Warum attackiert die Türkei statt dem IS nun vor allem Kurden? «Nun ist das Vertrauen vollends zerstört»

Erstveröffentlicht: 
27.07.2015

Die Hintergründe erklärt der Beobachter Oliver Ernst.

 

Seit dem Wochenende greift die türkische Armee nicht nur den Islamischen Staat, sondern auch kurdische Einheiten im Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei an. Der Waffenstillstand mit der Türkei ist aus Sicht der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK damit «sinnlos» geworden. Die Sorge vor einer Eskalation der Gewalt zwischen Kurden und Türken wächst. Oliver Ernst, Türkei-Spezialist der Konrad-Adenauer-Stiftung, schätzt im Interview die Lage ein:

 

Mit den Angriffen des türkischen Militärs scheint der Friedensprozess mit den Kurden Makulatur zu sein. Wen genau greift das Militär an? Nur Stellungen der PKK?

 

Soweit bekannt ist, wurden in erster Linie Stellungen der PKK-Miliz angegriffen. Allerdings gab es in Syrien auch einen Angriff türkischer Panzer auf Stellungen der kurdischen Einheit YPG.

 

Warum kommt es ausgerechnet jetzt zu den Angriffen? Eigentlich hat der türkische Präsident Erdogan am Freitag ja den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ausgerufen.

Die türkische Perspektive ist eine völlig andere als die des Westens. Die Türkei sieht immer noch die Kurdenmilizen und nicht den IS als grösste Gefahr für die eigene Sicherheit an. Weil diese Perspektiven so unterschiedlich sind, gibt es international auch kaum Unterstützung für die türkischen Angriffe auf die PKK-Stellungen. Selbst aus den irakischen Kurdengebieten, die mit der Türkei in Sicherheitsfragen eng zusammenarbeiten, kam harsche Kritik.

 

Es gibt auch Einschätzungen, wonach es Erdogan bei den jüngsten Angriffen vor allem um die Innenpolitik gehe, dass er nach dem Verlust der absoluten Mehrheit seiner Partei AKP bei den Parlamentswahlen im Juni auf Neuwahlen hinarbeite und sich durch die Eskalation der Gewalt bessere Chancen ausrechne.

Ich glaube nicht, dass dieser Krieg gegen den IS, in den die Türkei jetzt immer stärker verwickelt wird, in erster Linie ein innenpolitisches Thema ist. Auch für die Türkei ist es vor allem ein aussen- und sicherheitspolitisches Thema. Zudem haben wir schon bei den letzten Wahlen im Juni gesehen, dass der Konflikt sich ungünstig auf die Position der AKP-Regierung ausgewirkt hat. Sie hat in den türkischen Kurdengebieten extrem an Rückhalt verloren, weil sie sich gegenüber dem IS so stark zurückgehalten hat, der IS praktisch schalten und walten konnte, wie er wollte. Aus Sicht der Kurden – insbesondere jener, die mit der PKK verbündet sind – hat die Türkei den Friedensprozess deshalb schon längst aufgegeben.

 

Mit den jüngsten Angriffen wurde nochmals viel Vertrauen zerstört. Jetzt hat man bei den letzten Wahlen gesehen, dass die moderate kurdische Partei HDP auch deshalb so erfolgreich war und eine absolute Mehrheit der AKP verhindert hat, weil sie auch von vielen Nichtkurden gewählt wurde. Könnte die HDP bei Neuwahlen mit noch mehr Stimmen rechnen?

Man spricht davon, dass die HDP etwa ein Drittel ihrer Stimmen ausserhalb der kurdischen Bevölkerung gemacht hat und dass darunter sogar Kemalisten waren. Das war eine absolut überraschende Entwicklung. Ich glaube zwar nicht, dass die HDP bei Neuwahlen über die 13 Prozent vom Juni hinausgehen kann, gehe aber davon aus, dass sie ihren Stimmenanteil auf jeden Fall stabilisieren kann. Daran ändert auch die jüngste Gewalteskalation nichts. Die AKP wird bei Neuwahlen kaum eine absolute Mehrheit erreichen.

 

Als Rache für das Attentat in der kurdisch geprägten Stadt Suruc Anfang letzter Woche richtete die PKK zwei türkische Polizisten hin, die sie für Komplizen des Attentäters hielt. Sie lieferte Erdogan damit ein Argument für die Angriffe auf die Kurdenstellungen. Weiss man inzwischen mehr zu den Hintergründen dieser Tat?

In der Berichterstattung ist etwas untergegangen, dass der Attentäter von Suruc ein dem IS zugewandter Kurde war. Es gibt also auch innerhalb der Kurdengebiete ein Spektrum, das eher den IS als die Kurdenmilizen unterstützt. Das erschwert die Sicherheitslage zusätzlich. Andererseits ist bekannt, dass die türkischen Sicherheitskräfte den IS nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt haben. Die Rede ist von medizinischer Versorgung, Waffenlieferungen und Ölgeschäften. Das ist aus Sicht der Kurden natürlich eine enorme Provokation. Trotzdem sind die Racheakte aufs Schärfste zu verurteilen. Sie erhöhen die Gefahr, dass die militärische Eskalation nicht nur einige Tage anhält, sondern immer weitergeht. Die PKK hat in den letzten Jahrzehnten durch ihre Gewalttaten erheblich dazu beigetragen, dass der Konflikt nicht gelöst werden konnte. Und es hat sich in den letzten Tagen auch gezeigt, dass der politische Flügel der Kurden, etwa die HDP, nicht in der Lage ist, diese Gewalttaten der PKK zu unterbinden.

 

Sie rechnen also damit, dass es in den nächsten Wochen und Monaten zu weiteren Angriffen von beiden Seiten kommen wird, dass die Gewalt zunehmen wird?

Ja. Die türkische Regierung hat ganz offen gesagt, dass sie eine langfristige Kampagne gestartet hat. Das Ziel ist eine Zerstörung der Stellungen der PKK, sodass von diesen Kräften keine Gefahr mehr ausgeht. Das halte ich allerdings für utopisch. Das hatte man schon in den 90er-Jahren vergeblich versucht. Im Grunde wiederholt sich jetzt der schlechteste Teil der türkisch-kurdischen Geschichte. Beide Seiten setzen wieder auf eine militärische Auseinandersetzung. Jedoch mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Sie haben sich für die Kurden im Vergleich zu den 90er-Jahren extrem verschlechtert. Die Kurden kämpfen gleichzeitig gegen den IS und die türkische Armee. Sie haben keine sicheren Rückzugsgebiete mehr und werden zwischen dem IS und der türkischen Armee zerrieben. Die Radikalisierung der Kurden wird dadurch massiv zunehmen.

 

Der türkisch-kurdische Friedensprozess ist also gescheitert?

Die Vertrauenskrise zwischen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei – immerhin 15 Millionen Menschen – und der türkischen Regierung ist sehr tief. Durch die jüngste Eskalation wird das Vertrauen vollends zerstört. Eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses ist in weite Ferne gerückt.

 

(baz.ch/Newsnet) Erstellt: 27.07.2015, 11:23 Uhr