplittert, viel sozialer Zusammenhalt ist zerstört. Wie kann da Kommunalpolitik gelingen? Das Beispiel Mannheim. 20.09.2015, von RÜDIGER SOLDTMANNHEIM

 

Die Sommerhitze lässt vom Asphalt der Mannheimer Gartenfeldstraße nicht die besten Gerüche aufsteigen. Die Straßenkneipe „Helga’s Zapfhahn“ hat noch geschlossen. Arbeitslose führen ihre Hunde aus und beseitigen den Dreck nur widerwillig. Ein paar offenbar arabischstämmige Halbstarke spielen auf Parkbänken, die im Schatten liegen, mit ihren Smartphones. Die Gartenfeldstraße und die nicht weit entfernte Paul-Gerhardt-Kirche liegen im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt West. Ein Quartier, das gern Problembezirk genannt wird und in dem sich viele Schwierigkeiten zeigen, die mittelgroße Städte in Deutschland und Europa heute haben – eine Migrationsquote von gut sechzig Prozent, eine hohe Einwohnerdichte.

In der Neckarstadt West leben 21 000 Menschen auf gerade mal 1,1 Quadratkilometern. Hohe Arbeitslosigkeit. Öffentliche Verwahrlosung. Auflösung herkömmlicher lokaler Gemeinschaften. Aufsplitterung in viele kleine Milieus – die Transformation eines ehemaligen Arbeiterquartiers in ein multiethnisches Einwandererquartier hat viel sozialen Zusammenhalt zerstört. Ihn neu zu schaffen ist eine Sisyphusarbeit für Quartiermanager und Sozialarbeiter.

Gabriel Höfle ist eigentlich Wirtschaftsingenieur, 2007 wurde er Quartiermanager in der Neckarstadt West. Er lebt in diesem Stadtteil, sein Büro ist im Alten Volksbad, in dem auch ein paar Unternehmen der Kreativbranche angesiedelt wurden. Wenn Höfle durch sein Quartier geht, erkennt er schnell, wo Neues entsteht und wo sich Probleme auftürmen. In einigen Straßen haben sich ein paar Hipster-Modeläden angesiedelt, sie sind noch Solitäre in ziemlich trostlosen Straßenzügen. „Der Solidargedanke lag hier lange brach, die Anonymität im öffentlichen Raum ist auch heute noch ausgeprägt“, sagt Höfle. „Wir brauchen hier keine Else Kling, aber Identifikation mit dem Quartier.“

Die Sozial- und Vereinsstruktur der Neckarstadt West ist heute eine komplett andere als vor zwanzig Jahren. Der Bürgerverein organisiert erstmals seit Jahren kein Stadtteilfest mehr, der Gewerbeverein hat sich sogar aufgelöst. Alteingesessene Geschäfte sind von Döner-Restaurants oder von Läden mit türkischen Haushaltswaren verdrängt worden. Die Fluktuation ist sehr hoch, bei etwa 21.000 Einwohnern wandern jedes Jahr etwa 4500 ab und kommen ähnlich viele neue hinzu. Der Anteil ausländischer Einwohner in der Neckarstadt West ist seit 2006 noch einmal um zwanzig Prozent gestiegen. Seit 2013 hat die Zuwanderung von Armutsflüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien die Lage zeitweise so verschärft, dass sich sogar der Bundespräsident und die Ausländerbeauftragte aus dem Kanzleramt einfliegen ließen.

Die Stadtgemeinschaft zerfällt in einzelne Milieus

Fast sechzig Prozent der Neckarstadt-West-Bewohner werden von Milieutheoretikern als Hedonisten beschrieben. „Es gibt hier außerdem Benachteiligte, Experimentalisten und viele in religiösen Milieus verwurzelte Bürger“, erläutert Höfle. „Das ist eine bunte Mischung, aber alle haben eines gemeinsam: Sie sind für die klassische Politik schwer zu erreichen.“ Parteien, Vereine, Bezirksbeiräte spielen im Prinzip keine Rolle mehr außer für die Vorsitzenden und Amtsinhaber selbst. Früher waren achtzig Prozent der Jugendlichen in einem Verein, heute sind es bestenfalls vierzig Prozent. Es fehlt in der Neckarstadt West immer noch ein Gymnasium. Neu entstehen nur kleine Vereine, die zumeist Partikularinteressen durchsetzen wollen: von Zugezogenen, die ihr Gemüse beim Biobauern aus dem Umland kaufen wollen; oder Vereine von Einwanderern zur Pflege ihrer importierten Kultur.

In der Nachkriegszeit wurde Mannheim über Jahrzehnte vorwiegend sozialdemokratisch regiert. Ein Oberbürgermeister hatte schon viel gewonnen, wenn er eine Gewerkschaftsversammlung bei den Motoren Werken Mannheim absolvierte, die in der Neckarstadt West früher ihren Firmensitz hatten. Wenn er dann noch bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Caritas vorbeischaute, hatte er die wichtigsten Multiplikatoren für Arbeiterschaft und Bürgertum erreicht. Damit ist es heute nicht getan. Wie zäh Politikvermittlung in multiethnischen und multireligiösen Stadtteilen sein kann, zeigte sich erst im Juli bei der Oberbürgermeisterwahl. In den Innenstadtvierteln Jungbusch und Neckarstadt West – beide haben einen hohen Anteil an Einwanderern und Studenten – lag die Wahlbeteiligung bei 18,1 beziehungsweise 14,1 Prozent. Viele Bürger wussten noch nicht einmal, dass es einen zweiten Wahlgang gab.

Mannheim hat fast 181.000 Einwohner ohne Migrationshintergrund (58 Prozent) und 131.000 Bürger mit Migrationshintergrund (42 Prozent). Von Letzteren hat fast die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit; trotzdem gibt es augenscheinlich keine deutsche Mehrheitsgesellschaft mehr. Auf die Prägekraft einer deutschen Oberschicht kann sich hier kein Politiker mehr verlassen, gemeinsame Werte müssen erst wieder gefunden und zusammen mit Vertretern aus unterschiedlichen Einwanderermilieus formuliert werden. Das ist ein mühsames Geschäft in einer Stadt, in der es schon mal zu Schlägereien oder Schießereien türkischer Gangs kommt. Zur Entwicklung einer Stadtidentität soll der „Mannheimer Aktionsplan für Toleranz und Demokratie“ beitragen. Doch ein Papier mit Absichtserklärungen schafft noch kein neues Stadtbewusstsein.

Die Idee des Marktplatzes als Austauschmöglichkeit funktioniert nicht mehr

Der Sozialdemokrat Peter Kurz (SPD) ist im Juli zum zweiten Mal für acht Jahre zum Oberbürgermeister gewählt worden. Nach einem anstrengenden Wahlkampf sitzt er erschöpft in seinem Amtszimmer im Rathaus. Als er ins Amt kam, verordnete er der Stadt einen Transformationsprozess. Aber die Stadtgesellschaft stellte sich als widerborstiger heraus, als Kurz erwartet hatte. Der Gemeinderat ist politisch unübersichtlicher geworden, die NPD und die AfD sind auch vertreten. Wenn Kurz heute von Mannheim redet, spricht er gern von „disruptiven Kräften“. Er meint damit, dass es immer schwieriger wird, in wichtigen politischen Fragen einen Konsens herzustellen, dass es oft Jahre braucht, bis Bürger von einem Projekt oder Vorhaben überzeugt sind, dass auch Bürgerentscheide politischen Streit manchmal nicht mehr befrieden können. Dass sie sogar eher Streit perpetuieren.

Die Parteien sind keine Konsensmaschinen mehr, Kurz hat es am Beispiel der Bundesgartenschau erlebt: Eine kleine Gruppe aus Kleingärtnern und Umweltschützern will die Bundesgartenschau 2023 unbedingt verhindern. Auf Initiative des Gemeinderates gab es 2013 einen Bürgerentscheid über das Projekt. Eine knappe Mehrheit stimmte dafür, genau 50,7 Prozent. Aber die Bürgerinitiative akzeptierte das Ergebnis nicht, sie klagte dagegen und macht weiter Stimmung, mittlerweile gibt es nach neueren Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr für das Projekt. „Was heute nicht existiert“, sagt Kurz, „ist ein für die Stadt gemeinsamer und repräsentativer Kommunikationsraum. Die Idee des Marktplatzes, auf dem jeder alles mitbekommt, funktioniert nicht mehr.“

Einen Steinwurf vom Rathaus entfernt ist das Büro der Konversions-Geschäftsstelle. Seit 2011 versucht Konrad Hummel, aus ehemaligen Panzerunterständen und Soldatenwohnungen der amerikanischen Streitkräfte neue, urbane Stadtteile zu entwickeln. Insgesamt misst die Fläche 500 Hektar. Die „Turley Barracks“ sollen eine Art Mannheimer Soho werden. Zu den Problemen mittlerer Großstädte fällt ihm auf Anhieb ein klarer Satz ein: „Der Sozialstaat arbeitet wie ein Hamster. Er gibt immer mehr Geld für immer mehr Gruppen aus, aber das Gefühl von Zusammenhalt nimmt trotzdem immer weiter ab.“

Hummel hat das mitbekommen, weil er für die Gestaltung der ehemaligen Militärflächen viele Bürgerversammlungen und Anhörungen besuchen musste. Er hat dabei erfahren, dass sich junge Menschen stärker für die Wale in Neuseeland interessieren als für die Zukunft ihres Quartiers. Die soziale Kohäsion werde unterspült, die sozialen Umgangsformen unterlägen keiner öffentlichen Kontrolle mehr, meint Hummel. Natürlich existierten auch „Parallelgesellschaften“, aber das sei kein Weltuntergang, man müsse nur begreifen, dass Politik mehr als früher eine „ständige Verhandlungsarbeit“ sei. „Als Politiker“, sagt Hummel, „kann ich mich nicht darauf konzentrieren, nur die Bürger mehr abstimmen zu lassen. Damit stärke ich die Neurotiker. Es ist nicht jede Bürgerinitiative gut, es gibt nicht automatisch den guten Bürger und den bösen Staat.“

Wie der kleine, stinkende Neumarkt-Platz zum Kulturtreff wurde

„Hello Neckarstadt“ steht auf einer Schiefertafel am Neumarkt. Bis vor einem Jahr war auch dieser zentrale Platz in der Neckarstadt West im Besitz der Obdachlosen und der Hunde. Eine unappetitliche und unwirtliche No-go-Area. Dann hatten Julian Bender, Ricarda Rausch und Ali Badakshan Rad die Idee, aus dem verwanzten Kiosk einen Kulturkiosk zu machen. Sie hatten schon in anderen Stadtteilen leerstehende Räume mit ihrem Verein „Zwischenraum“ wieder zu einer sinnvollen Nutzung geführt. Sie bauten mit Hilfe des Quartiermanagers einen öffentlichen Bücherschrank auf, begannen mit Open-Air-Lesungen und kleinen Konzerten. Sogar eine Shakespeare-Inszenierung gab es kürzlich auf dem Neumarkt. Jetzt trinken viele Neckarstädter im Kioskgarten eine italienische „Limonata“ oder ein Craft Beer. Demnächst soll hier zur Stärkung des Quartiers auch das Stadtarchiv angesiedelt werden.

„Emotionale und soziale Stabilisierung“ nennt das der OB. Bis so etwas wie eine Gentrifizierung einsetzt, wird es aber wohl noch Jahre dauern. Wie beschwerlich und äußerst komplex es ist, bis in anonymisierten, multiethnischen und multireligiösen Vierteln wieder selbstbewusste Stadtgesellschaften erwachsen, wird häufig vergessen, wenn über Einwanderung diskutiert wird. Der Kiosk ist ein sehr kleiner Schritt auf einem langen Weg zu einer neuen Stadtgesellschaft.